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Hand im Spiele gehabt. Die Besserfituirten leben in, mindestens 20 Werst von einander entfernten, Dorfkolonien von nicht mehr als 200 männlichen Seelen, mit 40 Mann und 3 Offizieren Be­deckung. Diese sowohl als die Bopen sind gleichfalls Sträflinge. Verkehr unter den Straffolonien ist nicht gestattet. Hart ist namentlich folgende Bestimmung. Mitgenommene Töchter müssen im 20. Jahre entweder nach Rußland   zurückkehren oder einen Verbannten heirathen und sich in Sibirien   niederlassen; ebenso müssen die erwachsenen Söhne zur Armee abgehen und die Eltern wissen, daß sie die Kinder nie wieder sehen. Die über 10 Jahre in Sibirien   verbracht haben, erhalten fast niemals Be­gnadigung, weil sie zu viel zu erzählen hätten." Begnadigungen erfolgen überhaupt nur aus purer Laune und haben mit der Natur des Vergehens nichts zu thun. Die( wieder karavanen weise) Entlassenen haben erst einige Jahre unter polizeilicher Auf­sicht zu leben, ehe sie in die Heimath zurückkehren dürfen, was von ihrer totalen Verschwiegenheit abhängt. Alles flieht sie an ihrem Aufenthaltsorte wie Aussäßige, indem man sich durch bloßes Sprechen mit ihnen zu fompromittiren fürchtet. Das entseßlichste ist das der in die( Silber- und Quecksilber-) Minen Verdammten: verworfenster Auswurf und politische Verbrecher" von edelstem Schlage. Wer irgend kann, erkauft sich seine Ver­wendung zu leichterer Arbeit. Nie wieder erblicken jene das Licht des Tages, bis sie in's Siechenhaus heraufgeschafft werden, da­selbst zu sterben. Fürst Jos. Lubomirski, der die Erlaubniß er­halten hatte, die Minen zu besichtigen( und von dem man sich dessen nicht versah!), hat in französischer Sprache einen grauen­erregenden Bericht über das geschrieben, was er gesehen. Zu Gerippen abgemagerte, vollständig enthaarte, knochenfraßbehaftete Menschen( von den Wirkungen des Quecksilbers) wurden unter Beitschenhieben zu schwerster Arbeit angehalten. Zwei Feiertage ( Weihnachten und Ostern) im ganzen Jahre, fein Sonntag! Dreißigjährige Leute sind in fünf Jahren buchstäblich zu Greisen geworden. Den Frauen geht's um fein Haar besser. Dußend­weise hat man polnische Edeldamen dort unten verfaulen lassen, sie lebten als freie Kolonisten". Es muß ausdrücklichst hervor gehoben werden, daß schwere Arbeit in Sibirien   allemal gleich­bedeutend ist mit einem( nur unendlich grausameren) Todesurtheile und die russische   Regierung weiß das nur zu wohl, heuchelt aber wie in allen offiziellen Berichten." Dafür aber kommt wöchentlich ein Pope mit den Tröstungen der Religion", zur Geduld" er mahnend! Gleichzeitig betreibt er einen kleinen Handel mit Wuttky, und dieser ist der einzige wahre Trost der Bergwerks­sträflinge. Des Lebens Bestes ist Trunkenheit!"

Die russische   Gesellschaft" hat auf den ersten Anschein etwas ungemein einnehmendes an dem Urtheile des Fremden ist dem Russen alles gelegen. Russische   Gastfreundschaft ist wahrhaft blendend, russische Feste und dergleichen übertreffen alle sonstwo gegebenen. Der Russe ist gar freisinnig, er ist bescheiden und spricht mit großer Demuth von dem weiten Zurückstehen Ruß­ lands   hinter andern Ländern; er ist perfekt gebildet, mit den neuesten politischen, nationalökonomischen und sozial- philosophischen Theorien vertraut. Aber schon nach etwa 14 Tagen gewinnt diese Medaille ein anderes Antlig. Der Ausländer erkennt ungemein viel Schauspielerei in allen Gesellschaftskreisen, und der dritte Eindruck nach ungefähr einem Monat hat ihn belehrt, daß er eine ungewöhnliche Anzahl von Unwahrheiten zu hören bekommen hat. Hinter jener Demuth" verbirgt sich ungemessener Stolz: Kritik seiner heimischen Zustände, die der Russe anscheinend er­muthigt, erregt seinen Groll. Vertraulicher geworden und er wird das früher als einem angenehm läßt er die Maske fallen und prahlt mit brutalster Plumpheit: Alles ist am besten in Ruß­ land  ! Den Despotismus gibt man nur deswegen zu hassen vor, weil man weiß, daß er im Auslande unbeliebt, sich daher lächer­lich zu machen fürchtet. Dies Freisinnigscheinenwollen ist auch häufig der Grund der zahlreichen Verschwörungen", in die der Russe hineintaumelt und die alle fläglich scheitern. Ja, man schwatzt in Gesellschaftskreisen von einer bevorstehenden Revo­lution", wie von einem morgigen Balle". Diese Verschwörereien haben übrigens noch einen andern Grund: Beamtenthum und Polizeimacht sind, die hohen Paradestellen ausgenommen, ganz in den Händen der Deutschen  ; das ist dem Russen, obwohl der ächte Moskowite das Land garnicht energisch verwalten könnte, sondern es unter seinen Händen in Stücke ginge", nichtsdesto­weniger ein Dorn im Auge, und nur thui er so, als ob er seinen Kaiser aus den Fesseln jener Regierungsbande befreien wolle höchst loyale Verschwörung! Jenes Aufait- fein in Politik,

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die Mode und ist daher

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sozialwissenschaftlicher Ethik 2c. ist reine Modesache betet der Russe der höheren Stände geradezu an nur dünner Firniß. Firniß seine Sprachkenntnisse, sein( übrigens seltener) Kunstenthusiasmus. Der Russe ist der am schwierigsten zu unterrichtende Mensch, denn er behauptet alles zu wissen; und es ist sehr schwierig, von ihm etwas zu lernen, denn er erfindet ( lügt) mit niemals verlegener Recheit." Der wahre Takt fehlt dem Russen: er nimmt z. B. keinen Anstand daran, seinem Gaste oder gar einer Person in seinem Solde, im Spiele folossale Summen abzunehmen. Summen abzunehmen. Der russischen höheren Gesellschaft fehlt aller und jeder moralische Halt, wie schon aus ihrer absoluten Respektlosigkeit vor der Wahrheit hervorgeht. Der wahre humani­täre Bildungsstand, sagt Grenv. Murray treffend, zeigt sich aber in der Behandlung politischer Verbrecher: kein Russe hat auch nur eine Ahnung davon, daß das Strafmaß sich nach dem Grade des Vergehens richten müsse. Drückt man seine Verwunderung über die jahrelange Untersuchungshaft jemandes aus, so heißt es ganz naiv:" Nun ja, er ist aber auch der Verschwörung geklagt!" Als Grundursache der Verderbtheit der russischen Gesellschaft gibt Verfasser das gerade ihren reichsten Mitgliedern aufgezwungene Nichtsthun an; denn da sie in keiner politischen oder sozialen Reform die Initiative ergreifen dürfen, so verzehrt sie tödtliche Langeweile und nun müssen Ausschweisungen aller Art die Leere ihres Daseins ausfüllen, und dies oft umsomehr, mit je glänzenderen Anlagen manche ausgestattet sind. Nichts­destoweniger glimmt's überall unter der Asche, denn wenn die Russen wirklich einmal darauf verfallen, nachzudenken, so denken sie Uebles von ihrer Regierung." Die kindische militärische Gloire ist es hauptsächlich, die künstlich genährte Nationaleitelkeit, die für alle die furchtbaren, abnormen Mißstände entschädigen muß und die großen Kinder bei leidlich guter Laune erhält! Denn die Russen haben die größte, schönste, beste Armee der Welt," was nicht hindert, daß andere Nationen auch eine solche haben. Aber man lasse den Czar nur einmal gründlich geschlagen sein- und es wird sich zeigen, daß die nationale Unzufriedenheit keine oberflächliche Sache ist."

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So, lieber Leser, sieht's in Rußland   aus, und dabei könnte ich noch zehnmal mehr erzählen!*) Aber das Allerwichtigste glaube ich mitgetheilt zu haben, was Murrays Werk enthält. Und fragst du dich, Leser, mit einer Stelle im" Faust": Das liebe heil'ge­russische Reich, wie hält's nur noch zusammen? so lautet die Antwort: Wie überhaupt alle Reiche" von heutzutage: Dank dem noch bei weitem nicht entwickelten Selbstbewußtsein der Völker, demzufolge sie sich nicht selbst organisch angehören wollen und tönnen, sondern einen höheren Halt außer sich suchen.

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Das Volk in seiner Ursubstanz ist auch in Rußland   nicht gerade schlecht, wie denn das elementare Sein das überhaupt nicht sein kann. Man kann sich der Erwägung nicht verschließen, daß ein Volk, welches sich, nach der einen Seite, so unendlich geduldig zu seinem eigenen Ungemach mißbrauchen läßt, auch nach der andern Seite, zu seinem eigenen Vortheile und Wohlsein richtig angeleitet, die gedeihlichste Entwicklung nehmen dürfte. Voltsseele ist wie Kindesseele bildsamer Stoff, dort- und dahin lenkbar. Warum sollten die Leute arbeiten," sagt der Verfasser von Bauern eines Dorses, die früher sämmtlich Leibeigene eines Fürsten waren, da man sie nie gelehrt hat, daß Arbeit nut­bringend sei?" Als Leibeigene schanzten sie nur für ihren Herrn und jemehr sie schanzten, desto mehr wurde aus ihnen heraus­gepreßt jetzt ist die Leibeigenschaft aufgehoben und mit ihr gepreßt zugleich hält der Freigelassene die Tage der Arbeit für vorüber. Was ist daran zu verwundern? Er würde ja arbeiten, würde ihm Arbeit geboten;" indolent wie die Leute sind, sind sie rührig genug, wenn sie sich ein Zehnkopekenstück verdienen können." Und im übrigen hat der Mann eine schlaue Ahnung davon, daß er durch die Verbesserung seiner Lage nur für den Steuereintreiber gearbeitet hätte!"

Ob aus solcher Korruption eine moralische Wiedergeburt mög­lich oder totales Verkommen und schließliche politische Auflösung und Vernichtung unvermeidlich ist wer vermag das mit einiger Sicherheit vorauszubestimmen?

Reviewer.

* Ich habe nur kulturhistorisch Werthvolles zur Sprache gebracht: von gewissen politischen Tagesfragen habe ich daher abgesehen. So 3. B. habe ich den jüngsten russisch  - türkischen Krieg beiseite gelassen, da ja, wie es ,, keinen Staatsmann in Europa   gibt, der nicht gewußt hätte, daß der Vorwand zu jenem, von Seiten der blutbeflecktesten Regierung der Welt, ein fauler war", auch jeder Urtheilsfähige aus dem Publi­tum dies wahrlich zur genüge weiß.