welches Leben in das stille St. Wendel mit dem marpinger Märchen gekommen ist. Die vorhandenen Kutscher, obzwar ihnen von allen Seiten Zuzug geworden, können der Nachfrage nicht Genüge thun. Die Lebensmittelpreise sind um das doppelte gestiegen, und doch macht meilenweit die Umgebung durch den riesenhaften Konjum glänzende Geschäfte. Nur der ehrwürdige Schutzpatron St. Wendel , durch die Unbefleckte pensionirt, hat seine bisherigen Wunderfunktionen eingestellt. Seine Kapelle steht verwaist, der darin entspringende Quell fließt ungebraucht und unbeachtet.
Auf der zwei Stunden langen Fahrt über Winterbach und Alsweiler, durch eine sandige, unfruchtbare Gegend, unterhielt mich der edle Rossebändiger abermals von der mir nachgerade fabelhaft werdenden Königin von Spanien .
Marpingen hat eine reizende Lage. Auf einer sanft ansteigenden Berglehne liegt halb versteckt in dem Grün mächtiger Bäume seine durch ihren weißen Anstrich weithin sichtbare Kirche. Von der Hauptstraße des Dorfes, zu beiden Seiten mit kleinen aber freundlichen Häusern besezt, führen zwei Wege zur Kirche. Rechts von der Kirche liegt ein mit einer lebenden Hecke eingefriedeter viereckiger Plaz, an dessen einer Seite ein Baum, in dessen Zweigen die Mutter Gottes sich gezeigt haben soll, eine Säule mit einer kleinen Madonna beschattet. Hart daneben befindet sich der Gnadenquell. Die Lokalität zur Inszenirung des Dramas fonnte offenbar nicht geschickter gewählt werden. In den ungefähr 5 Minuten von Marpingen der Kirche gegenüber aus dent Thal sanft ansteigenden Härtelwald, in welchem am 3. Juli 1876 den drei achtjährigen Mädchen die Mutter Gottes zum erstenmal zwischen zwei Sträuchen sizend erschienen sein soll, bin ich nicht gekommen. Derselbe ist polizeilich abgesperrt und der Zutritt nur mit besonderer Erlaubniß gestattet.
In den Straßen wimmelte ein buntes Leben. Rechts und links reihte sich Bude an Bude, in welchen Kerzen, Rosenkränze, Traktätlein und sogar Photographien der Madonna in der Gestalt, in welcher sie den begnadeten Mädchen erschienen war, gegen hohen Preis feilgeboten wurden. Doch auch die Virtuosen der Ziehharmonika waren zahlreich vertreten und ließen Melodieen hören, die zu der angeblichen Heiligkeit des Ortes schlecht stimmten.
Mit der vorrückenden Tageszeit schwoll das wogende Gedränge. Alles menschliche Elend, aller Jammer schienen sich hier zusammengefunden zu haben. Jedes Alter, jeder Stand lieferte von fern und nah sein Kontingent. Der Niederrhein , die Saar und Moselgegend, aber auch Luxemburg , Lothringen , Belgien und vor allem Holland hatten fromme Seelen gesendet. Daß drei Viertheile dem schönen Geschlechte angehörten, brauche ich wohl nicht zu bemerken.
Schauend und staunend gelangte ich bis in die Nähe der
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Kirche als plöglich der Ruf die Königin, die Königin" die Menge in raschere Bewegung brachte, die mich halb getragen über die hochgehäuften Gräber in die Kirche warf. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf den Gegenstand der allgemeinen Neugierde, gleichwohl ausreichend, um in der vermeintlichen Königin eine stattliche holländische Dame zu erkennen. Die bekannte Kopfzier aus Gold- und Silberblech, welche sie trug, hatte ihr zu der raschen Standeserhöhung verholfen.
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Die Atmosphäre und das entsetzliche Einerlei der hergesagten Gebete wurden nachgrade zur Nervenguillotine. Unter Fußtritten und Rippenstößen brachte mich eine Menschenwoge an dem Opfertasten vorbei zum Ausgang. Obgleich von der Größe eines Briefkastens, mit der Ueberschrift für die Ausschmückung der Kirche", vermochte die Mündung des Opferstocks die gespendeten Geldstücke nicht mehr aufzunehmen. Wieviel Schweiß mag wohl an diesen Gaben fleben? Man muß das lange Suchen der verblendeten Menschen in ihren schmutzigen Geldbeuteln, dieses Schwanken zwischen Großmuth und dem Bewußtsein des eigenen Bedürfnisses gesehen haben, um die magische Zaubermacht des unersättlichen Kirchenschlundes zu ermessen.
Vor der Kirche gerieth ich erst recht in's Gedränge und doch strömten immer noch auf der Fahrstraße und dem Fußweg neue Zuzügler in das Dorf. Ich halte nach meinen Wahrnehmungen die mir von verschiedenen Seiten gemachte Mittheilung, daß Marpingen an einzelnen Tagen von acht bis zehntausend Menschen besucht worden, für völlig glaubwürdig. Von der Kirche wendete ich mich nach dem eingefriedeten Plaz. Die hier herrschende Ueberfüllung spottet jeder Beschreibung. Wie Häringe auf einandergeschichtet lagen hier die Menschen im Gebet. Auch außerhalb der Einfriedung knieten hunderte in dem feuchten Grase, die Mütter ihre siechen Kinder vor sich, den stieren Blick nach der Stelle, wo die Bildsäule der Unbefleckten stand, gewendet. Aber sie kam nicht, die Gnadenreiche.
Als letzte und Hauptherrlichkeit hatte ich noch den Gnadenquell näher zu besichtigen. Trotz verschiedener energischer Versuche erwies sich das indessen als ein Ding der Unmöglichkeit. Hunderte von Frauen und Männern hatten einen undurchdringlichen Ring um ihn gebildet. Das Wasser ist nichts weniger als hell und klar. Ich bin überzeugt, daß, wenn die vielen stattlichen Pfarrherren aus den gesegneten Weingefilden der Saar , der Mosel und des Rheins mit diesem Schmutzwasser nur acht Tage lang ihren Durst löschen sollten, Marpingen ein tödtlicher Stoß versetzt werden würde.
Ich hatte genug, mehr als genug gesehen und dachte an die Rückkehr. Da eine Retourkutsche nicht vorhanden war, ritt ich auf Schusters Rappen nach St. Wendel zurück. Durch ein gutes Mittagmal gestärkt, führte mich gegen Abend die Eisenbahn nach Worms . Dr. Max Trausil.
Rudolf Fendt.
( Borträt Seite 220.)
Sonntag, den 21. September vorigen Jahres, wenige Stunden vor dem Kaisereinzug, wurde Rudolf Fendt, einer der Führer aus den freiheitlich- einheitlichen Bewegungen der Jahre 1848 und 1849, in Darmstadt zu Grube getragen. Fendt war 1826 zu Schotten im Vogelsberg geboren und studirte von 1844 an zu Gießen zuerst Theologie, dann Jurisprudenz. Die ebenerwähnten Ereignisse unterbrachen seine akademische Laufbahn. Während der Parlamentszeit erschien zu Gießen ein demokratisches Blatt, der Jüngste Tag", an dessen Redaktion Fendt beträchtlichen Antheil nahm. Noch lebhafter war seine Thätigkeit als Redner in den Volksversammlungen, welche damals bei jeder irgend erdent baren Gelegenheit zusammenberufen wurden. Als die Tage der Reaktion hereinbrachen, blieben auch für Fendt die schlimmen Folgen nicht aus. Politische Anklagen aller Art regneten auf ihn herab, und als er sich der drohenden Untersuchungshaft durch die Flucht entzog, wurde er steckbrieflich als Hochverräther und sonstiger Verbrecher" verfolgt, was bei seiner, damals immer noch zahlreichen Partei theils einen Sturm der Ent rüstung, theils ein homerisches Gelächter hervorrief.
Flüchtig wie er war, betheiligte sich Fendt an dem badischen Aufstande, wobei er theils als Journalist, theils als„ Adjutant
zu Fuß" bei Doll einen der kommandirenden Dienste leistete. Nach Niederwerfung dieser Schilderhebung hielt sich Fendt einige Zeit in der Schweiz und in Straßburg auf, stellte sich aber bald den hessischen Gerichten und erschien im Herbst 1850 zu Darmstadt vor dem Schwurgericht unter mehrfachen politischen Anklagen. Während dieses Prozesses, welcher fast eine Woche dauerte, konnte das Publikum die Schlagfertigkeit, den Wiz, die Gewandtheit, das enorme Gedächtniß und die Geistesgegenwart des jugendlichen Redners garnicht genug bewundern, und selbst seine entschiedensten Gegner zollten seinen Talenten eine unwillkürliche Anerkennung. Nichtsdestoweniger wurde der Hochverräther und sonstige Verbrecher" zu einem Jahr Gefängniß verurtheilt, welche Strafe er sofort in Darmstadt unter nicht allzuharten Umständen verbüßte. Nach seiner Entlassung betrieb Fendt jahrelang kaufmännische Geschäfte ohne sonderlichen Erfolg, da ihm alle Eigenschaften eines Kaufmannes fehlten, und trat dann 1873 als Buchdruckereibesizer in die Geschäftsführung und Redaktion des bedeutenden hessischen Lokalblattes, der Neuen hessischen Volksblätter", über, welche ein seinen früheren Ueberzeugungen gemäßes Programm verfochten. Später betrafen den hartgeprüften Mann schwere körperliche Leiden, welche ihn vor kurzem zum Rücktritt von der
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