uns mit menschlicher Einsicht bescheiden, statt göttliches Erkennen in Anspruch zu nehmen, so dürfen wir mit voller Zuversicht sagen: Wir wissen und wir werden wissen."

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Wir haben uns die Mühe genommen, dem Leser dieser Zeit­schrift die Quintessenz zweier der bedeutendsten Abhandlungen unseres Jahrzehnts gegenüberzustellen, nicht in der Meinung, durch schwerverständliche philosophische Auseinandersetzungen zu langweilen, sondern um zu zeigen, auf welcher Stufe der Welt­anschauung auch der exakteste und umfassendst gebildete Natur­forscher heute steht. Und da das denkende Volt in unseren Tagen mehr als je nach den Errungenschaften der Naturforschung fragt, weil diese allein auf der Grundlage des Wirklichen- nicht des Eingebildeten fußt, und weil die von der Naturwissenschaft zutage geförderten Wahrheiten nicht mehr blos Zunftgeheimniß der Gelehrten zu sein, sondern zum Gemeingut aller Denkenden

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zu werden bestimmt sind, so muß es gestattet sein, auch die höchste Blüthe exakten Forschens und Denkens, die in der neuen Weltanschauung gipfelt, in gemeinverständlicher Form denen kundzugeben, denen nicht vergönnt ist, dem Gang eines Non­gresses der Naturforscher von Anfang bis zu Ende zu folgen. Wir sind nicht der Ansicht, daß den Führern" allein das Wissen, den Geführten" blos das Glanben zukomme. Der Geist jedes Denkenden, gleichviel ob Laie oder Fachgelehrter, hat zuweilen das Bedürfniß, eine Bilanz dessen vor sich zu sehen, was bisher vom Wissenswerthesten im Soll und Haben des Hauptbuches aller menschlichen Weisheit eingetragen worden ist.

Vor Jahren( 1872) hat die Bilanz in unbefriedigender Weise mit dem Ignoramus und Ignorabimus von Du Bois- Reymond geschlossen. Wenn heute die Bilanz anders lautet, so wird sich der Freund des geistigen Fortschritts mit uns freuen an dem: Wir wissen und wir werden wissen!

Dr. A. D.-P.

Volkslieder und Lieder für das Volk.

Eine literargeschichtliche Plauderei von M. Wittich.

Es war eine merkwürdige Epoche unserer Literaturgeschichte, die sogenannte Genieperiode, als der von gelehrtem Krimsframs ganz hypochondrisch gewordene Poet wieder den ächten und rechten Naturlauten ursprünglicher Poesie lauschen lernte und dabei, wie ein vom raffinirten Kulturleben abgespannter Stubenpatient in Bergluft und Waldesduft, allmählich wieder genaß. Die Ent­fernung von der unverfälschten und ungeschminkten Natur war aber auch eine zu große, und die Kluft zwischen dem eigentlichen Volk und den sogenannten Gebildeten" gähnt einem, wenn man die Kulturgeschichte jener Zeit studirt, in wahrhaft erschreckender Weise entgegen. Die Gebildeten" hatten ihre Kultur so herrlich weit gebracht, daß diese an gar vielen Stellen das hippokratische Gesicht der Ueberkultur, des Raffinements und der Blasirtheit zeigte.

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Wie es nun im ganzen Leben aussah, so war es auch in der deutschen Literatur. Wohlmeinende Leute erhoben sich wohl und deuteten auf den tiefen Riß hin, der durch die ganze Nation ging, aber ihre Mahnungen verhallten ungehört und wirkungslos, wie die Stimme des Predigers in der Wüste.

Der Diktator des guten Geschmacks in Deutschland , Gotsched, beherrschte noch zum guten Theil unsere öffentliche Meinung in ästhetischen und schöngeistigen Dingen. Er verkündete, daß das Urtheil über Poesie nur Sache der Gebildeten sei: Der Pöbel hat sich allzeit ein Recht aneignen wollen, von poetischen Stri­benten zu urtheilen, dies ist nur um so lächerlicher, da ihm em Urtheil über prosaische Schriften nie zugestanden worden." Da­gegen half es wader wenig, wenn der fromme, aber ehrliche Gellert der Nation die Lehre gab: Die Ungelehrte machen weit seltener falsche Auslegungen als die Halbgelehrte!" Er legt damit flar und deutlich seinen Finger auf die tiefe Wunde, welche eine falsche Gelehrsamkeit einem ganzen Volkskörper geschlagen hatte. Die mächtige Dame" Regel" und der Allgebieter Verstand" sollten allein alles Kluge und Schöne schaffen: das achtbare Ge­schwister aber war nicht mehr zufrieden, neben anderen Faktoren mitzuwirken, sondern sie hatten sich einer Thron erbaut, auf dem sie wie Despoten willkürlich ein Regiment führten, welches an seiner eigenen Unwahrheit zugrunde gehen sollte. Daß der Mensch auch noch andere Seelen- und Geisteskräfte habe als zum Bei spiel Gefühl, Gemüth und Phantasie, das war schier in Vergessen heit gerathen. Die spinnenwebenfeinen Gehirnausschwißungen der in Künsten und Wissenschaften hochmögenden Herren waren so abstrakt, förperlos und leicht, daß man auf dem besten Wege war, sich ganz von unserem Planeten hinweg zu begeben, sicher aber vom wahrhaft Menschlichen sich bedeutend entfernt hatte: man wollte über sich selbst hinwegspringen oder, wie Schiller und Goethe es nannten, sich zum" Uebermensch" emporabstrahiren und aufläutern.

Da brach denn jener merkwürdige Gewitterregen über unser Geistesleben herein, den man in der Literaturgeschichte gemeiniglich die Genieperiode zu nennen pflegt.

Ueberall erhob sich der Streitruf: Natur! Natur!", der nun zum Stichwort der jungen und alten Stürmer und Dränger wurde, denen die Fesseln der Regel drückend und die gewohnte Kunstwerkstätte zu eng vorkam." Wir sind der gefeilten Arbeit müde, man muß einmal wieder hören sprechen, wie einem der Schnabel gewachsen ist!" ruft Helferich Peter Sturz, ein braver Mann, einem Freunde in seinen Briefen aus Paris zu, und weist damit deutlich genug auf das Volkslied hin, von dem sein Korrespondent äußerst geringschäßig geurtheilt hatte. Der hatte gesprochen von dem Veitstanz konvulsivischer Leidenschaften", von starkseinsollendem Unsinn" und die schauerliche Perspektive eröffnet, daß unsere Mord- und Gespenstergeschichten von den Deutschen mit dem Stabe der Bänkelsänger in der Hand ab­gesungen werden könnten. Man wolle wohl gar den Geist und die Kraft der Nation aus den Krügen*) und Herbergen holen, weil man, Volkslieder nachzuleiern nicht verschmähe, als wäre der Wiz eines Handwerksburschen werthvoll. Wer Klopstock und Wieland genossen und nun diese Knittelreime hört, der denkt, der Deutsche sinkt zur faselnden Kindheit herab."

Sonderbar! Was verlangt doch Schiller ? ,, Naiv muß jedes wahre Genie sein!" und an anderer Stelle lehrt er: da wo die Natur aufhört wild zu sein, beginnt das Genie!" Doch hören wir den Schmerzenserguß unseres Volksliederfeindes weiter: Der Strohfiedelversler soll den Dichter bilden? Dann wird der Hochzeitsbitter und Zimmergesell den Deutschen im Reden unter­richten!"

Gar nicht übel, wären diese Lehrer der Sprache gehört worden statt der Franzosen , statt der Griechen und Römer, es wäre vielleicht besser bestellt gewesen um unsere Literatur, jedenfalls wäre sie öfter und länger das geblieben, was sie sein soll: Besitz und Freude und Erziehungsmittel für das ganze Volf!

Ja, ja! In früheren Zeiten hatte der Pastor auf der Kanzel sich nicht gescheut, in seiner Predigt Volkslieder zu zitiren und seine erbaulichen, gar oft recht wirksamen und lehrreichen Betrach tungen daran zu knüpfen. Damals war freilich auch der Riß zwischen dem Volke und den Gebildeten noch nicht so groß, der nämliche Riß, der heutigen Tages immer noch nicht geschlossen ist, der aber jeden nöthigt, sich die Frage vorzulegen, ob er ihn vergrößern, oder, was das einzig Wahre ist, verkleinern helfen will. Wer gescheit ist, wählt, wie gesagt, das letztere; denn jeder Mensch, in dem noch nicht alles Gefühl verloschen ist, findet die Kluft, die er draußen erschaut, in seinem eignen Herzen schmerz­lich wieder. Und zwar geschieht das in den Momenten stiller Einkehr in sich selbst, wo er sich fragt, was er denn der Gesammtheit als seinen Tribut gezahlt und wie er sich abgefun­den hat mit seinen den Menschenrechten entsprechenden Menschen­pflichten, zu deren erhabensten eben die gehört, jene Kluft schließen zu helfen.

*) Provinzialismus für Wirthshaus.