Mene Well

32- Jahrg.Ill.

Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volk.

Erscheint wöchentlich. Preis vierteljährlich 1 Mark 20 Pfennig. In Heften 30 Pfennig. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter.

Ein verlorener Posten.

Roman von Rudolf Lavant . ( Fortsetzung.)

Zwei Tage später fand Wolfgang, als er abends heim kam, am Spiegel ein kleines, zierliches, parfümirtes Briefchen mit aus gezackter Schlußflappe. Stadtpoststempel? eine völlig unbekannte Handschrift? kein Siegel? kein Monogramm?" Er öffnete das Kouvert, trat, die Cigarre zwischen den Zähnen, an's Fenster, da es schon merklich dämmerte, und las mit steigender Ver­wunderung und wiederholtem Kopfschütteln die folgenden räthsel­haften Zeilen:

Mein Herr!

Eine Dame, die Ihnen wohl will und der kein anderer Weg offen steht, um Ihnen einen Wink zu geben, der wohl von Wichtigkeit für Sie sein dürfte, entschließt sich, wenn auch ungern, dazu, sich brieflich an Sie zu wenden und hält sich für dazu verpflichtet, in Erinnerung an eine ihr von Ihnen erwiesene zarte Aufmerksamkeit, die ihr eine lebhafte Freude bereitet hat, ohne daß sie im Stande gewesen wäre, Ihnen ihren Dank abzu stätten.

Es droht Ihnen Ihrer politischen Thätigkeit wegen und weil man einen geheimen Verkehr zwischen Ihnen und den Arbeitern vermuthet, Gefahr von seiten zweier Männer, die Ihre Gänge überwachen und sich auf's Spioniren gelegt haben. Es wird Ihnen von Interesse sein, das zu wissen. Ich erlaube mir nicht, Ihnen einen Rath geben zu wollen, aber ich bitte Sie, auf Ihrer Huth zu sein, und Sie werden diese Bitte nicht mißverstehen und ihr keine willkürliche Deutung geben.

Wenn Ihre Vermuthungen über die Schreiberin dieser Zeilen, was ja möglich wäre, das Richtige träfen, so geben Sie derselben Ihren Dank dadurch zu erkennen, daß Si: ihr durch keine An­deutung und keinen Wink eine Verlegenheit bereiten, sondern diese Zeilen absolut ignoriren. J. S. D. N.

P. S. Die beiden Ihnen feindlich gesinnten Herren sind Rektor Stord und Weinlich. Wenn Sie im Sinne der Absenderin handeln wollen, so übergeben Sie diese Zeilen den Flammen; ich bin zu dieser Bitte genöthigt, obwohl ich Ihnen für das mir ge­widmete Andenken gern ebenfalls ein schriftliches Erinnerungs­zeichen gewährte."

Wolfgang zündete eine Kerze an und hielt das Blatt in die Flamme, bis das starke, mit Goldschnitt versehene Blatt langsam zu einem verkrausten schwarzen Aschenblatt verbrannt war; er legte dasselbe auf die flache Hand, öffnete das Fenster und blies

1878.

es hinaus in die blaue Abendluft, die es spielend entführte. Der Brief gab ihm Räthsel auf. Die Anspielungen auf muthmaßlich sehr zarte und keine rauhe Berührung vertragende Beziehungen zwischen ihm und der Schreiberin waren ihm vollkommen un verständlich, und er vermochte trotz alles Nachdenkens keinen Sinn in diese geheimnißvollen Andeutungen zu bringen. Er würde unbedenklich ein Mißverständniß angenommen haben, hätte nicht das Thatsächliche der Warnung jeden solchen Gedanken aus­geschlossen. Davon, daß ihm der Rektor und der alte Weinlich auf's bitterste grollten, brauchte man ihn nicht erst in Kenntniß zu setzen, und auch das war für ihn über jeden Zweifel erhaben, daß ihm die beiden häufig nachschlichen; er war ihrer wiederholt in später Stunde auf einsamen Wegen von weitem ansichtig ge­worden, und sie hatten dann jedesmal das ersichtliche Bestreben gezeigt, ihm auszuweichen und sich seinem Blick baldmöglichst zu entziehen. Er hatte das anfänglich für Zufall gehalten, doch allmählich hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrängt, daß hier Absicht und Planmäßigkeit angenommen werden mußten. Es unterlag also, auch wenn die Adresse nicht gewesen wäre, keinem Zweifel der Brief war an ihn gerichtet.

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Nun war es freilich komisch, äußerst komisch, daß man sich so romantische Vorstellungen von seinem geheimen Rathschlagen mit den Arbeitern machte und die Zusammenfünfte mit denselben in des Waldes tiefste Gründe und womöglich in Schluchten und Höhlen verlegte, man hätte es näher und bequemer haben können, denn in Wirklichkeit hatten die vertraulichen Besprechungen, die zur Gründung des kleinen, aber bereits gehaßten, weil in stinktiv gefürchteten sozialdemokratischen Arbeitervereins geführt hatten, im Städtchen selbst und zwar in der Wohnung eines Arbeiters stattgefunden, und Wolfgang hatte es nicht einmal für nöthig gehalten, den Gang dorthin tief vermummit oder auf Um­wegen und durch Nebenpförtchen anzutreten. Immerhin war und blieb die Warmung gut gemeint nicht blos, sondern auch dankenswerth, aber von wem kam diese Warnung? Er wußte keine Antwort auf diese Frage.

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Das Briefchen hatte seine Geschichte. Fräulein Emmy war sich entschieden wichtig vorgekommen, als sie ihre Schreib­mappe zur Hand nahm that sie nicht vielleicht einen folgen­schweren Schritt, indem sie, wenn auch anonym, an Wolfgang schrieb? Sie wählte lange unter ihren Briefbogen; sollte sie

III. 11. Mai. 1878.