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Modern- russische Zustände.

Vor uns liegt ein englisches Buch," The Russians of to- day" Die Russen von heute, aus dem wir den Lesern einiges erzählen wollen, zur Belehrung sowohl als zur Unterhaltung. Der Ver­fasser, E. C. Grenville Murray , ist ein in der englischen sowohl als auswärtigen Literatur durch verschiedene Werke( z. B. French Pictures in English Chalk") bereits ehrenvollst bekannter Autor, der feinsten Beobachtungssinn mit gründlich umfassenden Kennt­nissen vereinigt und diesen einen tadellos geschliffenen Stil hin­zufügt*).

Sollte manches un­glaublich klingen- je nun: relata refero, ich erzähle nur Erzähltes; sollte anderes gar grell und traß klingen, so bitte ich festzuhalten, daß ich überall nur in knappster Kürze streng nach dem Original wiedergebe.... Greifen wir denn' frischweg hin­ein, in's volle Menschen­leben," das ja, nach dem Worte eines ge­wissen Goethe, überall, ,, wo man's packt, inter­essant ist." Einen eigent­lich systematischen Zu­sammenhang zwischen den 35 Kapiteln des Buches kann ich nicht entdecken, ich binde mich daher auch nicht an die Reihenfolge derselben, zumal ich mich auf ver­schiedene ohnehin nicht weiter einlassen kann. Bevor wir das Buch aufblättern, nur noch eine flüchtige Bemerkung darüber, warum wir uns grade dieses zum Erzählungsthema ge= wählt haben. Deswegen nämlich, um dem Bu­blikum, soweit es da­von noch nicht genügend wissen sollte, den mög­lichst vollen Begriff von der Berechtigung zu geben, mit der Rußland das Banner der Be­freiung der unterdrück ten Christen" wehen ließ, und den möglichst vollen Begriff von dem Werth der europäischen Diplomatie, die das geschehen ließ. Das könnte hochtendenziös

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erscheinen, je nun: um so untendenziöser ist das Werk selbst gehalten, und ich erinnere nochmals daran, daß ich nur, streng getreu, Erzähltes erzähle.

*) Da der Verfasser nachstehenden Aufsatzes auf Wunsch der Re­daktion dieses Blattes von Zeit zu Zeit eine kurze Revue der neuesten englischen schöngeistigen Literatur zu bringen gedenkt, so sei hier vorn­weg bemerkt, daß die Engländer es namentlich verstehen, in aller Schlichtheit und Nüchternheit, ohne allen idealistischen Doktrinarismus, tüchtige kulturhistorische Gemälde zu entwerfen, die den Deutschen immerhin zum Muster dienen können. Der wahre Idealismus der Darstellung ist es eben, das reine. Wesen des Gegenstandes zu ent­rollen. Ich wüßte z. B. kein deutsches Werk, das Tirol und die

Da es hier nicht darauf ankommt, wie in einem Roman zu spannen, so darf ich wohl gleich mit einem der interessantesten Kapitel anfangen, das eine ganze abgerundete kleine Geschichte enthält. Ist doch die Geschichte( das Leben) romantischer als jeder Roman" und eine Steigerung demzufolge nicht aus­geschlossen.

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Also: Herr Otto Dicker, Hotelbesiger in K., Provinz Charkow ,

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erhielt eines schönen Morgens von dem Hausverwalter Seiner Ehrwürden des Archi­mandriten( Art Erz­bischof) der Stadt ein Päckchen falscher Bank­noten als Zahlung für eine größere Weinliefe ein rung. Dicker Deutscher war zu­vorsichtig, und das war sein Unglück. Ein Russe hätte das Geld ruhig weiter begeben, er aber ging zu dem Verwalter, welcher glattweg leug­nete und Herrn D. schließlich aus dem Hause spediren ließ. Alsbald fand sich in seinem eignen Hause ein Po­lizeioffizier mit zwei Untergebenen ein, der Herrn D. wegen Nicht­anzeige des Empfanges falschen Geldes bei dem Polizeiamte zur Rede stellte. Statt nun so­fort wieder die richtige Praris einzuschlagen und dem Beamten bei einer Flasche vom besten eine anständige Anzahl ächter Banknoten in die Hand zu eskamotiven und mit den Gehülfen es ebenso zu machen, wobei alles zur Zufrie denheit abgelaufen wäre, war D. so unpraktisch, schlechter Laune zu sein, und der Polizeivorge­setzte erklärte ihm daher kategorisch, er müsse das Haus durchsuchen lassen, das denn auch in we­niger als einer Stunde wie geplündert aussah. Die Fässer wurden lau­fen gelassenes konn­ten ja Fälschungsappa­rate darin sein. Dickers baares Geld, Gold- und Silbersachen wurden

zusammengepackt, und Marsch!" hieß es in's Gefängniß. Das Straßenpublikum aber freute sich nicht wenig, einen Deutschen in Schwulibus zu sehen. Zu den Annehmlichkeiten der Gefängniß­zelle Dickers gehörten rieselnde Wände und heranhüpfende" Ratten. Die Obrigkeit gedachte ein Exempel für Verausgabung falschen Geldes zu statuiren; man ließ ihn die Silberminen Sibiriens in Tiroler"- einen für einen Engländer gewiß sehr schwierigen Gegen­stand so meisterhaft und erschöpfend behandelt hätte, wie vor un­gefähr Jahresfrist Baillie Grohman. Kein Berliner z. B., nebst wohl noch millionen anderer Norddeutschen, wäre im Stande gewesen, sich in diese Volksseele so ganz hineinzuleben und sie so treu wiederzuspiegeln, Der Verf. wie dieser Engländer.