auch, man befördert ihn ohne Blutvergießen zum Tode, nur daß die heutige Methode viel grausamer und raffinirter ist, indem sie das Opfer langsam und allmählich zu Tode martert, während die Henker der Inquisition die Qualen ihres Opfers wenigstens rasch beendeten!
Und doch ist kein Vorwurf unbegründeter und einfältiger, als der, der Darwinismus untergrabe die Moral und führe zur Anarchie. Wie man heutzutage sogar im Vatikan überzeugt ist, daß der Staat nicht zugrunde geht, wenn auch die Erde sich bewegt, so wird man im nächsten Jahrhundert schon sich über zeugt haben, daß der Staat nicht nur sehr wohl bestehen kann, auch wenn die Menschen nicht mehr blindlings glauben, sie seien gottähnlich geschaffen und nachher von dieser Höhe zu den erbärmlichen Sündern von heute herabgesunken, sondern daß es vielmehr von dem größten Vortheil für den Staat sein wird, wenn dessen Angehörige wissen, daß sie aus den Tiefen der Natur emporgestiegen sind und sich von thierischen Zuständen aus allmählich bis zu dem erhabenen Standpunkte aufgeschwungen haben, den die zivilisirte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, wenigstens gegen früher, einnimmt. Gerade das Wissen von der fortschreitenden Entwicklung des Menschengeschlechts zu immer höhern Kulturstufen eröffnet uns einen viel tröstlichern Blick in die Zukunft, als ihn der Glaube an die vernunftwidrigen Dogmen irgend einer der bestehenden Kirchenreligionen je zu gewähren im Stande ist.
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Die Sittenlehren im Darwinismus und um es gleich zu sagen auch des Sozialismus sind keine andern, als jene ursind keine andern, als jene uralten großen Grundsäße, welche die Moralsysteme aller Zeiten und aller Völker ausmachten und welche aus der Gemeinsamkeit der Interessen enspringen. Andern Gutes zu thun, unsre Gelüste zu Gunsten andrer zu opfern, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst, unsern Feinden zu verzeihen, unsre Leidenschaften zu bezähmen, unsre Eltern zu ehren, die Gesetze zu achten" dies sind die grundlegenden Säße der Moral, aber sie sind seit Menschengedenken bekannt und nicht ein Jota ist ihnen zugefügt worden durch alle Predigten und Textbücher der Theologen. Zu behaupten, das Christenthum hätte der Menschheit vorher unbekannte fittliche Wahrheiten gebracht, beweist entweder grobe Unwissenheit oder geflissentlichen Betrug.
Die Moral, deren Gegenstand einzig und allein der Mensch ist, insofern er nach Selbsterhaltung und sozialer Vereinigung strebt, hat absolut nichts mit jenen eingebildeten Systemen zu thun, welche sich auf ein außerhalb der Natur befindliches Wesen beziehen; eine aufmerksame Beobachtung der menschlichen Natur vermag allein nur die Motive zu zeigen, wodurch man auf die Menschen einwirken muß, um sie zur Zügelung, Regelung und Bekämpfung ihrer Leidenschaften, Begierden und fehlerhaften Gewohnheiten zu bestimmen und den Eifer in ihnen zu beleben, sich der Gesellschaft werth und nützlich zu machen. Moralisch leben heißt nichts anderes, als sein eigenes Wohl fördern durch Beförderung des Wohles anderer. Sobald der Mensch bei seinen Handlungen durch andere Beweggründe, z. B. Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Lohn sich leiten läßt, so handelt er nicht mehr moralisch, sondern unmoralisch. Die Erziehung, unterstützt durch das Gesetz und die Wachsamkeit der öffentlichen Meinung und durch das Gefühl für Anstand, sowie durch das dem Menschen innewohnende Streben, sich die Achtung anderer zu erwerben und durch die ihm eigenthümliche Scheu, sich in seinen Augen herabzuwürdigen, ist vollständig hinreichend, uns zu einem sittlichen. Verhalten anzuleiten und uns selbst. von geheimen Vergehungen zurückzuhalten.
Die moralischen Eigenschaften, welche man Gott beilegt, bewähren sich in der Erfahrung keineswegs, die Theologie selbst zeigt uns Gott bald als liebevollen und weisen Vater, bald als finstern, strengen Herrscher. Ein Gott, der sich uns unter so verschiedenen Gestalten zeigt, kann nicht Vorbild für uns sein. Wenn daher Plato sagt, die Tugend bestehe in Gottähnlichkeit, so müssen wir zuerst fragen, wo der Gott zu finden ist, dem der Mensch nacheifern soll. Sollen wir ihn in der Natur suchen? Aber derjenige, den man für den Urquell alles Lebens in der Natur ausgibt, theilt ohne Wahl Gutes und Böses an die Menschen aus; er zeigt sich hart gegen diejenigen, deren Wandel ganz rein ist und überschüttet die größten Bösewichter mit einer Fülle von Segnungen. Man sagt uns zwar, diese Ungerechtigkeiten werden sich dereinst ausgleichen, solange wir dies aber nicht ganz gewiß wissen, fönnen wir uns einen solchen Gott nicht zum Muster nehmen. Sollen wir das Vorbild für unsere Sitten in den ge
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offenbarten Religionen suchen? Aber alle geoffenbarten Religionen stimmen darin überein, Gott als ein rächendes Wesen darzustellen, das, kein Gesez kennend, lediglich den Eingebungen seines Willens folgt, nach Willkür liebt und haßt, wählt und verwirft und seinen armen Unterthanen den Gebrauch ihrer Vernunft auf's strengste untersagt. Was soll aus der Moral werden, wenn die Menschen solche Muster wählen?
Einer jeden, der Natur nicht feindlich oder fremd gegenüberstehenden Moral gilt als letzter Zweck und höchstes Prinzip das allgemeine menschliche Wohl. Um dieses aber zu fördern und zu erreichen, ist es endlich einmal die höchste Zeit, daß man allgemein ernst damit macht, die Moral vom Himmel auf die Erde zu bringen und sie, anstatt auf irgendwelche übernatürliche Voraussetzungen, auf die uns allen vertraute Natur fest und sicher zu gründen.
Es ist eine durch die Erfahrung hinlänglich bewiesene Thatsache, daß die theologischen Begriffe der gesunden Moral stets zuwider waren und sein werden. Die Moral der Natur ist deutlich, klar und einfach. Die religiöse Moral ist unsicher und dunkel, wie die Gottheit, von der sie herstammt; sie führt die Völker der Knechtschaft, der Entsittlichung, der Finsterniß entgegen, indem sie den gefährlichen Wahn erzeugt, als könne der Mensch durch leere Ceremonie jede wahre Zugendübung ersetzen, jedes begangene Verbrechen abbüßen.
Was hilft es, alle menschlichen Pflichten auf göttliche Gebote zurückzuführen? Die Gründe und Drohungen der Religion werden vergessen, sobald die Leidenschaften, die Interessen, die Gewohnheiten den Menschen mit sich fortreißen. Ein schlechter Mensch bleibt auch als Christ ein schlechter Mensch. Thut er auch Gutes, so thut er es doch nicht um des Guten willen, nicht weil ihn die Natur dazu treibt, weil ihm die Idee des Guten zur Nothwendigkeit geworden ist; maßgebend für seine Handlungen ist nur der Befehl des Herrn. Also nur ein ihm äußerliches, fremdes Gebot, ein Gebot, zu dem er gar keine innern, freien, aus ihm selbst entspringenden Verpflichtungsgründe findet, ist es, das sich als Schranke zwischen die stets gegebene Möglichkeit des Verbrechens und die wirkliche Ausführung desselben in's Mittel schlägt. Er hält daher auch, weil er die Menschen nur nach sich selbst denkt und die Macht des Guten nicht aus sich selbst kennt, jeden, der sich nicht wie er auf die Bibel stützt, für einen jedes Verbrechens fähigen Menschen. Und das Dogma, das ihm ebenso heilig, wo nicht noch heiliger als die Existenz Gottes ist, das einzige Dogma, das er von Herzensgrund aus glaubt, ist das Dogma von der Grundverdorbenheit der menschlichen Naturein Dogma, das allerdings ein faftischer Beweis von dem Grundverderben der Menschheit ist, denn es setzt als Bedingung seiner Genesis und des Glaubens daran einen Zustand der absoluten Verwilderung, der absoluten Entäußerung der Idee des Guten voraus, einen Zustand, wo der einzige wahre und gültige Glaube, der Glaube an die unaustilgbare Macht des Guten verschwunden ist. Solange die Menschheit dieses Dogma glaubt, solange bleibt sie innerlich grundschlecht und jede gründliche Besserung des Menschen unmöglich. Die Tugend wird enterbt, wo die Sünde der ein heiliges Erbrecht hat, das einzige Gute im Menschen Glaube an das Gute ausgerottet. Nur da dringt das Gute in den Menschen selbst ein, wo es als sein eigenes, inneres Wesen, als seine wahre Natur erfaßt und der Glaube an die Sünde Die Theologie reißt die als die größte Sünde erkannt wird. Ethik mit der Wurzel aus, indem sie das Gute außer den Menschen hinausschiebt; sie nimmt dem Menschen sein bestes, seinen wahren Gott, um ihm dafür einen äußerlichen, falschen Gott zu geben.
Hinter die Religion kann sich der unreinste Sinn verstecken; die schmutzigsten, verächtlichsten Gesinnungen, die niedrigsten Persönlichkeiten, die schlechtesten Weltzustände vertragen sich wohl mit der Religion, nicht aber mit der Idee der Sittlichkeit. Nur die Ethik ist die wahre Religion; sie ist der Geist der Religion, der offen ausgesprochene, seiner selbstgewisse, sich nicht durch Phantasiebilder täuschende und hintergehende, in dunkle Probleme und konfuse Vorstellungen verbergende Geist, das reine einfache Wort der Wahrheit, fern von aller orientalischen Bilderpracht. Nur die Ethik erzeugt, wie die Geschichte beweist, offene, freie, redliche, edle, natürliche, wahrhafte, ächt religiöse Charaktere.
Es steht kulturgeschichtlich fest, daß gerade die tiefsten Denker, die größten Geister aller Zeiten von jedem Kirchenglauben sich losgesagt haben und deshalb als Freigeister oder Atheisten verschrieen waren. Es ist ein Zeichen des langsamen und geringen Fortschritts der Menschheit auf der Bahn höherer Erkenntniß,
Rr. 20 1877/78.