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Voltaire und Rousseau   und ihre kulturhistorische Mission.

Beitrag zur hundertjährigen Gedenkfeier am 30. Mai und 2. Juli 1878. Von E. Fehleifen.

selben.

In einer Zeit, da religiöse Verfolgung, Folter, willkürliche Haft, Ungerechtigkeit des Richterspruchs, Erpressung aller Art die täglichen und völlig zu Recht bestehenden Dinge waren, da waren sie es, die mit dem überzeugenden Gefühl tiefster Entrüstung gegen alles, was sie für Mißbrauch hielten, mannhaft Krieg führten, unermüdlich für Aufklärung und religiöse Duldung, für Befreiung und Erleichterung der gedrückten Volksklassen stritten und die verlornen, aber unveräußerlichen Rechte der denkenden Erkenntniß und der angebornen Menschenwürde wiedereroberten. Dies ist bei allen ihren Schwächen ihre Größe, ihre unvergängliche welt­geschichtliche Bedeutung.

Es ist nicht leere Schmeichelei, sondern rich­tige geschichtliche Einsicht, wenn die jüngeren fran­ zösischen   Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts Voltaire   ihren Patri­archen nennen, denn er war der Vater und das Haupt jener Aufklärungs­philosophie, welche so ge=" waltig gegen die Sagungen und Ueberlieferungen der herrschenden Kirche an­kämpfte und die großen Entdeckungen und Anschau­ungen Newtons und Locke's zur allgemeinen Grundlage des Denkens zu erheben suchte.

Die französische   Aufklärungsliteratur des. 18. Jahrhunderts| sequenzen eine festere Grundlage zu geben, sie selbst bleiben die­dokumentirt eine der gewaltigsten Wendungen in der Geschichte des menschlichen Geistes, sie erzeugte eine so tiefe und allgemeine Umwälzung in den Meinungen und Gesinnungen der Menschen, wie eine ähnliche seit der Reformation nicht mehr vorhanden war. Die Gedanken und Forderungen der französischen   Philo­sophen sind aber um vieles kühner und vordringender, rückhalts­loser und unerschrockener. Mit heldenmüthiger und wahrhaft bewundernswerther Energie und Kühnheit, mit der edelsten Selbst­verleugnung und Begeisterung, mit dem kraftvoll einschneidenden Unwillen sittlicher Empörung wenden sich diese Schriftsteller gegen alles, was in Kirche und Staat den Forderungen der Vernunft zuwiderläuft. Mitten un­ter dem elendeſten Druck des firchlichen und welt­lichen Despotismus be­haupten sie die Freiheit und Würde der Menschen­natur. Gegen die Geistes­unterjochung der allein­seligmachenden Kirche dringen sie auf Gedanken­freiheit, auf Liebe und Toleranz; gegen die Be­drückungen der herrschen­den Staatsform auf Besse­rung der Verwaltung, auf Umgestaltung der Ver­fassung, auf Verminderung der Abgaben und Strafen. Der Mensch ist nicht da blos zu Gunsten weniger Bevorzugter, welche vom Schweiße der Armen sich mästen, sondern alle haben gleiches Anrecht auf die Güter dieser Erde, jedem soll Befreiung werden durch die allgemeine Zugänglich­keit der Erziehung und Bildung. Durch die her­vorragendsten Geister jener Zeit geht eine warme und thatkräftige Menschenliebe, eine jugendfrische Begeiste­rung und Opferfreudigkeit für die Sache der Mensch­heit. Die überlebten An­schauungen und Ueberliefe­rungen werden zertrüm­mert wie hohle Gößen und

Voltaire.

dagegen die Vernunft wieder in ihre verlorenen Rechte eingesetzt. Ganz Europa   nahm den lebhaftesten Antheil an den Kämpfen dieser Männer. Allein die allgemeine Gunst, welche das vorige Jahrhundert diesen Philosophen entgegenbrachte, ist jetzt fast in ebenso allgemeinen Haß verwandelt; nach den Gewaltthätigkeiten und Ueberstürzungen der französischen   Revolution hat man sich gewöhnt, über die französische   Aufklärungsliteratur unerbittlich den Stab zu brechen. Man liest und kennt diese Schriftsteller nicht mehr, aber man verleumdet sie; man spricht nicht nur von ihrer Frechheit und Oberflächlichkeit, man sieht in ihnen nur das Produkt eines verwilderten Zeitalters; was sie Gutes und Segens­reiches gewirkt haben, danach fragt man nicht.

Uns fällt nicht ein, ihre großen Fehler vertheidigen oder gar in Abrede stellen zu wollen; sie haben oft nur spottenden Wiz, wo wir sittlichen Ernst und wissenschaftliche Gründlichte ver­langen; aber selbst ihren Irrthümern wohnt ein unverwüstliger Kern von Wahrheit inne, ihrem Denken und Wirken hochherzige Begeisterung und Thatkraft. Es gibt nicht eine Frage der modernen Naturwissenschaft, welche nicht schon von den französi schen Materialisten angeregt und bis zu ihren letzten Konsequenzen verfolgt worden wäre; die heutige Wissenschaft sucht jenen Kon­

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Seinen Charakter be­zeichnet am besten eine Aeußerung Friedrichs des Großen. Während seines Aufenthaltes in Berlin  hatte Voltaire einen etwas schmutzigen Handel mit einem Juden, wobei der Christ und der Jude ein­ander um die Wette be­trogen. Darüber aufge­bracht, schrieb ihm Friedrich: Wenn Ihre Werke Sta­tuen verdienen, so ver­dient Ihr Betragen Ketten­strafe." Voltaire's Cha­rafter war eine seltsame Mischung der größten Tu­

genden mit den größten Lastern. Habsucht, Eitelkeit, Rachsucht finden sich vereint in ihm mit der edelsten Freigebigkeit, der opfer­willigsten Großmuth und der strengsteu Gerechtigkeitsliebe. So räthselhaft ein solcher Charakter bleibt, wenn man blos den Menschen für sich betrachtet, so klar wird uns dieser Mann, wenn wir ihn im Zusammenhange mit seiner Zeit betrachten; seine Fehler erscheinen dann als natürliche Wirkungen seiner Zeit und ihrer Verbildung, theils sogar als Mittel zu ihrer Umbildung. Es war nicht ein reines, ruhiges Licht, dessen die Zeit bedurfte, sondern ein loderndes, funkensprühendes Feuer; es handelte sich nicht darum, eine neue Wahrheit aus den Tiefen der Natur und des menschlichen Geistes heraufzuholen, sondern die erkannte zu verbreiten, sie für die weitesten Kreise verständlich und anziehend zu machen, und ganz besonders alles, was ihre Ausbreitung hin­derte, das Verlebte und Verrottete, Mißbräuche und Vorurtheile Grade in letterer Beziehung war aus dem Wege zu räumen. Voltaire, vermöge seines beißenden und äßenden Spottes, Meister. Er hat die Atmosphäre des menschlichen Denkens von einer Menge fauler Dinste befreit, manche Fessel, die das menschliche Leben beengte, ha er gesprengt oder doch angefeilt; sein Standpunkt ist zwar nicht mehr der unsere, aber wir wären nicht so weit fort­