Ein Tropfen Blutes zeigte sich auf der Oberfläche der Haut, ein einziger, unbedeutender Tropfen, faum so groß wie eine Erbse. Er wischte ihn mit dem Finger fort und preßte diesen dann einen Augenblick fest gegen die Stelle, an welcher er sichtbar gewesen.

Der Athem des Greises wurde kurz, feuchend, pfeifend. Er hielt ihn einen Moment zurück, richtete seine Gestalt zu ihrer vollen Höhe empor und verließ, ein Lächeln auf den Lippen, festen Schrittes die Zelle.

Die drei Verurtheilten schritten lautlos den Gang entlang. An der Ausgangspforie des alten Klosters fanden sie ein Peloton Kosaken , von welchem sie in die Mitte genommen wurden. Auf dem langen Wege, den die dem Tode Geweihten zurück­zulegen hatten, standen dichtgedrängt zu beiden Seiten Männer, Frauen und Kinder. Dieselben warfen angsterfüllte Blicke auf die an ihnen vorüberschreitenden Gefangenen. Jeder fürchtete einen Verwandten, Freund oder Bekannten unter ihnen zu ent­decken.

Murawiew trieb häufig seine Grausamkeit soweit, daß er die Angehörigen der Gefangenen über deren Schicksal in Ungewißheit ließ. Die ersteren erfuhren gewöhnlich erst dann das schreckliche Loos ihrer Männer oder Väter, wenn diese an ihnen vorüber­kamen, um den Weg nach dem Galgen anzutreten.

Aus der Menge der Versammelten, welche in düsterem Schweigen auf den sich ihnen nähernden Zug schauten, ertönte ein Schrei der Verzweiflung. Flüche und Verwünschungen durch zitterten die Luft.

" Ah!" schrie ein junges Mädchen, indem ein Strom von Thränen sich aus seinen schönen Augen ergoß. Du bist es, Boleslaus Platen, du mein Bräutigam! D, lebe wohl! Deine Wanda wird dir folgen!"

Und obgleich Boleslaus Platen seine Stirn kaum runzelte und seinem Antlig einen kalten Ausdruck zu geben bemüht war, rollte doch eine große Thräne über seine Wangen.

Ja, dort stand sie, von der er noch vor wenigen Stunden so süß geträumt, seine holde Braut, sein Lebensglück, sein Alles! Und sie mußte er zurücklassen in diesem Lande der Knechtschaft, unter den feigen Schergen eines rohen, unwissenden Volkes! Ach, es war ein düsterer, schrecklicher, herzbeklemmender Gedanke!

Der junge Mann preßte die Zähne auf die Lippen, sodaß diese sich blutig färbten. Noch einen Blick warf er auf die an­muthige Gestalt seiner Geliebten, einen einzigen, langen, traurigen Blick, welcher mehr sagte, als tausend Worte. Dann schritt er vorüber.

,, Ladislaus Mickiewicz!" rief ein Jüngling einem kaum dem Knabenalter entwachsenen Gefangenen zu. Auf Wiedersehen, bald, Kamerad!"

" Wo ist der Schlächter von Lithauen?" schrie eine junge, ärmlich gekleidete Frau. Ich will ihm die Augen aus dem Kopfe reißen, dem Schändlichen! Er hat mir den Gatten er­mordet!"

Bestürzung zeigte sich auf den Gesichtern der Umstehenden. Erschreckt, scheu wichen sie von der Verwegenen zurück.

Ein mit einer Knute bewaffneter Stosat stürzte auf die junge Frau zu. Diese wehrte sich aus Leibeskräften gegen ihren An­greifer.

Allein der kräftige Profoß warf sie zur Erde und zählte ihr in rascher Folge ein Dußend Knutenhiebe auf. Sie stieß ein furchtbares Geheul aus und blieb dann wimmernd liegen.

" So, das mag dir einstweilen genügen, mein Herzchen," rief der Kosak mit teuflischem Lachen. Beim nächsten male wird man die Ration verdoppeln."

Er stieß mit dem Fuße den nur leise zuckenden Körper der Unglücklichen bei Seite und eilte dem Zuge der Verurtheilten nach. Derselbe war indeß an der Todesstätte angelangt. Die Todeskandidaten es waren im ganzen neununddreißig boten einer nach dem andern ihren Hals der Schlinge dar. Ihre Körper schwankten wie ein vom Winde bewegter Strohhalm in der Luft.

Siebzehn leblose Körper hingen bereits an eben so vielen Galgen.

Auch Michael Liwinski bestieg die verhängnißvolle Leiter. Er war der Achtzehnte.

Festen Schrittes klomm der Greis Sprosse für Sprosse empor. Kein Muskel seines Körpers zuckte, kein Zug seines Antliges ver­änderte sich, als der Henker ihm die Schlinge um den Hals legte und den Knoten zuzog.

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In diesem Augenblicke klang eine Stimme aus der dicht ver­sammelten Menge von unten herauf, eine gellende, schneidende Stimme, die Stimme eines jungen Mädchens:

Auf Wiedersehen, mein Vater! Auf Wiedersehen!" Der alte Patriot wandte das Haupt der Richtung zu, woher die Stimme gekommen war. Er breitete die Arme aus und segnete seine Tochter Thaddäa.

Die Leiter ward unter seinen Füßen fortgezogen; der Gehilfe des Henkers sprang auf die Schultern des Greises; das Seil spannte sich dicht um den Hals des Opfers; eine Verzerrung des Gesichts dann sanken die noch soeben emporgehobenen Arme schlaff am Körper herab

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Ein anderer Verurtheilter kam an die Reihe.

Als die Uhr auf dem Kirchthurme die neunte Morgenstunde schlug, schwebten neununddreißig Leichname in der Luft.

*

*

Nachdem die Hinrichtung vollzogen war, suchte Thaddäa den Henker auf und überreichte ihm ein versiegeltes Schreiben. Der Henker erbrach es und las die Worte:

,, Vorzeigerin dieses ist nach endgiltig festgestellter Strangu lation der Leichnam des Rebellen Thaddäus Michael Liwinski sofort zu übergeben.

Kowno , 20. April 1863.

Murawiew."

Der Körper des Greises wurde vom Galgen abgenommen und Thaddäa überantwortet. Mit Hilfe eines alten Dieners trug ihn das junge Mädchen in einen breit gehaltenen Wagen und befahl dem Kutscher im Galopp davon zu fahren.

Der Kutscher gehorchte.

Das Gefährt hielt nach etwa fünfzehn Minuten vor einem hölzernen Hause von ärmlichem Aussehen.

Das junge Mädchen und der alte Diener nahmen den Körper Michaels und trugen ihn in ein kleines, im Erdgeschoß liegendes Zimmer.

In demselben befand sich ein Mann von etwa fünfzig Jahren, in welchem man auf den ersten Blick den Juden erkannte.

,, Nun, Doktor," wandte sich Thaddäa an diesen Mann, jezt können Sie Ihr Wort einlösen. Da ist der Körper meines Vaters; geben Sie ihm das Leben wieder."

Der Arzt war bereits zu dem Leichnam getreten. Er ergriff die schlaff herabhängende Hand desselben und hielt sie eine Sekunde lang in der seinen.

Das junge Mädchen hielt in furchtbarer Herzensangst den Blick auf ihn geheftet.

Der Arzt ließ die Hand Michaels sinken und schüttelte be­denklich das Haupt.

Hm," sprach er, der Körper ist schon vollständig erkaltet! Das ist traurig, sehr traurig! Allerdings, die Wirbelsäule ist nicht gebrochen, aber...

Er trat von dem Leichnam zurück.

Aber?" fragte Thaddäa bebend.

Der Arzt antwortete nicht, sondern öffnete einen kleinen, auf einem Tische stehenden Kasten, welcher verschiedene chirurgische Instrumente enthielt.

Er nahm aus demselben eine kleine Zange und eine Röhre, faßte mit der ersteren die Klinge des Skalpels, dessen Spize nur in Größe eines Nadelknopfs aus dem Halse Michaels hervor­ragte, zog das Instrument heraus und führte die Röhre in die dadurch entstandene Wunde.

In diese Röhre, welche kaum die Dicke einer Stricknadel hatte, blies der Arzt stark hinein und zog den Athem an sich. Kleine Partikelchen geronnenen Blutes drangen in seinen Mund.

Der Körper des Greises gab indessen nicht das geringste Lebenszeichen von sich. Sein Hals würde unter dem warmen Athem des Arztes nicht um einen Hauch wärmer.

Eine Ergießung des Blutes nach dem Herzen, wie ich ge= fürchtet hatte," murmelte der Arzt.

Er wiederholte das Erperiment noch einmal, bis feine Blut­kügelchen mehr in seinen Mund kamen. Dann blies er mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft in die Röhre und versuchte mehrere Minuten lang die Funktionen der Lungen in Michaels Körper wieder herzustellen.

Bu spät!" sagte er düster.

Das junge Mädchen stieß einen markdurchdringenden Schrei aus. ,, Mein Gott ! D, mein Gott!" rief es. Sie vermögen also meinen Vater nicht zu retten?"

Der Arzt zuckte die Achseln. Es ist unmöglich, denn es hat eine Blutergießung nach dem Herzen stattgefunden," antwortete er.