kennen empirisch bereits viele Regeln des unbewußten ,, Züchtens" der Lebewesen, wissen so manches über die Vorzüge eines naturmäßigen Züchtens und über die folgenschweren Mißgriffe, welche in der Zucht­wahl der Völker, namentlich durch die gewaltsamen Eingriffe in die Buchtwahl( Kriege 2c.) begangen werden. Die ganze moderne Literatur der Darwinianer und die ihrer Widersacher stimmen in dem Einen überein, daß sie in der einen oder der andern Richtung das Studium der Abstammungsvorgänge als das wichtigste der Wirthschaftslehre be­tonen, und dennoch stehen wir, was die praktische Verwerthung der Vererbungslehre betrifft, noch weit hinter den Anschauungen des Mittel­alters über den Werth der Genealogie zurück. Woher diese Erschei­nung? Das Studiengeleise, welches Darwin durch das Gebiet der Abstammungslehre gelegt hat, und in welchem er sich nicht auf das genealogische Studium ganzer Arten von Lebewesen beschränkte, sondern den Stammbaum der ganzen Erdbevölkerung vornimmt, ist fast schon zu breitspurig geworden, als daß in demselben die Darwinianer sich auf Spezialstudien über die Familienabstammungen der menschlichen In­dividuen, also auf eine enger begrenzte Abstammungslehre, einlassen fönnten. Zwei verschiedenartige Lehrsysteme: der Darwinismus und das, was wir im engeren Sinne Genealogie nennen, jener ein Frisch­ling und diese eine alte Stammwurzel der Abstammungswissenschaft, sind es, welche wunderbarerweise einander begegnen in einem Zeitalter, welches in seiner sogenannten realistischen Richtung, in seiner Abneigung gegen historische Ahnenkunde, unbewußt nicht übel Lust zeigte, mit den unschäzbaren Ueberlieferungen der in dem Geburtsadel so schön ge­hegten Abstammungstraditionen zu brechen. Während unsere Zeit auf der einen Seite die Theorien der Abstammungslehre fast vergöttert und alle Vorgänge der Entwicklung der Lebewesen mit Recht auf De scendenz und Zuchtwahl zurückführen will, zeigt sie anf der andern Seite für die sozialpolitische Praxis der Abstammungsgesetze, für die Werthschäzung der Blutsvererbung in der eigenen Gattung weder Sinn noch Verständniß. Wie nahe es liegt, so ist doch unser darwinistisches Jahrzehnt noch weit entfernt davon, in den aufgespeicherten Ahnen­tafeln und Stammbäumen des Geburtsadels den rothen Faden zu er­blicken, an welchen die neuere Descendenzlehre viele ihrer Beobachtungen über Werth oder Unwerth ihrer Vererbungsanschauungen wird an knüpfen müssen. Um diese Anknüpfung fruchtbar zu machen, müssen wir von der umfassenden modernen Descendenzlehre für unser Spezial­studium einen Zweig abtrennen, für welchen sich das Beobachtungs­material der alten Genealogen vorzüglich wird verwerthen lassen. Wir müssen nämlich eine inter geneagraphische und eine intra geneagraphische Abstammungslehre unterscheiden, wobei die letztere als eine begrenzte Unterart der ersteren erscheint. Während wir unter der intergenea graphischen Abstammungslehre( Darwinianismus) diejenige Wissenschaft verstehen, welche ein Herauswachsen der Arten aus gemeinschaftlichem Stamme annimmt, umfaßt die intrageneagraphische Abstammungs­lehre diejenigen Vererbungsvorgänge, welche sich innerhalb der Grenzen einer bestimmten Art von Lebewesen in der Familie und am Indivi­duum abwickeln. Wir reden demnach von einem intra geneagraphischen Studium sowohl der einzelnen Thierarten, wie von einem solchen der Menschen. Aus der vergleichenden Nebeneinanderstellung der bei dem Menschen und bei den Thieren gefundenen Vererbungsthatsachen werden wir endlich jene vergleichenden intra geneagraphischen Gesichtspunkte gewinnen, welche die eigentliche Unterlage einer auf Beobachtungen sich stüßenden sozialpolitischen Vererbungslehre bilden.

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Wenn ich übrigens von Vererbungsthatsachen und sogar schon von einem Nebeneinanderstellen derselben innerhalb der Gattungen und Arten sprach, so sezte ich stillschweigend voraus, daß überhaupt beim Menschen wie bei den Thieren solche Vererbungs- Thatsachen, Vererbungs­geseze bestehen, daß sie unserer Beobachtung zugänglich und behufs vergleichender Aufsammlung im Bilde fixirbar sind. Allerdings giebt es Vererbungsthatsachen in zahlloser Menge, sie finden ihren erkenn baren und fixirbaren Ausdruck in der äußeren Erscheinung, dem indi­viduellen Ausdrucke jedes Lebewesens. Es wird kein Individuum ge­boren, an welchem sich nicht großartige Vererbungsthatsachen vollzögen, welche werth sind in Wort und Bild fixirt zu werden; vererbt, durch Abstammung von den Voreltern übertragen, sind alle diejenigen Eigen­schaften eines Individuums, welche es wesentlich zu dem machen, was es ist und als welches es uns erscheint. Diese vererbten Eigenschaften sind einestheils normale, physiologische, anderntheils krankhafte, abnorme; sie alle werden unserer Beobachtung zugänglich im Individuum, in der Physiognomie seines ganzen Körpers. Während wir am Thierindividuum wirklich den anatomischen Bau des ganzen Körpers als das Charak­teristische der Uebererbung zu betrachten gewohnt sind, haben wir für die Menschen individuen in der Regel nur einen verstümmelten Ver­erbungsmaßstab hier ist es nämlich nur ein Bruchtheil der Körper­oberfläche, der Quadratfuß Antlig, der Ausdruck des Gesichts, welcher uns als törperliches Vererbungsmerkmal dient. So lange der Kultur­mensch, im Gegensatz zum Naturmenschen und zum Thiere, auch in seiner Zuchtwahl sich nur nach derjenigen Parzelle der Körperphysio­gnomie bestimmen läßt, welche das Angesicht, die Physiognomie im engeren Sinne genannt wird, müssen wir einstweilen den persönlichen Gesichtsausdruck von allen Vererbungsmerkmalen als dasjenige betrachten, welches für unsere Zwecke firirbar ist und ein umfassendes, vergleichen­

des Vererbungsstudium gestattet. ,, Jacet sine nomine truncus," ſagt schon der Dichter, ohne Kopf ist der Rumpf namenlos." Diese That­sache, daß beim Menschen leider nur die Kopffacade, das Gesicht, das bestimmende, das nennende Vererbungsgebiet ist, auf welchem die Ver­erbungsspuren sich abmalen, soll als zngestanden gelten. Dr. H. Oidtmann.

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Zur Berichtigung eines Irrthums. Die Nummer 12 der Neuen Welt" bringt unter diesem Titel eine Notiz, die einen Angriff gegen mich enthält. Herr Eduard Berz behauptet nämlich darin, daß ich im Frrthum sei, dem Philosophen Empedokles etliche Aussprüche zuzuschreiben, die auf dessen ausgeprägten Pessimismus schließen lassen. Ferner stellt Herr Berg ganz entschieden in Abrede, daß Empedokles je die Welt als ein Jammerthal", ein Eril" 2c. angesehen, und sucht dies damit zu beweisen, daß er verschiedene Schriften( Fragmente) des Empedokles anführt, in denen davon nichts enthalten sei. Ich habe nun auf diese Ausführungen zu erwidern, daß Hr. Berz, wenn anders, ihm daran gelegen ist, die Weltanschauung des Philosophen Empedokles kennen zu lernen, der ich in meiner Novelle ,, Der Erbonkel" Ausdruck gegeben, das Wert von Sturz, Empedokles Agrigentinus , lesen möge. Er wird darin fast wörtlich jene Aussprüche des Empedokles finden, welche ich citirt. Schließlich möge hier die Beurtheilung des Empedokles von Seite des großen frankfurter Philosophen Platz finden. Arthur Schopenhauer äußert sich über unsern Philosophen wie folgt: ,, Bor allem aber ist unter den Lehren des Empedokles sein entschiedener Pessimismus beachtenswerth. Er hat das Elend unseres Daseins vollkommen erkannt, und die Welt ist ihm, so gut wie den wahren Christen, ein Jammerthal. Schon er vergleicht sie, wie später Plato , mit einer finsteren Höhle, in der wir eingesperrt wären. In unserem irdischen Dasein sieht er einen Zustand der Berbannung und des Elends, und der Leib ist der Kerker der Seele" 2c. Wie man sieht, befindet sich Hr. Berz auch mit den Ansichten Schopenhauers über Empedokles in entschiedenem Widerspruche! Ernst von Waldow.

Korrespondenz.

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Dortmund . H. R. Ihre Erzählung wird baldigst geprüft. Indessen können wir auch im Falle der Verwendbarkeit für baldigen Abbrud nicht garantiren, da wir schon seit langem übergenug derartiges Material auf Lager haben.

Baltimore . J. Ph. ,, Amerikanische Sittenbilder" sind uns willkommen, wenn sie gut geschrieben und geeignet sind, sitten veredelnd zu wirken. Auch Zeichnungen der von Ihnen angegebenen Art nehmen wir zur Prüfung entgegen.

Chemnis. R. Sch. Nr. 18 wird Sie bereits über Ihren Irrthum aufgeklärt

haben.

Breslau . P. J- r. Ihre Verse sind stellenweise sehr hübsch; doch schießt der Ausdruck zuweilen bei dem Biele Ihrer Gedanken vorbei und bringt außerdem anch jene für die ,,. W." antiquirte Anschauung von dem Gotte, der nicht Herren und nicht Knechte schuf, zur Geltung. Bekomplimentiren Sie diesen Gott still und höflich aus Ihren Gedanken und Gedichten hinaus und suchen Sie den leeren Blag mit recht viel tiefen und wohlmotivirten Jdeen zu füllen. Frl. Laura T. Was für Kleider denn die Frauen und Mädchen in unsrer rothen Republik tragen würden, fragen Sie? Nun, Kleiderordnungen werden die Sozialisten wohl nicht feststellen, unsere liebenswürdigen Damen werden sich also kleiden, wie es ihnen beliebt und praktisch und schön scheint( die unliebenswürdigen natürlich auch!). Hat das Ihren Beifall, bestes Fräulein?

Landsberg . A. Rm. Wir möchten, endlich einmal das Borträt unsres guten Kaisers Wilhelm" bringen? Entschuldigen Sie gütigst, das thun wir nicht! Das Porträt des Kaisers Wilhelm zu zeichnen überlassen wir der Geschichte! Und wir hoffen, daß unsre Nachkommen loyal genug sein werden, dafür zu sorgen, daß der Griffel der Ge­schichte bei dieser Arbeit von unparteiischer Hand geführt wird. Apropos! Sie lesen wohl die ,, N. W. " noch nicht lange?

Berlin . H. 2. Die von Ihnen aufgestellten Gesichtspunkte bezüglich der Lehr­partieen für Anfänger im Schachspiel haben viel für sich: Sie berücksichtigen aber nicht zur genüge, daß niemals eine Gelegenheit, durch eine geschickte und nicht allzutief liegende Kombination die Partie in wenigen Zügen zu beendigen, versäumt werden darf. Und dies ist bei der von Ihnen zuerst eingesendeten Bartie doch der Fall, troß Ihrer Mei­nung, mit 13)( Schwarz) d7- d6 den Ruin abwenden zu können. Darauf antwortet nämlich Weiß sofort mit e5- e6, macht somit durch Deckung des gefährlichen Läufers auf f7 die weiße Dame völlig aktionsfrei, sperrt den zur Rettung des Schwarzen, wie Sie ganz richtig erkannt haben, unentbehrlichen Läufer auf e8 hoffnungslos ein und be fiegelt mit nachfolgendem 2. el- g5( falls Schwarz 2. c5- d4 zieht) ober. S. e4- f6 ohne Erbarmen das Geschick des Schwarzen. Das neuerdings eingesendete Giuoco piano werden wir demnächst mit Interesse durchsehen. J. H. Arbeiten, welche in das Gebiet der Kriminalnovellen schlagen oder nahe daranstreifen, sind für uns nicht verwendbar, wenn sie die Leser nicht zu den sozialen Quellen aller Verbrechen führen.

Aerztlicher Briefkasten.

Berlin . J. W. Wenn der Stuhlgang nicht die gewöhnliche Färbung hat, sondern weißlich ist, so sind Sie nicht magenleidend, sondern es ist jedenfalls eine Lebererkrankung vorhanden, als deren weitere Folgen die von Ihnen beschriebenen Darmstörungen auf treten. Kaufen Sie Sich in einem Droguengeschäft 15 Gramm schwefelsaures Natron und 15 Gramm doppeltkohlensaures Natron; lösen Sie beides in einer Flasche, die un­gefähr 1-2 Liter Wasser faßt, auf, und trinken Sie jeden Morgen 1-2 Weingläser voll. Wird es danach in einigen Wochen nicht wesentlich besser, so würden wir Ihnen rathen, sich an einen dortigen Arzt zu wenden, an denen doch in Berlin wahrlich kein Mangel ift.

Breslau . A. R. Von den dortigen Aerzten hat Herr Professor Voltolini als Ohrenspezialarzt den meisten Ruf.

Wittenberg . K. R. Solange die Ed- und Schneidezähne noch in leiblichem Bu stande sind, sieht man in der Regel von der Anfertigung eines künstlichen Gebisses a b, denn es ist immer besser, sich mit eigenem Kapitale durch die Welt zu helfen, also die Speisen zu lauen, als mit fremdem. Das künstliche Gebiß erseßt, wenn gut gearbeitet, die natürlichen Zähne zwar einigermaßen, aber nur zum Theil. Die noch festsigenden Zahnwurzeln lassen Sie, wenn sie Ihnen keine Schmerzen verursachen und feine Ber­anlassung zu Wurzelhautentzündungen geben, nur unberührt, denn sie bilden später eine gute Unterlage für das künstliche Gebiß. Dr. Resau.

Verantwortlicher Redakteur: Bruno Geiser in Leipzig ( Plagwißerstr. 20).

( Schluß der Redaktion: Montag, den 28. Januar.)

Druck und Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei in Leipzig .