uns erlebt und uns so unverlierbar erworben haben. Wo das nicht der Fall ist, gleicht ein tiefes, weises Wort einer nach allgemeinem Uebereinkommen vollwerthig angenommenen Münze, deren Gepräge aber abgeschliffen ist und die nicht selbst ihren Werth und ihren Metallgehalt anzeigt. Stufenweise müssen wir von den ersten Voraussetzungen an die ganze Gedankentette noch einmal durchlaufen, um zu dem wirklichen Besitz des Wissens zu gelangen!
Nach der Grimm'schen Sammlung, die einen durchschlagenden Erfolg hatten( 1873 erschien der großen Ausgabe zwölfte Auflage), erschienen noch eine Unmasse von Märchensammlungen, theils ächte, theils Kunstdichtungen. Als ein wirkliches Prachtwerk, tüchtig und solid ist die Bechstein'sche Sammlung mit den präch tigen Holzschnitten nach den Zeichnungen des vortrefflichen Ludwig Richter , ein Familienbuch im schönsten Sinne des Wortes.
Aus allen Ecken und Enden der Erde wurden jetzt Märchen zusammengetragen, von Pol zu Pol wurde gesammelt, aber selten finden wir ein Buch darunter, welches sich dem Grimm'schen Werke würdig an die Seite stellen kann, feines, welches dieses gar überträfe. Leute von Fach, Forscher der deutschen Sprache und Literatur haben manches dankenswerthe geleistet, selten aber ist eben ein sinniges, poetisches Kindergemüth mit strengwissenschaftlichem Scharfblick so innig vermählt, wie es bei den beiden Altmeistern der Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur der Fall war.
Ueber die poetische Berechtigung des Märchens sind also wohl alle einig. Anders stellt sich die Sache bei der Frage nach dem pädagogischen, dem erziehlichen Werth des Märchens. Die neuere Erziehungslehre hat sich vielfach gegen das Märchen ausgesprochen, aber diese ganze feindliche Agitation hat ihren Grund in einer zu einer gewissen Beit allerdings vorhanden gewesenen Ueberschätzung dieser Dichtungen seitens schöngeistiger Pädagogen, welche nicht verfehlen konnte, eine Reaktion im märchenfeindlichen Sinne nach sich zu ziehen.
Sehen wir uns die Gründe, welche die Märchenfeinde in's Feld führen, genauer an. Das Märchen, sagt man, behandelt das Wunderbare, Uebernatürliche als etwas ganz Gewöhnliches, als sei es so in der Ordnung, und beeinträchtigt die sich im Kind allmählich entwickelnde Urtheilsfähigkeit. An wen aber soll sich die Poesie aus dem Kindeszeitalter der Völker wenden, wenn nicht an die Kinder? Mir fällt dabei ein neuerer Humorist ein, der den Vorschlag macht, in dem Zeitalter der so fortgeschrittenen Naturwissenschaft, in der Aera der Spektralanalyse, in einer Zeit, wo die zu festem Körper verdichtete Luft Münchhausens Realität gewonnen hat, dürfe man nicht mehr singen: Wie schön leuchtet uns der Morgenstern", sondern nur Wie schön leuchtet uns das Natrium"! Ein Zeitalter aber, in welchem die Entfernung des konfessionellen Religionsunterrichts aus den Volksschulen immer noch frommer Wunsch bleibt, hat nicht das Recht, hat nun und nimmermehr das Recht, dem Märchen seine Existenzberechtigung abzusprechen, es den Kindern ich möchte geradezu sagen vorzuenthalten.
Das Märchen soll nicht lehrreich, nicht unterrichtend genug sein! Der ältere deutsche Name solcher früher gerade für das findliche Alter für recht geeignete gehaltenen Geschichten ist spel, d. i. Spiel, und als Spiel muß das Märchen eben auch vom pädagogischen Standpunkt aus betrachtet werden; es soll eben hier die sonst ja leider mit aller Gewalt in den Hintergrund gedrängte Phantasie zur Geltung kommen und ihr Spiel treiben; das Märchen soll, wie man gesagt hat, wie mancher Traum das Gefühl der dichterischen Befreiung von den gewöhnlichen Naturschranken bereiten. Und für diesen poetischen Reiz hat die Jugend eine feine Empfindung:" die Kinder, sie hören es gerne!"
Der alte Römer Quintilian , der in seinem Unterricht der Beredsamkeit auch die früheste Jugenderziehung berücksichtigt, tritt für das Märchen ein. Aus dem fünfzehnten Jahrhundert ist uns eine Anleitung zur Erziehung der fürstlichen Knaben am bairischen Hofe erhalten, wo es über unsren Gegenstand folgendes maßen lautet: Bum fünften mal in verhengen( ihnen gestatten) zimliche spil and in sagen etlich historien und märlin, mit welchen sy Lust haben und allermeist denn, wann sie anhebend zu erkennen die bedüttung der wortt.... man soll den kindern lust machen mit spil und mit etlichen mären: wan das messigspiel, das ziemt den findern, darum wann in messige spilen ist ain messige erwegung ( Bewegung, Erholung), mit welcher gemitten wird die trakheit.... Och soll man den kindern etlich merlin sagen, historien oder etlich ersame lieblin sol man in singen."
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Man sollte doch der Jugend, die bei unserer modernen Erziehungsweise aus verschiedenen Ursachen um das gebracht wird, was der Jugendzeit seine Poesie verleiht, nicht das letzte Stückchen von diesem Artikel im Märchen vollends noch rauben, wenn auch vom schulmeisterlichen Unfehlbarkeitskatheder dagegen gedonnert werden mag. Von diesem Kombiniren der Elemente der wirklichen Welt zu Erscheinungen, die nirgends unter dem Monde vorkommen, wird das kindliche Gemüth mächtig angezogen, es baut sich aus bekannten Vorstellungen selbst eine ganz neue Welt auf und übt damit den natürlichen kindlichen naiven Entdeckungstrieb, natürliche naive Dichterlust, die mehr oder minder eben jeder unter normalen Verhältnissen empfindet.
Wenn bisjetzt nur von der blosen Unterhaltung die Rede war, von dem ausruhenden Sichgehenlassen des Geistes bei der Beschäftigung mit den Märchen, so ist das aber nicht das einzige. Das Kind, welches noch ziemlich anschaulich denkt, was der höher kultivirte Mensch, der immer mehr mit abstrakten Begriffen operirt, leider immer mehr verlernt, was eine überstiegene Philosophie bei ihren Spekulationen sogar für verwerflich hält, übt an diesen Erzählungen die Fähigkeit und Kraft des Vorstellens, und das ist nach unserem Dafürhalten von ganz bedeutender Wichtigkeit. Die Fähigkeit des anschaulichen Denkens, von dem wir sprechen und dessen Abhandenkommen wir beklagen, ist eine Eigenschaft gerade der hervorragendsten, d. H. am normalsten entwickelten Geister; so rühmte Heimroth an Goethe, daß er so anschaulich denke, und Goethe, der sehr viel über sich selbst reflektirte, spricht in einem kleinen Aufsatz davon, wie er durch dieses einzige geistreiche Wort bedeutend angeregt worden sei.
Ein andrer, wohl ernster zu erwägender Umstand ist der, daß oft grausige, unheimliche Dinge in den Märchen vorkommen, die geeignet seien, übermäßige Furchtsamkeit in den Kindergemüthern hervorzubringen. Die Furcht, eine ganz natürliche Empfindung, absolut auszutreiben, dürfte keiner Erziehungsmethode gelingen. Verfasser gesteht gern zu, daß eine besonders gefährliche Situation, das plögliche Wahrnehmen eines Abgrundes, ein scheinbar unvermeidlich drohendes Unglück, welches er sich oder andern bevorstehen sieht, jene krampfhafte Empfindung, die man Furcht nennt, in ihm hervorbringt. Er hält aber diese Nervenreaktion für ebenso natürlich, wie die Empfindung von Frost bei einem hohen Kältegrad, wie das Schwizen bei großer Hize. Freilich darf auch hier das Allzuviel nicht plazgreifen: nervöse Ueberreizung ist absolut zu vermeiden. Aber wir möchten fast glauben, die jeweilige Beschäftigung mit düsteren Bildern wirke abhärtend und schüße vor einer solchen krankhaften Sensibilität, wie ja Goethe als straßburger Student den Schwindel ablegte, indem er sich auf dem Münster oft auf die höchste, äußerste Galerie des Thurmes stellte, und den Efel durch häufiges Beiwohnen bei Sektionen bewältigte. Wieweit diese Ansicht subjektiv ist und nicht auf allgemeine Geltung Anspruch machen darf, wissen wir nicht, wohl aber erinnert sich Schreiber dieser Zeilen aus seiner Jugend, daß er oft mit Lust Schillers Geisterseher und ähnliche Sachen, und oft tief in der Nacht gelesen hat, eben mit der bewußten Absicht, im Gegensatz zu jenem Hans im Märchen, das„ Gruseln" zu verlernen, und er kann sich erinnern, daß er wirkliche Erfolge in dieser Richtung aufzuweisen hatte.
Hierher scheint uns auch die Stelle aus dem zweiten Theil des" Faust" zu passen. Der Zauberschlüssel, den Faust von Mephistopheles empfängt, soll ihn zu den räthselhaften Müttern" führen. Faust erschrickt über das Wort:
"
Den Müttern? Trifft's mich immer wie ein Schlag! Was ist das Wort, das ich nicht hören mag? Mephistopheles :
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört? Willst du nur hören, was du schon gehört? Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge, Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge.
Faust:
Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl vertheure*), Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.
Das fällt zum Theil zusammen mit einer späteren Bemerkung Goethe's, daß nur Erstaunen und Bewunderung in das Heiligthum der Kunst führen und jeder, der einmal mit Lust und nach seinem Empfinden mit Glück produzirt hat, der hat in der Stunde
*) verleide, nach Düngers Erklärung.