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Der Winter ist gewichen, sein weißes Leichentuch ist aufgerollt, und der Frühling in seinem grünen, duftigen Gewande in's Land gekommen. Mit frischen Farben hat die Erde sich geschmückt, und auch die Berge tragen den Hauch des Frühlings. Nur in den Hütten ist es Winter geblieben, hier will der Früh ling kein neues Hoffen, kein neues Leben erwecken. Tod und Verwesung umschließt aller Orten dies düstere Gemäuer. Aber seltsame Gestalten zeigen sich jetzt in den Straßen. Ein wildes Feuer leuchtet aus den tiefliegenden Augen. Sind denn das die Weber noch, die wir vordem gesehen? Wo sind die gekrümmten Rücken geblieben, die todesmatten Gestalten? Welch' seltsamer Geist belebt diese Menschen! Erschreckt bergen sich bei ihrem Anblick die Genießenden. Etwas Unheimliches blickt aus diesen Augen, von denen der Hunger den Schleier der Gesetzesfurcht geriffen. Man schreit entsetzt nach Polizei und Gensdarmen, aber die drobenden, begehrenden Augen schließen sich nicht, die Polizei kann die Menge nicht satt machen, und ein dumpfes, wildes Rauschen geht durch die Bevölkerung wie das grollende Erwachen des Orkans.
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Und der Sommer kommt, und immer vernehmlicher, immer drohender wird das Aussehen der Menge. Die Gefängnisse füllen sich, jene Anstalten, welche die Genießenden geschaffen, um die Hungrigen zu züchtigen, welche sich erdreisten, nach den Früchten zu greifen, die nur für die Herrschenden gewachsen.
Ein roher Bau ist das Gefängniß der Stadt, abschreckend nach außen, auf förperlichen und geistigen Ruin berechnet sein Inneres. An seinen hohen Mauern prallt das Geräusch, der Lärm der Außenwelt ab, wie an dem Stein, der auf ein Grab gewälzt ist. Aber ein Hauch jenes gewaltigen Geistes, der die Masse des Volkes belebt, hat auch das Gefängniß berührt. Man weiß nicht, wie er Eingang gefunden, ob ihn die Gefangenen aus den ängstlichen Gesichtern der Aufseher, aus der Verdoppelung der Posten herausgelesen, oder ob nene Verbrecher" die Kunde vom Erwachen des Löwen gebracht.
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Ein warmer, freundlicher Junitag ist es, harmonisch sieht draußen Alles aus, aber nicht das Naturbild fesselt die Blicke der Gefangenen, welche die vergitterten Fenster umdrängen und mit starren Blicken athemlos lauschen. Es sind Schüsse gefallen, wildes Geschrei schallt zum Gefängniß herüber, erschreckte Gesichter zeigen die Beamten, die Wachen werden verdoppelt, alle Thore sorgfältig geschlossen. Ist der Löwe endlich erwacht? Ein zündender Funke ist in die mit Zündstoffen übersättigte Luft gefahren. Silberberg hat den Lohn der Baumwollenarbeiter herabgesetzt, und wie ein Mann haben seine Leute die Arbeit eingestellt. Vor seinen Fabriken haben sich die Hungernden, alle Diejenigen zusammengerottet, denen er und seine Genossen das Herzblut ausgepreßt. Vor der Nache des Volkes ist er entflohen, und die Schüsse verkünden, daß die Menge seine Fabriken an gegriffen, zu deren Schutz Militär herbeigezogen ist.
Das Gitterwerf eines fleinen Fensters im oberen Stock umflammern jeßt ein Paar muskulöse Hände, ein bleiches Gesicht mit verwildertem Barte wird sichtbar, und lange starren zwei große Augen nach der Stadt. Es ist Egler, der hier sichtbar wird. Wie dem gefangenen Vogel ist ihm zu Muthe, der beim Heulen und Brausen des Sturms nur übermächtig den Freiheitsbrang sich regen fühlt. Zwei Wärter haben sich im Flur über die Aufregung in der Stadt unterhalten, er hat es mit angehört, und nun rüttelt er wieder an den eisernen Stäben, wie er schon so oft in ohnmächtigem Zorn gethan. Wenn er nur draußen sein könnte! Zum Führer fühlt er sich berufen, zum Kampf, zum Siege will er die Hungrigen führen. In seinen Augen leuchtet es auf.„ Hinaus, hinaus!" ruft er, und wieder rüttelt er an den Gittern, dann läßt er sie fahren und stürmt gegen die Thür. Bei seinem furchtbaren Anprall gibt sie nach, er ist im Gange, und laut durchhallt ihn sein Ruf: ,, Hinaus, hinaus!"
Nicht weit von seiner Zelle ist ein größerer finsterer Raum, der viele Gefangene beherbergt. Die Fenster sind hoch und klein und für den einzelnen Mann nicht erreichbar, die Gefangenen stützen einander, sie steigen auf die Schultern der Genossen, und wer genug gesehen, erweist dem andern den gleichen Liebesdienst.
Gegen die Mauer gelehnt, steht ein alter Mann; er allein kann nicht zum Fenster klettern, aber mit fieberhafter Ungeduld folgt er den Bewegungen der Genossen und bestürmt sie mit unzähligen Fragen. Wer kann der Mann mit dem edlen Gesichte, mit den glänzenden Augen anders sein als Berner, den sie in diesen Abgrund gestoßen, damit er Gott erkennen lerne und den Gehorsam gegen die Obrigkeit wiederfinde, den er verloren? Ein Berner konnte hier nicht untergehen; Menschen fand er, Unglückliche ein Freund, ein Vater wurde er den Ausgestoßenen.
Und nun erschallt Egler's Donnerruf. Von den Fenstern springen die Gefangenen. Einen Augenblick sprachloses Anstarren, dann ein unbeschreiblicher Taumel, ein wildes Aufjauchzen und: Hinaus, hinaus!" antwortet das Echo dieses Saales. Als ob fie Alle mit übermenschlicher Kraft ausgerüstet wären, so schnell ist die Thür zerschmettert, bald sind die Gefangenen in den Gängen; überall öffnen sich unter ihren Schlägen die Thüren; von allen Seiten strömen ihnen Befreite zu. Ein kurzer Kampf mit den Beamten und Wachen entsteht, der mit deren Ueberwältigung und Flucht endet. Alle Kerker werden jetzt geöffnet, und von allen Seiten entsteigen die Unglücklichen ihren Zellen, Erregung und freudiges Staunen im Gesicht. Hier drückt man einander stumm die Hände, dort lacht man, an anderer Stelle erfolgen schreckliche Wuthausbrüche, Fenster und Thüren brechen flirrend und krachend zusammen. Den Ausgängen drängt Alles zu.- Jetzt verläßt auch Berner seinen Kerker. Es ist lange her, daß er nicht mehr gegangen, das Gehen fällt ihm schwer, und zwei seiner armen Freunde führen ihn. Der Menschenstrom stockt bei seiner Annäherung, Alles wendet dem greisen Manne mit den Prophetenaugen die Blicke zu. Aus dem Hintergrunde löst sich eine größere Gruppe. Man führt einen Mann, der den Gebrauch der Glieder fast ganz verlernt zu haben scheint. Mit den Händen schützt er die Augen, sein Gesicht ist erdfahl, seine Haltung gebeugt. Aus einem dunkeln Kerker muß er kommen, daß das Dämmerlicht des Ganges ihn blenden kann. Rufe der Entrüstung werden laut. Doktor Wieser!" erschallt es dumpf von zahllosen Lippen. Wer kennt ihn nicht, den Freund der Armen! Rückwärts wälzt sich der Strom; man vergißt des eignen Leids, man bricht in Klagen und Verwünschungen beim Mit einem Anblick des so schwer mißhandelten Mannes aus. Schreckensrufe war Berner stehen geblieben, dann eilte er, so schnell er es vermochte, auf den Kommenden los.„ Doktor Wieser! Doktor Wieser!" rief er schmerzlich ,,, was hat man Ihnen gethan?" Beim Klange der Stimme erhob der Doktor das Haupt, ein mattes Lächeln flog über sein blasses Gesicht, und seine Hand legte sich in die des alten Freundes.
,, Nichts jetzt über das Werk des Polizeischuftes, nichts darüber, was wir erduldet!" sagte er." Der Frühlingsruf hat unsere Kerker gesprengt, dem Frühlinge gehören wir an, mit ihm leben, mit ihm sterben wir!" schloß er ernster.
Die Stunde ist gekommen," entgegnete Berner kopfnickend, in der kein Jesus von Nazareth den brausenden Wogen zu gebieten vermag. Sie soll uns an unserem Plaze finden!"
,, Jetzt ist es in unsere Hand gegeben, unser Glück zu erkämpfen!" rief hinter ihnen Egler mit strahlenden Augen. ,, Kein Zufall kann uns mehr narren. Die Waffe ist der Hammer, mit dem der Arme allein sein Glück zu schmieden vermag."
Gemeinsam verließen sie den finstern Bau.
Ein heißer Kampf ist um die Fabrit entbrannt; mit Zähigkeit vertheidigt sie das in der Straße aufgestellte Militär. In brutaler Weise säuberte es mit dem Bajonnet die benachbarten Straßen, aber immer mächtiger schwoll die Menge an, immer drohender wurde ihre Haltung, bis es endlich zum blutigen Zusammenstoß kam. Mehrmals schon war die Menge unter schweren Opfern an Todten und Verwundeten zurückgeworfen worden, aber immer kehrte sie wieder, immer leidenschaftlicher, immer erregter, und jeder neue Ansturm führte sie weiter vorwärts und drängte die Soldaten gegen die Mauer zurück. Ein wüthendes Handgemenge entsteht, mit Aexten, Spaten, Säbeln und Stangen ist das Volk bewaffnet, kühn wirft es sich dem Bajonnet- Angriff der gedrillten Soldaten entgegen, die verzweifelte Anstrengungen