Der ewige Kampf zwischen Kunst und Natur, oder wie Schiller es ausdrückt zwischen dem Sentimentalen und dem Naiven, wurde wieder einmal mit äußerster Hiße aufgenommen in den Schranken der literarischen Arena. Die Herren Kunstpoeten, von denen welche der Meinung waren, die Poesie sei ein Gegenstand des Lernens und des Wissens, waren gar oft mit der Losung:" Trotz der Natur" zu Felde gezogen, aber endlich dahin gekommen, daß ihr Kämpfen und Ringen geradezu wider alle Natur gerichtet war. So hatten sie den Boden im Volke verloren und schwebten in den luftigen Aetherhöhen, wo einer Normallunge die Luft zu dünn wird, ja einzelne hatten sich so hoch hinauf gesungen, daß kein Mensch mehr auf sie hören mochte.
Lesen wir die Vorreden der Kunstdichter des 17. und 18. Jahrhunderts, so wird uns unter Staunen klar, daß das Dichten gar häufig, wie gesagt, nur Sache des Gelehrten ist. Da heißt es, der Poet muß können: Griechisch, Latein, Geographiam, Historiam, Mathematicant, Methaphysicam u. s. w. u. s. w., daß uns schier die Haare zu Berge steigen!
Und da kommt nun der junge Goethe und behauptet:" Das poetische Talent ist dem Bauer so gut gegeben, wie dem Ritter." Und vor ihm schon hatte Lessing, der freilich die edle Theologiam oder Gottesgelahrtheit sträflicherweis über den Umgang mit Schauspielern und anderem„ Gesindel" an den Nagel gehängt und bereits schier vergessen hatte, die kezerische Aeußerung gethan:
,, Was einen Bauern reizt, macht keine Regel schlecht, Denn in ihm wirkt der Trieb noch unverfälschlich ächt." Der simple Bauer also sollte das Recht haben, etwas troß dem absprechenden Urtheil der heiligen Regel" schön zu finden! Auch der alte, derbe Joh. Heinrich Voß , der uns den deutschen Homer geschenkt hat, war anfangs recht begeistert für das Volksfied und für die Naturdichtung, ja er dichtete selbst Idyllen in plattdeutscher Sprache, freilich, merkwürdig genug in homerischen Sechsfüßlern; später aber fiel er ab und redete naserümpfend von dem Bovist des Volksliedes", der sich recht breit mache! Da war er unter die ästhetischen Aristokraten gegangen, und von dem Umgang mit den Grafen von und zu Stolberg war doch etwas hängen geblieben! Schäm dich, Alter! Haft dem Friß Stolberg, so schön den Text gelesen: Wie Frizz Stolberg zu den Unfreien gegangen" und gibst dir selbst so' ne Blöße!
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Um von Neueren etwas zu sagen, so war Lenau sehr bebegeistert für das Volkslied, welches er eben in Zeiten, wo alles Abstraktion ist, für viel werth" erklärt. Anders eine Richtung von Dichtern, die sich, mit Recht oder Unrecht, gern Schillerianer nennen möchten. Da ist der vor ein paar Jahren verstorbene Grillparzer, der sich in folgendem Spruch gegen derartige Liebhabereien verwahrt:
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Mit Mittelhochdeutsch und Volkspoesie Weiß ich fürwahr nichts zu machen. Wer trinkt, wenn er Brunnenwasser hat, Aus Wagenspur gern und Lachen?"
Grillparzer hat schöne Dramen geschrieben, und manches sinnige Gedicht und seiner Sprache Bilderpracht und Schwung und Glanz erinnern wohl an Schiller ;- der größte Idealist aber unter den lebenden Dichtern, der Schiller, wenigstens gewiß seiner Meinung nach, am nächsten kommt, wenn nicht gar übertrifft, das ist Herr Hofrath Rudolf von Gottschall, Ritter des Fledermaus oder Sperlingsordens von Flachsenfingen, der Sänger der weltberühmten Bismarkhymne, die unter seinen Brüder 3000 Mark werth war! Dieser neue leipziger Gottsched, diese
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männliche Pythia der modernen deutschen Literatur hat auch anläßlich der Volkslieder und des dahin Gehörigen etwas georakelt. Als er in Unsere Zeit" von 1874 dem Hofmann von Fallersleben einen Nachruf widmete, trieb ihn sein Geist, einige bedeutende Bemerkungen zu machen. Unter anderem spricht er von Dichtern dieser Art, die an die meist namenlosen Volksdichter grenzen, die in des Knaben Wunderhorn*) tuten" und beweist deren geringen Werth mit folgendem glorreichen Schlußsaz:„ Da das Lied der unmittelbarste Ausdruck der Empfindung ist, so bedarf es oft nur eines recht warmen und innigen Gefühls, um in einer Sprache, die für uns dichtet und denkt, ein Lied zu machen!" Da habt ihr's! Weiter ist's nichts! Ein bischen warmes Gefühl und etwas Sprache, dann ist's gemacht. Wir möchten vermuthen, der Herr Hofrath habe sowohl seine früheren Revolutions- als auch seine Speichelleckerlieder ohne jegliches Gefühl, ohne warmes und ohne faltes, gemacht oder fabrizirt. Wir sehen also, es gibt heute noch auch auf diesem Felde Leute, welche sorgfältig bemüht sind, die Trennung nicht nur nicht zu beseitigen, sondern sogar offen zu halten, ja möglichst zu erweitern, mit dem Hintergedanken, bei Ihresgleichen auf um so höheren Sockel zu stehen, je tiefer sie den" Pöbel" unter sich lassen.
Doch zurück zu der Sturm- und Drangperiode. Lessings scharfer kritischer Geist, der in den Literaturbriefen und gelegentlichen Abhandlungen sein Licht leuchten ließ, sowie Herders Fragmente über die deutschen Literaturzustände hatten schon gar deutlich auf den Unterschied zwischen dem originalen Produziren der wirklichen Dichter von Gottes Gnaden" und den gebosselten Stückwerks- und Nachahmungsfabrikaten der Stubenpoeten hingewiesen, die sich an fremde Nachbildungen der Natur hielten, statt aus der Quelle selbst zu schöpfen. Lessing und Herder ließen denn die bekannten Namen ihrer Zeit Revue passiren und bei gar manchem riefen sie ihr niederschmetterndes:" Gewogen, gewogen, zu leicht befunden." Und das ganze Geschlecht der jungen„ Originalgenies" ließ kaum Klopstock , der doch in dem göttinger sowohl, wie in Goethe's Kreis noch Anspruch auf Geltung haben durfte, noch gelten.
Es begann der Cultus des von allen Regeln unabhängigen Genies, besonders that dabei für Deutschland der Engländer Young Hebammendienste:„ Allzugroße Ehrfurcht vor dem Alten fesselt das Genie und versagt ihm die Freiheit, die es haben muß, wenn es seine glücklichen Meisterzüge wagen soll. Regeln sind Krücken für die Lahmen, aber für die Gesunden, für das Genie ein Hinderniß." Auch der Naturmensch" Jean Jacques Rousseau , der gepredigt hatte, daß die Fortschritte in Wissenschaft und Künsten nur die reine Urnatur des Menschen verdorben haben, hat ungeheure Wirkung nach dieser Richtung ausgeübt. Lavaters Physiognomik, d. i. die Kunst aus den Gesichtszügen die Seele eines Menschen abzulesen, gehört auch hierher; und Lavater hat in den verzücktesten Ausrufen eine Erklärung des Begriffs„ Genie" gegeben, der sehr charakteristisch, aber zu lang ist, um an dieser Stelle Platz finden zu können.
Als Repräsentanten des Genies nur galten der jetzt in Deutschland bekannt werdenden Shakespeare, der alte Vater Homer , der größte Epiker des Alterthums, vielleicht aller Zeiten, die nordischen Stalden, wie Ossian und endlich die in Percy's Sammlung enthaltenen Stücke; also das Volkslied.
*) Titel einer Volksliedersammlung, welche 1808 Achim von Arnim und Brentano herausgegeben haben.
Auf einer Herbstfahrt durch das Nahethal begriffen, stand ich auf dem Bahnhofe in Münster am Stein den von Bingerbrück fommenden Zug erwartend. Die Schaaren der nach Marpingen sirömenden Wallfahrer, die Mittheilungen der Schaffner hatten den aufsteigenden Gedanken eines Abstechers zum Gnadenbilde rasch zum festen Entschlusse gezeitigt, zumal ich auf ein ungewöhnliches Schauspiel rechnen durfte, da, wie mir übereinstimmend versichert worden, auf den folgenden Tag, den 3. September, die letzte diesjährige Erscheinung der Mutter Gottes angesagt war. Daraus ersieht man, daß sich das marpinger Wundertheater einer exakten Regie erfreut, welche die Himmels
( Schluß folgt.)
erscheinungen durch den Inspizienten besorgen läßt. Der nächste Zug brachte mich gegen 9 Uhr Abends nach dem Städtchen St. Wendel . Ein halbwüchsiger Junge bot mir seine Dienste als Fährmann an, die ich um so bereitwilliger annahm, als außerhalb des Bahnhofes eine ägyptische Finsterniß herrschte. Auf dem Wege zum Gasthof" Engel" theilte mir mein Cicerone mit, daß dort auch die Königin von Spanien , die heute zum Besuche Marpingens eingetroffen' war, abgestiegen sei.
In dem bis unter das Dach überfüllten Gasthofe fand ich ein sehr bescheidenes Unterkommen und fuhr am frühen Morgen mit einer französischen Familie gen Marpingen . Es ist unglaublich,