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ehe man liebgewonnene, durch das Alter geheiligte Gewohnheiten und Institutionen aufgab. So tief ein solches Verlangen in der menschlichen Natur begründet sein mag, so sehr zeugt es doch von kindlichem Unverstand, denn nur auf den Ruinen eines alten, baufälligen Gebäudes kann ein neues errichtet werden, zuerst müssen die alten, wurmstichigen Einrichtungen fallen, ehe die neuen playgreifen können, welchem Gedankent Schiller so schön und treffend Ausdruck verleiht:
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Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit Und neues Leben blüht aus den Ruinen."
Mehr denn je thäte auch unserer Zeit wieder ein Voltaire noth, der mit gleichem Erfolg für Gewissensfreiheit und Toleranz kämpfte, denn der finstere, reaktionäre Geist der Intoleranz wüthet heute ärger als jemals; statt alleinseligmachender Kirchen*) sind es heute alleinseligmachende Parteien, welche das Leben der Völker vergiften und mit einem Hochmuth und einer Anmaßung herrschen, um die sie die fanatischesten Glaubenseiferer früherer Zeiten hätten
beneiden können.
Man hat sich heute daran gewöhnt, mit gewissem, mit Mitleid gepaarten Hochmuth auf frühere Zeiten herabzublicken; kommende Geschlechter aber werden das letzte Viertel des vielgerühmten 19. Jahrhunderts, in welchem ganze Parteien und Bevölkerungsklassen mit beispielloser Wuth und Verachtung verfolgt wurden, gewiß ebenso streng oder noch strenger beurtheilen, als wir die Beiten der Juden- und Keterverfolgungen. Diese eitle Selbstüberhebung unserer Zeit ist gradezu lächerlich, denn wie kann man denn von wirklichem Fortschritt auf geistigem Gebiet reden zu einer Zeit und in einem Lande, da es nicht zu den Seltenheiten gehört, daß Diebe und Gauner aller Art in denselben Strafanstalten sißen und oft nicht anders behandelt werden als die sogenannten politischen Verbrecher, d. h. Männer, welche muthig und offen in Wort und Schrift für ihre Ueberzeugung eingetreten sind! Da, wo die Wahrheiten der Geschichte vollständig verkannt und vernachlässigt werden, kann von keinem Fortschritt die Rede sein, sonst müßte man sich doch sagen: Die Folgen der unglaublichen Verirrung, mit der die Beherrscher Frankreichs jeden Mann von Geist zu ihrem persönlichen Feinde machten und dadurch am Ende die ganze Intelligenz des Landes gegen sich aufbrachten, konnten nicht ausbleiben: die Revolution war nicht mehr eine Sache der Wahl, sondern der Nothwendig keit. Montesquieu aber sagt: Die Verantwortlichkeit fällt nicht auf die, welche Kriege und Revolutionen machen, sondern auf die, welche sie unvermeidlich gemacht haben." Der Einwand, heute handle es sich um etwas ganz anderes, um den Umsturz alles Bestehenden u. s. w., heute sei ja diejenige Wissenschaft, welche vor hundert Jahren verfolgt wurde, vollständig frei, ist nicht stichhaltig; auch jene Philosophen und Aufklärer galten damals für gefährliche Umstürzler, sonst hätte man sie doch nicht verfolgt. In der That handelt es sich heute wieder um dieselbe Aufgabe: durch Besänftigung der Leidenschaften, durch kluge Nach giebigkeit gegen das fortschreitende Wissen, durch freie Gesetze einen verderblichen Zusammenstoß zu vermeiden oder durch den vom Unverstand diftirten Versuch, Ideen durch Geseze zu unterdrücken, statt sich mit diesen Ideen gütlich abzufinden, einen solchen Zusammenstoß erst zu ermöglichen.
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Von bahnbrechender Bedeutung war Voltaire auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung; sein Zweck war, wie er sagte, eine Geschichte der menschlichen Geister zu schreiben und nicht blos eine Chronik kleinlicher Thatsachen, er wollte nichts zu thun haben mit der Geschichte großer Herren, sondern zeigen, durch welche Entwicklungskämpfe der Mensch sich allmählich aus der Barbarei zur Bildung erhoben habe. Diese durch ihn angebahnte Reform frug nicht wenig dazu bei, der Revolution den Weg zu ebnen, indem sie alte Ansichten wankend machte und jenen mächtigen Individuen keine Achtung mehr zollte, die bisher mehr als Götter, Senn als Menschen verehrt worden waren, jezt aber von den größten und populärsten Historikern vernachlässigt oder ganz übergangen wurden, um desto länger bei der Wohlfahrt und den Interessen des ganzen Voltes verweilen zu können.
Auf diese Weise leisteten Voltaire und seine Zeitgenossen der demokratischen Bewegung Vorschub, indem sie die Huldigungen,
*) Welche übrigens immer noch mit dem alten Dünkel auftreten, nur gehen glücklicherweise nicht mehr so viele Schafe in ihre Hürden.
welche frühere Geschichtsschreiber einzelnen gezollt hatten, zerstörten und die Geschichte aus einem Zustand befreiten, in welchem sie eine bloße Aufzählung der Thaten politischer und geistlicher Tyrannen war.
Auf Voltaire's politische Wirksamkeit pflegt man im allgemeinen wenig Gewicht zu legen, man hält ihn vielfach sogar für einen engherzigen Aristokraten; diese Meinung ist aber durchaus unbegründet. Während seines ganzen Lebens huldigte er einer entschieden freisinnigen Richtung; fein andrer als er ist der Urheber und Verkünder des später so mächtig gewordenen Wahl
spruchs:" Freiheit und Gleichheit". Ebenso flar als scharf spricht er sein politisches Glaubensbekenntniß mit den Worten aus: Daß der Mensch frei und alle gleich seien, das ist das allein naturgemäße Leben; jeder andere Zustand ist nur ein unwürdiges, äußerliches Wachwerk, ein schlechtes Poffenspiel, in welchem der eine die Rolle des Herrn, der andre die des Sklaven, dieser die Rolle des Schmeichlers, jener die des Verfolgers übernimmt. „ Nur durch Feigheit und Dummheit konnten die Menschen ihren natürlichen Rechtszustand verlieren." In seinen Briefen an Friedrich II. betont er immer mit Nachdruck, daß alle Menschen von Geburt gleich seien, und bekannt ist sein Wigwort, daß er nur dann an das göttliche Recht der Ritter glauben werde, wenn er sehe, daß die Bauern mit Sätteln auf den Rücken und die Ritter mit Sporen an den Fersen auf die Welt kämen. Bei all seiner Freifinnigkeit blieb Voltaire aber in dem Grundirrthum befangen, alle Befferung nicht von unten, sondern von oben zu erwarten und seine ganze Hoffnung auf jene freisinnigen Regierungsmaßregeln zu sehen, welche man treffend aufgeklärten Despotismus genannt hat. Zum großen Theil aus diesem Gesichtspunkt sind seine Verbindungen mit Friedrich II. , Catha rina II. , Gustav III. und andern fürstlichen Personen zu be urtheilen. Obgleich in diese Verbindungen viele andere, nicht immer reine Beweggründe hineinspielen, und obgleich er in seinen Lobsprüchen und Schmeicheleien nicht selten das erlaubte Maß überschreitet, so ist doch nachgewiesen, daß er in seinen geheimsten Briefen und Mittheilungen an diese Fürsten nie seine politischen Ueberzeugungen und Bestrebungen verleugnete.
Unbedingte Unterordnung der Kirche unter den Staat, Gewissens- und Preßfreiheit, Wilderung der Kriminalgeseze, Besserung des Volksschulwesens, gerechte und gleichmäßige Steuervertheilung- diese und ähnliche Forderungen wiederholt er fort und fort, gleich unterschrocken gegen den gewaltthätigen Druck eines absoluten Königthums, wie gegen die Privilegien des übermüthigen Adels und den finstern Eifer der herrschsüchtigen Geistlichkeit. In der Religion ein begeisterter Kämpfer für Aufklärung und Duldung war Voltaire in der Politik derselbe unerschrockene Kämpfer für reine und freie Menschenliebe, für Milde und Gerechtigkeit.
Nicht blos im politischen und religiösen, auch im gewöhnlichen Leben war er der Bekämpfer des Fanatismus, der Rächer des verletzten Gesetzes, der Freund und Beschüßer der Verfolgten und Bedrückten. Hiefür nur ein Beispiel: Nachdem der katholische Fanatismus an einem Reformirten, Namens Salas, einen Justizmord begangen und dessen Familie der Schande und dem Unglück überliefert hatte, war es Voltaire, der drei Jahre lang unermüdlich in dieser Sache kämpfte; er rief die öffentliche Meinung der ganzen gebildeten Welt an, Paris , ja ganz Europa ergriff Partei und verlangte Gerechtigkeit. Der Urtheilsspruch wurde für falsch erklärt, die Ehre des geräderten Vaters wieder hergestellt und der Familie eine Entschädigung überwiesen.
Um auch seiner Leistungen als Dichter und Romanschriftsteller zu gedenken, so sei erwähnt, daß Voltaire seine glänzende Laufbahn als Dichter begann und als solcher zunächst auch berühmt wurde; seine Gedichte, Romane, dramatischen Werke alle sind voll Geist und Witz und übten auf seine Zeit eine außerordentliche Wirkung aus, heute sind sie aber ziemlich in Vergessenheit gerathen, unsere in Bezug auf religiöse Verfolgungswuth fortgeschrittene Zeit hat natürlich nicht mehr dasselbe Interesse an diesen Schriften, in welchen Voltaire seinen beißendsten Spott in Anwendung brachte, religiösen Wahnsinn zu bekämpfen.
Troy aller Mängel bleibt Voltaire einer der hervorragendsten und der am mächtigsten wirkenden Geister aller Zeiten. Nicht das, was er unmitielbar schriftstellerisch erzeugte, ist das Maßgebende, sondern die Fülle des Lichtes, das er überall entzündete und das leuchtete von den höchsten Kreisen bis herab in die Hütten des Volkes. Kein anderer Schriftsteller irgend einer Nation hat so viele gesunde Gedanken in der ganzen Masse eines