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entwendet.

Blätter datirten vom 8. November 1859 bis 7. April 1862;| kommt. Kalab hatte sich damals mindestens fünfmal täglich an sie waren vorhanden in fast ununterbrochener Reihe, vom No- den Briefen vergriffen und jeden Tag- zwischen 240 und 300 Stück vember 1859 waren 22, vom Dezember desselben Jahres waren sogar 56 vorhanden. Es folgt daraus, daß Kalab jeden Tag mindestens eins, oft sogar mehrere Korrespondenzblätter als Um­schläge für die von ihm entwendeten Briefe gebraucht hatte.

Da sich in jedem Packete durchschnittlich 34 Briefe befunden hatten, so muß sich die Zahl der bereits im Dezember 1859 unterschlagenen Briefe auf 1904 Stüd, mithin auf täglich zwischen 60 und 70 belaufen haben. Aber mit der Uebung war auch die Dreistigkeit Kalab's gestiegen. Die Anzahl der Packete mehrte sich von Monat zu Monat. Vom Jahre 1860 fanden sich 355, von 1861 723 und von den drei ersten Monaten des Jahres 1862 222 der erwähnten Korrespondenzblätter vor. Vom Monat Juli 1861 waren 75, vom Oktober 155 und vom November 117 Korrespondenzblätter, und zwar 7, 8 und 9 Stück mit einem und demselben Datum vorräthig, so daß auf den Monat Oktober die ungeheure Summe von 5270 gestohlenen Briefen

Wenn man bedenkt, daß diese Berechnung sich nur auf die bei Kalab gefundenen Packete uneröffneter Briefe stützt und die offenen Briefe und leeren Kouverts außer Betracht läßt; wenn man weiter berücksichtigt, daß Kalab vermuthlich seit 1857 sein schändliches Gewerbe getrieben und täglich gewiß mehr als 100 Briefe unterschlagen hat, so erhalten wir die ungeheure Anzahl von 200,000 Briefen, die von diesem Menschen ver­untreut worden sind. Und selbst diese Ziffer stellt sich als viel zu niedrig gegriffen heraus, wenn wir uns erinnern, daß der an eine warme Stube gewöhnte Verbrecher mindestens einen ganzen Winter hindurch von Abends 8 Uhr bis spät in die Nacht hinein fast einzig mit Papier   geheizt hat. Nach dem Urtheile Sachverständiger dürfte hierzu kaum eine Million Briefe ausreichen. ( Fortseßung folgt.)

Major Davel.

Eine biographische Skizze aus der Schweizergeschichte des vorigen Jahrhunderts. Von Robert Schweichel  .

( Fortsetzung.)

Gegen die Mitte des angegebenen Jahrhunderts hatte eine ,, wahre Epidemie der Hererei" die französische Schweiz   und be­sonders das Waadtland mit seinen Schrecken und Greueln heim­gesucht. Nun hatte dieselbe zwar nachgelassen, allein der Glaube an Heren und Zauberer währte fort. Selbst die höheren Klassen waren von ihm nicht frei und verschmähten es nicht, mit den dämonischen Wesen in Verkehr zu treten. Daß bei den Frommen dieser Aberglaube nach der andern Seite überschlug, ist leicht begreiflich. Die höllischen Visionen hatten die himmlischen zur Folge, und Zauberer und Propheten waren gleichberechtigt. Davel war von dem Aberglauben seiner Zeit sicher nicht frei. Ja, seine dürftige Erziehung wie sein inniger Verkehr mit dem Volke, den Landleuten und Weinbauern, rechtfertigt die Annahme, daß er in ihm wohl tief genug gesteckt haben mag, nur neigte sich der seinige auf die religiöse Seite. So mochte auf den jungen Mann, von dessen lebhafter Einbildungskraft der Greis zeugt, die Erscheinung einer gottbegeisterten Prophetin*) großen Eindruck gemacht haben. Gewiß darf man als letzten Grund aller solchen Erscheinungen, so auch der Davel's, einen krankhaften körperlichen Zustand an­nehmen ,,, wäre es auch nur", wie Schleiden**) sagt, eine Stö­rung in dem Gleichgewichte der Nervenkraft in den einzelnen Theilen des Nervensystems, welche leicht durch einseitige Uebung bestimmter Gruppen von Nervenfasern hervorgebracht wird, der dann die Thätigkeit der Gehirnfasern en spricht." Dieser frank­haften Disposition, die sich bei Davel in lebhafter Hinneigung zum Mystizismus ausspricht, traten aber der nüchterne Mechanis­mus des Dienstes, die Gefahren, welche die Bahn des Kriegers umbrohen, hemmend entgegen. Sie entwickelten statt dessen den Verstand, den schon der Knabe in hohem Grade verrieth, den Muth und die scharfe Auffassung der Verhältnisse, so daß in Davel, als er aus dem Heere scheidet, Verstand und Schwärmerei, faltblütige Unerschrockenheit und lebendiges Gefühl gleichgewogen, jedes in nicht ungewöhnlichem Maße erscheinen. Doch die Muße des Privatlebens, die nun folgt, stört dieses wohlthätige Gleich gewicht; seine religiösen Neigungen gewinnen einen weiteren Spielraum und erhalten in der Konsensus- Angelegenheit noch einen Sporn, der ihn zum stillschweigenden Anschluß an die Sekte der

*) Nach Davel's   Schwester gab sich eine solche Schwärmerin, die furz vor ihres Bruders Rückkehr aus Interlaken   in die Dienste ihrer Mutter trat und wahrscheinlich eben diese Unbekannte ist, für Moses aus.

**) Studien. Populäre Vorträge von M. J. Schleiden:, Sweden­

borg und der Aberglaube."

Hr. 34, 1876.

Pietisten treibt. Mit dem Scheitern seines Befreiungsplans reißt der Zaum vollends, der bisher die schwärmerische Einbildungs­kraft zügelte. Der Politiker, der Krieger, mit Einem Worte der praktische Mensch hat seine Rolle ausgespielt und die Kräfte, die bei dem Entwurfe und der Ausführung des Plans thätig waren, spannen sich allmählich ab. Er hat nur noch zu sterben! Der Tod schreckt ihn nicht, hat er ihm doch unzähligemale unbewegten Herzens in's Auge geschaut! Allein an den Gedanken des Todes knüpft sich der, seinem Schöpfer Rechenschaft über seine That ab= legen zu müssen, und die Frage nach den Motiven derselben wirft sich lebhaft auf. Da erwachen entschlafene Ahnungen wieder, unbeachtete, halbvergessene Ereignisse treten wieder aus dem Dunkel der Vergangenheit hervor und werden von der Phantasie zu der That, die der Brennpunkt seines Lebens ist, in innige Beziehung gesetzt. Die Erinnerung an die Einzelheiten der Fakten hat die Zeit geschwächt, wie es nicht anders möglich war; so hat die Einbildungskraft doppelt leichtes Spiel, die Züge so zu ändern oder auszumalen, daß sie zum Zwecke stimmen. Auf diesen Pro­zeß, der sich übrigens der Wahrnehmung, dem Bewußtsein des Individuums entzieht, gründen sich ja alle die Geschichten von erfüllten Träumen. Das Gedächtniß des Menschen vermag es nicht, einen Gedanken, eine Vorstellung, einen Eindruck auf das Gemüth oder die Phantasie nach 35 Jahren mit ungetrübter Genauigkeit, und vollends wenn ein so ereignißreiches Leben, wie das Davel's, diese Zeit ausfüllt, wiederzugeben.

So gestaltete sich vermittelst jenes Prozesses die Prophezeiung der Unbekannten zu dem, was Davel zu Protokoll gab, und jah er eine Vorhersagung erfüllt, deren Grundzüge nichts Anderes bieten, als was heute jedes alte Weib einem angehenden Sol­daten aus den Karten, dem Kaffeefaße oder gegossenem Zinn deuten würde: Beförderung im Dienste, Ruhm und heile Haut. Je wohlgebildeter der Frager, jemehr Glück verheißt ihm der Mund der Sibylle und natürlich umsomehr, wenn diese Sibylle selbst noch jung ist.

Aber diese an ihn ergangene Mahnung der Unbekannten, sich auf den Tod zu bereiten, ihre ganze erfüllte Wahrsagung, wie manches andere Ereigniß seines Lebens, die ihm jetzt in einem überraschenden Zusammenhange mit seiner That erscheinen, erhalten für Davel noch eine andere, höhere Bedeutung. Daher der Accent, den er in seiner Aussage darauf legt.

Schon in dem Verhör vom Sonnabend begegnen wir der Aeußerung: Ich fühle keine Reue, gedachten Plan entworfen zu