in Verbindung mit anderen sie berührenden Vorgängen später einmal erzählen werde.
,, Eben rasselt der Beschließer mit seinem Schlüsselbund durch den Hausgang; vielleicht kommt er zu uns und bringt was Neues," riefen gleichzeitig mehrere Mitgefangene. Richtig; der selbe öffnete unsere Thüre und rief: Herr Becker, kommen Sie
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einmal her." Erregt sagte ich hastig:„ Aha, es geht zum Untersuchungsrichter."" Nein," antwortete er mir leise, ich soll Ihnen nur ankündigen, daß Ihre Frau wegen der großen Aufregung von heute Morgen ein unglückliches Kindbett mit einem todten Knäblein gehabt hat." Und damit hatte auch ich mein Semikolon!
Fingerzeige zum gesunden Leben.
2. Unsere Wohnungen.
( Schluß.)
Von H. V.
Am meisten fallen, wie schon erwähnt, die unschuldigen Kinder solchen schlechten Zuständen zum Opfer. Mehr als die Hälfte aller Todesfälle betreffen Kinder unter zehn Jahren. Im Jahre 1872 waren es noch) 57,7 pбt., 1873 waren es schon 58,9 pCt. Namentlich die Zahl der Brechdurchfälle hat in den letzten Jahren entsetzlich zugenommen. Dr. Baginsky( Mittheilungen d. städt. statist. Bureaus) fand, daß, wenn man die Zahl der in den Jahren 1854-68 in Berlin an Durchfallkrankheiten gestorbenen Kinder gleich 100 fett, sie im Jahre 1872 189, 1873 358 und 1874 420 betrug. Sie war also in dieser Zeit um mehr als das Vierfache gestiegen. Vom 1. Januar bis 1. Oktober 1875 starben nach dem Bericht desselben Arztes in ganz Berlin 24,388 Menschen, davon unter einem Jahr 11,700, also 48 pet. Davon an Durchfallfrankheiten 3892 und von diesen allein in den Monaten Juni 1383, Juli 1766, August 1088; von 1 bis 4 Jahren 3897, davon an Durchfallkrankheiten 375.
Man muß es selbst mit angesehen haben, wie die armen unschuldigen Kleinen von dem heimtückischen Städtegift hingerafft werden. Im Frühjahr sind sie oft ganz wohl, mit rosigen Backen hüpfen sie jubelnd in den Tag hinein. Je mehr aber der Sommer vorschreitet, desto mehr verliert sich das Roth der Wangen ; sie werden stiller, der Appetit nimmt ab und der Gestank auf dem Hofe immer mehr zu. Je näher die' heißen Monate Juli und August heranrücken, desto schwächer und blässer wird der Liebling der Mutter; er hängt das früher so bewegliche Köpfchen, er will immer weniger essen und sein Stuhlgang wird immer dünner, grün und blutig. Freilich herrscht auch an vielen Stellen der Stadt eine Luft wie ein Beſthauch. Die wohlhabenden Leute Die wohlhabenden Leute sind, um ihr zu entrinnen, meist mit ihren Familien auf's Land gezogen. Die Armen aber können nicht in's Bad, sie müssen zurückbleiben. Der brodelnde Kanal, der große Giftblasen aufwirft, wetteifert mit dem Abflußrohr der Wasserleitung in der Entwickelung mephitischer Dünste. Verzweifelt ringen Mutter und Vater die Hände ob des jammervollen Zustandes des Kleinen. Von dumpfer Ahnung ergriffen läuft wohl auch der Vater nach dem Polizeibureau und klagt über die Unsauberkeit und den Gestank auf dem Hofe. Es kommt wohl auch ein Schutzmann nachzusehen; aber wenn er etwas nach Theer riechendes graues Pulver vor den Abtritt gestreut sicht, geht er ruhig wieder fort und fühlt keine Veranlassung, sich um Weiteres zu kümmern. Der holde Liebling fällt von Tag zu Tag mehr ab: schon kann er sich kaum noch aufrichten, wimmernd liegt er auf seinem Lager, nur zuweilen fährt er mit schrecklichem Angstschrei auf, streckt krampfhaft die kleinen Aermchen der Mutter entgegen, von ihr Hülfe und Rettung erflehend aus den Armen des grausigen Todes. Wohl geht der Hülfeschrei des Kleinen der Mutter durch Mark und Bein und bricht ihr das Herz. Vergebens läuft der Vater nach dem Doktor und der Apotheke; sie können nicht helfen; nie wird er seinen Liebling wieder auf den Knien schaukeln. Still liegt er bald da und hat ausgelitten, und dann wird er hinausgetragen auf die Briezer Chaussee in die lange, lange Reihe, wo jeden Tag neue Schicksalsgefährten sich einfinden, denn der beschriebene Vorfall wiederholt sich in der Hauptstadt des Deutschen Reiches mehrere Tausend Mal im Jahr. Da liegen sie in der frischen, freien Luft, die sie jetzt freilich nicht mehr erquickt, jedoch früher sie
sicher dem Leben erhalten hätte. Später kehren dann die wohlhabenden Familien nach Spreeathen zurück, und wenn sie auch anfangs etwas die Nase einziehen ob des üblen Geruchs in den Straßen, so ist er doch schon bedeutend schwächer und erträglichy und die Polizei der Natur" nicht mehr zu fürchten. Aber Berlin besitzt auch den traurigen Ruhm, daß es von allen großen Städten der Erde bei Weitem die größte Kindersterblichkeit hat.
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Wohl lernt jedes Kind dort in der Schule die märchenhafte Geschichte von dem Kindermord zu Bethlehem. Aber wenn auch in Berlin jedes Jahr hundertmal mehr Säuglinge an Durchfallkrankheiten sterben, als in Bethlehem nach höchstmöglicher Schätzung ermordet wurden, so müssen doch die Berliner Schulfinder laut Gott danken, daß sie in Berlin und nicht unter Herodes in Bethlehem leben.-
Man hat verschiedene Ursachen für die große Kindersterblichkeit in Berlin angegeben. Zuerst sollte das Grundwasser schuld sein; doch mußte diese Ansicht bald als irrig aufgegeben werden. Hernach verfiel man auf die schlechte Milch, und gewiß trägt sie zu der entfeßlichen Sterblichkeit bei; aber in London und Paris ist die Milch durchschnittlich nicht besser und dennoch ist dort die Kindersterblichkeit lange nicht so groß. Aber freilich, solche Keller- und Hofwohnungen wie in Berlin findet man in London und Paris nicht. Dr. Herm. Wasserfuhr aus Stettin äußert sich in seinem Bericht, den er der Section für öffentliche Gesundheitspflege der 13. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Innsbruck über diesen Gegenstand erstattet, folgendermaßen:„ Aber thun wir einen Schritt weiter zurück in der Erforschung der ercessiven Sterblichkeit der Säuglinge und fragen wir, woher rührt denn die schlechte Ernährung, die ihre Verdauungsorgane krank macht, die schlechte Luft, die ihre Konstitution verdirbt, die Häufigkeit und Verbreitung der ansteckenden Krankheiten, welche ihr Blut vergiften und die Gefahr, welche rauhe Temperatur einem Theil der Säuglinge bringt?- so lehrt die Statistik, daß durch= schnittlich alle diese so oft tödtlich wirkenden Schädlichkeiten ihren Grund haben in der Unwissenheit, die nicht selten mit Unsittlichkeit gepaart ist, in schlechter öffentlicher Gesundheitspflege und im Elend." Was thun aber Staat und Gemeinde solchen mörderischen Zuständen gegenüber? Die auf der Schlächter- Wiese vor dem Cottbuser Thor, vor dem Landsberger Thor und am Friedrichshain von obdachlosen Proletariern errichteten Baracken wurden( am 27. August 1872), als gesundheitsgefährlich" von der Feuerwehr abgebrochen, und jede Neuerrichtung später sofort verhindert.
Von einem Abbruch der nach dem offiziellen Bericht der Armenverwaltung pestbringenden Häuser des Herrn Bergmann hat man jedoch nie etwas gehört. Zur Errichtung öffentlicher, warmer Volksbadeanstalten hatten die Berliner Magistratsmitglieder auch kein Geld. Sie sind entbehrlich, denn der Staat impft schon den Kindern die Kuhpockenjauche ein. Einige ganz Kluge unter ihnen sagen wohl auch, wenn sie von ihrer Sommerwohnung zurückkommen, es sei ganz gut, daß nicht alle Kinder am Leben blieben, denn sonst würde sehr bald eine Uebervölkerung eintreten. Diese Pfiffifusse fertigt Dr. Chalybaeus in einer Arbeit über medizinische Statistik mit folgenden beherzigenswerthen Worten ab:„ Dieses ewige Produziren und schnelle Wiederwegsterben der Kinder ist eine der größten Kalamitäten der Bevölkerung, denn