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IX.
Wir haben absichtlich die„schlesische Milliarde" in größeren AuszUgen mitgetheilt, nicht nur weil darin der Charakter Wolff's am deutlichsten sich zeigt, sondern auch weil sie ein treues Bild der Zustände gibt, die bis 1848 auf dem Lande in ganz Preu- ßen, mit Ausnahme der Rheinprovinz , in Mecklenburg , Hannover und einigen anderen Kleinstaaten, sodann in ganz Oesterreich herrschten. Wo Ablösungen stattgefunden hatten, war der Bauer übervortheilt worden; aber für die Hälfte bis ZweimUel der Bauerubevölkerung— je nach der Lokalität— bestanden die Fcudaldienste und Abgaben an den Gutsherrn noch fort, mit wenig Aussicht auf ein beschleunigteres Tempo der Ablösung, bis das Donnerwetter von 1848 und die ihm folgende Periode industrieller Entwicklung auch mit diesen Resten des Mittelalters so ziemlich aufräumte. Wir sagen so ziemlich, denn in Mecklen- bürg besteht der Feudalismus noch in ungeschwächtcr Kraft fvit, und auch in anderen zurückgebliebenen Theilen von Rorddeutsch- land dürften sich hie und da noch Gegenden finden, wo die Ab- lösung noch nicht erledigt ist. 1849 wurden in Preußen das Schutzgeld und einige andere weniger bedeutende Feudalabgaben unentgeltlich aufgehoben, die andern Lasten wurden rascher als vorher abgelöst, da der Adel jetzt nach den Ersahrungen von 1848 und bei der anhaltenden Schwierigkeit, aus den wider- spenstigeu Bauern eine prositliche Arbeit herauszuschlagen, jetzt selbst auf Ablösung drang. Endlich, mit der Kreisordnung, siel auch die Patrimonialgerichtsbarkeit der Gutsherren, und, wenig- stens der Form nach, ist damit der Feudalismus in Preußen beseitigt. Aber auch nur der Form nach. Ucberall, wo großer Grund- besitz vorherrscht, erhält sich eine halbfeudale Herrschaftsstellung der großen Grundeigenthümer, auch unter sonst modern-bürger- liche» Bewirthschaftungsverhältnissen. Nur die Formen dieser herrschenden Stellung ändern sich. Sie sind andere in Irland , wo der Boden von kleinen Pächtern bewirlhschaftet wird, andere in England und Schottland , wo kapitalbesitzende Pächter mit Lohnarbeitern große Pachtungen bebauen. An diese letztere Form schließt sich die in Norddentschlaiid, besonders im Osten, vorwie- gende Adelsherrschaft au. Die großen Güter werden meist für Rechnung des Besitzers, seltener für Rechnung von Großpächtern bewirthschaflet, mit Hülse von Hofgesinde und Tagelöhnern. Das Hofgesinde steht unter der Gesindeordnuug, die in Preußen von 1810 datirt, und so sehr für feudale Verhältnisse eingerich- tet ist, daß sie„geringe Thätlichkeiten" der Herrschast gegen das Gesinde ausdrücklich erlaubt, dem Gesinde aber thätlichc Widersetzlichkeit gegen Mißhandluug der Herrschast außer in Lebens- oder Gesundheitsgefahr bei Kriminalstrafe ausdrücklich verbietet!(Allg. Gesinde-Ordnunz tzZ 77, 79.) Die Tage- löhner sind theils durch Kontrakte, theils aber durch die vorwiegende Ablvhnung in Naturalien— wozu auch die Wohnung gehört— in eine faktische Abhängigkeit vom Gutsherrn gebracht, die der des Gesindes nichts nachgiebt, und so florirt auch heute nocb östlich der Elbe jene patriarchalische Behandlung der Land- arbeiter und des Hausgesindes mit Maulschellen, Stock- und Kantschuhieben, die uns Wolfs in Schlesien geschildert. Leider wird iudeß das gemeine. Volk immer rebellischer und will sich diese väterlichen Besserungsmaßregeln hier und da schon nicht mehr gefallen lassen. Da nun Deutschland immer noch ein vorwiegend Ackerbau treibendes Land ist, und daher die Masse der Bevölkerung sich vom Ackerbau ernährt und auf dem Lande lebt, bleibt es die hauptsächlichste, aber auch schwierigste Aufgabe der Arbeiterpartei, die Laudarbeiter über ihre Interessen und ihre Lage anszuklären. Der erste Schritt hierzu ist, daß man diese Interessen und diese Lage der Landarbeiter selbst kennen lernt. Die Parteigenossen, denen die Umstände dies erlauben, würden der Sache einen
großen Dienst thun, wenn sie die Darstellungen Wolss's mit den jetzigen Zuständen vergleichen, die eingetretenen Veränderungen zusammenstellen, die jetzige Lage der Landarbeiter schildern woll- ten. Neben dem eigentlichen Tagelöhner wäre der kleine Bauer ebenfalls nicht aus dem Auge zu lassen. Wie verhält es sich mit den Ablösungen seit 1848? Ist dabei der Bauer ebenso über's Ohr gehauen worden, wie vorher? Solche und andere Fragen ergeben sich von selbst aus der Durchlesung der„schlesi- schen Milliarde", und wenn deren Beantwortung ernsthaft in die Hand genommen, und das gewonnene Material im Parteiorgan veröffentlicht würde, so geschähe damit der Arbeitersache ein größerer Dienst, als mit noch so vielen Artikeln über die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im Einzelnen. Noch einen andern Punkt regt der Schluß der Wolff'schen Artikel an. Oberschlesien ist seit 1849 zu einem der wichtigsten Mittelpunkte der deutschen Industrie geworden. Diese Industrie wird, wie überhaupt in Schlesien , vorwiegend auf dem Lande,] in großen Dörfern oder neu entstehenden Städten, fern von groß- i städtischen Eentren, betrieben. Wenn es sich darum handelt, die; Sozialdemokratie aus dem Lande zu verbreiten, so bietet also � Schlesien , und namentlich Oberschlesien , den geeignetsten Ort, um den Hebel anzusetzen. Trotzdem scheint wenigstens Oberschlesien bis jetzt für die sozialistische Propaganda noch jungfräulicher Boden zu sein. Die Sprache kann kein Hinderniß abgeben; einerseits hat mit der Industrie der Gebrauch des Deutschen dort sehr zugenommen, andrerseits gibt es doch gewiß genug Sozialisten, die polnisch sprechen. Doch zurück zu unserm Wolfs . Am 19. Mai wurde die „Neue Rheinische Zeitung " unterdrückt, nachdem die letzte, roth- gedruckte Nummer erschienen war. Die preußische Polizei hatte, außer 23 noch schwebenden Preßprozessen, soviel andere Angriffs- vorwände gegen jeden einzelnen Redakreur, daß sie alle Köln und Preußen sofort verließen. Die meisten von uns gingen nach Frankfurt , wo die Entscheidung sich vorzubereiten schien. Die Siege der Ungarn riefen den Einmarsch der Russen hervor; der Konflikt zwischen den Regierungen und dem Frankfurter Parlament wegen der Reichsverfassung hatte verschiedene Aufstände erzeugt, von denen die in Dresden , Iserlohn und Elberfeld niedergeschlagen, die in der Pfalz und Baden aber noch im Fortschreiten waren. Wolfs hatte ein altes Breslauer Mandat als Stellvertreter dcS GeschichtSverdrehers Stenzel in der Tasche; man hatte den Heuler Stenzel nur dadurch durchgebracht, daß man den Wühler Wolff als Stellvertreter mitnahm. Stenzel war natürlich, wie alle guten Preußen, dem Befehl der preußischen Regierung auf Ab-. berufung von Frankfurt gefolgt. Wolfs trat nun an seine Stelle. Das Frankfurter Parlament, durch eigne Trägheit und Dumm- heit von der Stellung der mächtigsten Velsammlung, die je in Deutschland zusammentrat, hinabgesunken zu der äußersten, allen Regierungen, sogar der von ihm selbst eingesetzten Reichsregierung und ihm, dem Parlamente selbst, jetzt offenkundigen Ohnmacht, stand rathlos da zwischen den, ihre Streitkräfte sammelnden Re- gierungen und dem, für die Reichsverfassung aufgestandenen Volk. Noch war Alles zu gewinnen, wenn das Parlament und dir Führer der süddeutschen Bewegung nur Muth und Entschlossenheit hatten. Ein Parlamentsbeschluß, der die badische und Pfälzer Armee zum Schutz der Versammlung nach Frankfurt rief, hätte genügt. Die Versammlung eroberte sich dadurch mit einem Schlag wieder das Vertrauen des Volks. Der Abfall der Hessen -darin- städtischen Truppen, der Anschluß Würtembergs und Bayerns an die Bewegung konnte dann mit Sicherheit erwartet werden; die mitteldeutschen Kleinstaaten wurden ebenfalls hineingerissen; Preußen bekam genug bei sich zu thun, und gegenüber einer so gewaltigen Bewegung in Deutschland war Rußland geuöthigt, einen Theil der seitdem in Ungarn erfolgreich verwandten Truppen in Polen zurückzubehalten. Ungarn konnte also in Frankfurt ge-