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konnte. Es sollte übrigens sehr einsam und leer im Hause Herrn Reischachs werden, denn Fräulein Emmy bestand mit dem ganzen Eigensinn eines verzogenen und sich über seine Macht klaren Kindes darauf, daß Martha sie begleite, und auch Frau v. Larisch entwickelte zu Gunsten dieser Idee eine Beredtsamkeit, die den Gedanken nahelegte, daß sie ein gewisses geheimes Interesse daran habe, Martha nicht allein in M. zu lassen. Diese war, ganz wider alle Gewohnheit, wenig geneigt, dem vereinten, fast hart­näckigen Drängen und den Bitten, Liebkosungen und Thränen Emmy's nachzugeben, und erst als Frau von Larisch mit einem ganz leichten Anflug von Ironie die Bemerkung hinwarf, Emmy möge Martha auch nicht zu sehr bestürmen, da sie doch nicht wissen könne, welche Gründe diese habe, das Zurückbleiben in M. vorzuziehen, willigte sie plötzlich mit kühler Bestimmtheit und in fast trockenem Tone ein; sie fühlte deutlich heraus, daß Leontine ihr unterschob, sie wünsche zurückzubleiben, weil dann das Feld für sie frei gewesen wäre und sie sich ungezwungen und jeder lästigen Aufsicht ledig hätte bewegen können. Aber je näher der Tag der Abreise kam, desto öfter und desto tiefer bereute sie, der augenblicklichen Aufwallung willfahrt zu haben, und desto schwerer wurde es ihr, sich von M. zu trennen; machte es doch jeder ver­rinnende Tag unwahrscheinlicher, daß sie noch eine Gelegenheit erhalten werde, Wolfgang zu fragen, was ihn an jenem Abend so tief verstimmt und so plöglich von ihrer Seite gescheucht habe. Es fiel ihr auf, daß der Kommerzienrath, als Leontine ihm ganz beiläufig andeutete, daß es ihr erwünscht sein würde, Wolfgang borher noch einmal zu sprechen, da sie ihn um einige Bücher bitten möchte, achselzuckend meinte, es werde sich dies kaum thun laffen, da jener eine kleine Geschäftsreise erledigen müsse; wenn auch Frau von Larisch, die momentan nur ein getheiltes Interesse an Wolfgang nahm, sich mit dieser Antwort begnügte, so errieth Martha, daß dieselbe nur ein leerer Vorwand sei, und daß Herr Reischach Wolfgang nicht bei sich sehen wollte. Hing diese Ab­neigung gegen den jungen Mann vielleicht irgendwie mit dem Krawall der Fabritarbeiter zusammen? Sie fühlte sich versucht, es anzunehmen, aber das war doch eine sehr vage Muthmaßung, und dieses neue Räthsel verschärfte nur die Traurigkeit, von der sie beherrscht ward und die sie nur mühsam den Blicken ihrer Umgebung zu verschleiern vermochte. Der Tag vor der Abreise ließ diese Traurigkeit so übermächtig werden, daß sie ängstlich nach einem Grunde haschte, das Haus wenigstens auf eine Stunde zu verlassen; es war ihr, als müsse sie zwischen den engen Mauern ersticken und als werde es ihr den Abschied erleichtern, wenn sie vorher zum erstenmal einen Blick in Wolfgangs Garten geworfen hätte. Er hatte ihr die Lage desselben so genau beschrieben, daß sie wohl hoffen durfte, ihn zu finden, und das Verlangen, sein fleines, grünes Reich kennen zu lernen, war so unbezwinglich, daß sie sich auch durch die ihr förmlich aufgezwungene Begleitung der kleinen Anna nicht an der Ausführung des Gedankens hindern ließ. Sie ging mit derselben erst zur Schneiderin( in dem Gang zu ihr hatte sie den gesuchten Vorwand gefunden), schüßte aber dann Kopfschmerzen vor, die sich vielleicht verlören, wenn sie noch eine Strecke Wegs ginge, und schlug, durch ihre Begleiterin kaum noch gestört, die Richtung nach Wolfgangs Garten ein. Derselbe ward auf der einen, nicht von dem alten Kanal umschlossenen Seite von der Straße begrenzt; ein Einblick war aber nur an der Thür möglich, da dichtbelaubtes Gesträuch den Zaun entlang eine grüne Wand bildete. Marthas Hoffnung, ein paar Minuten lang das Bild dieses Tuskulums ihrer Seele einprägen zu können, ward vereitelt; sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie sah, daß einem Schwarm von Kindern, die vor der Thür standen, von

innen halbverblühte Rosen zugeworfen wurden. Nur die Be­fürchtung, Anna aufmerksam zu machen, hielt sie ab, dem Impuls einer mädchenhaften Scheu nachzugeben und umzukehren; sie nahm all' ihre Kraft zusammen und ging den Zaun entlang, und die Dämmerung verbarg die Röthe, die ihr in die Wangen stieg, als sie an einer Stelle, wo das Gebüsch weniger dicht war, mut verstohlenem Seitenblick Wolfgang gewahrte, der mit der Rosen­scheere die hochstämmigen Remontanten von den Blumen säuberte, die zu verblühen und zu welken begannen, und die abgeschnittenen in ein Körbchen sammelte, um sie dann den Kindern zuzuwerfen. Anna hatte noch mehr gesehen; der lange Alfred und sein dicker " Bruder" tamen vom Kanal her mit gefüllten Gießkannen, und um von ihnen nicht bemerkt zu werden, beschleunigte sie ihre Schritte fast noch mehr als Martha. Als sie außer Gesichts­weite waren, verlangsamten sie ihren Gang und bald sahen sie sich von den Kindern eingeholt, die mit ihren Rosen heimzogen und eifrig darüber stritten, wer von ihnen die schönsten habe. Ein kleines Mädchen hatte ihr Schürzchen ganz voll Blumen und ausgefallenen Blumenblättern; Martha blieb unwillkürlich bei ihr stehen und sagte freundlich:

" Was hast du da für wunderschöne Rosen, mein Kind! Er­laubst du, daß ich mir eine davon auswähle?"

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Die Kleine hielt ihr das Schürzchen hin auf eine Rose kam es ihr bei solchem Reichthum wahrlich nicht an. Martha hatte nicht zu lange zu suchen; überrascht wählte sie eine weder sehr große, noch sehr volle Rose, die aber mit ihrem tiefdunklen Purpur gradezu braun erschien und auf deren Blättern ein weicher Sammethauch lag. Sie hatte nie eine so dunkle, so ernſte, fast geheimnißvolle Rose gesehen, und auch der feine Duft hatte etwas Eigenthümliches, das sie von all' ihren weißen, rothen und gelben Schwestern unterschied. Sie drückte der Kleinen ein Geldstück in das magere Händchen und steckte die braune Rose an die Brust, und als sie daheim in ihrem Zimmer war, ruhte ihr Blick lange und nachdenklich auf der eigenartig- schönen Blume. Ihre Lippen zitterten, als sie leise zu sich selber sagte: Wie ihr Purpur in Braun übergeht, so wird alle Liebesinnigkeit in mir zur Trauer." Und dann streifte ihr kleiner Finger die von der Sonne ver sengten, des Sammethauchs beraubten und wie verbranntes Papier zusammengerollten Ränder der untersten Kelchblätter, und als sie wehmüthig- lächelnd sagen wollte: Und siehst du, braune Rose, wir fangen beide an, zu verblühen, und wie er dich weggeworfen hat, weil du nicht mehr tadellos frisch und schön bist und morgen vielleicht farblos und ohne Duft wärst, so wirft er auch mich weg und mich wird niemand aufheben, wie die Kinder und ich es mit dir gethan!" da schossen ihr die Thränen heiß in die Augen und ein schwerer Tropfen rollte über ihre Wange und fiel auf die braune Rose. Dann aber, wie sich besinnend und der Schwäche sich schämend, sagte sie leise: Armes, thörichtes Herz, willst du denn nie zur Ruhe kommen und ewig nach den Sternen greifen?" Aber sie nahm doch ein kleines Couvert aus der Schreibmappe, schob die Rose sorgsam hinein und legte es dann in ihren Lenau . Dem melancholischsten Dichter die melancholische Rose, ich glaube, sie hätte ihn zu einem gedankenvollen Gedicht begeistert."

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Am nächsten Morgen aber schloß sie den Lenau mit der Rose in ihren Reisetoffer, und es war ihr, als nähme sie wenigstens einen Abschiedsgruß von Wolfgang mit in die Ferne, ein liebes Pfand der Versöhnung und ein Geschenk, das er ihr nicht ver­weigert haben würde, hätte sie ihn darum gebeten, troß alledem! ( Fortsetzung folgt.)

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Die unbewußte Büchtung und Vererbung menschlicher Charaktere und Phyhognomien und die Erforschung der Geseke der menschlichen Zuchtwahl mittels der Photogeneagraphic.

Von Dr. S. Oidtmann.

In der deutschen photographischen Abtheilung der wiener Weltausstellung von 1875 hatte ich auf wenige Tage vorüber­gehend Porträtssammlungen ausgelegt, welche ein großes anthro­pologisches und volkswirthschaftliches Interesse bieten: Porträts, Stammbäume und Ahnentafeln mit den Bildnissen blutsverwandter Menschen. Es sind dieses Stammtafeln, in welchen an Stelle

der Namen und Wappen photographische Porträts in genealogischer Anordnung eingeklebt und die Lücken als Nietenstellen zum Zeichen, daß hier die Porträts fehlten, offen gelassen sind. Eine große Wandtafel daneben gab den erklärenden Text zu diesen Bild­werken. Diese Stammtafeln, welche ich Photogeneagraphie genannt, sollten den Anfang zu einem Bruchstück des Bildstamm­