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Die Kindersterblichkeit.

Besprochen von Maximilian Schlesinger.

Wenn wir es unternehmen, die Aufmerksamkeit der Leser auf die Sanitätsverhältnisse im Kindesalter zu lenken, so sind wir uns der Schwierigkeit unsrer Aufgabe wohlbewußt. Die Statistik, auf deren Hülfe wir ausschließlich angewiesen sind, ist eine gegen wärtig noch so unentwickelte Wissenschaft, daß trotz der großen Verdienste, welche sich geniale Männer der Neuzeit um dieselbe erworben haben, ihre Resultate zumeist nur bedingte Zuverlässig keit befizen und Schlußfolgerungen auf die politischen und wirth schaftlichen Aufgaben nicht immer gestatten. Die Kenntniß dieser Thatsache muß uns daher die größte Vorsicht überall da zur Pflicht machen, wo unser subjektives Urtheil zur Auslegung der gewonnenen Zahlen schreitet.

Wenn man den Einfluß, den die Berufsbeschäftigung des Menschen auf seine Lebensdauer ausübt, kennen lernen will, so muß man zuvördarst wissen, wie hoch das Lebensalter ist, welches von den Menschen durchschnittlich erreicht wird. Der Unterschied zwischen dem allgemeinen Durchschnitt und der Altersstufe in dem speziellen Berufszweige gewährt alsdann einen ersten Einblick in die schädlichen oder nüßlichen Folgen der Arbeitsthätigkeit. Die mittlere Lebensdauer einer Bevölkerungssumme berechnet man, indem man die Anzahl der Jahre, welche alle beobachteten Per­sonen alt wurden, durch die Zahl der Personen dividirt. Dieser Altersdurchschnitt ist nicht in allen Ländern gleich, die mittlere Lebensdauer des männlichen Geschlechts schwankt in den civili­sirten Staaten nach den neuesten Berechnungen zwischen 35 bis 40, die des weiblichen zwischen 38 bis 42 Jahren. Es wird viel darüber gestritten, ob die Lebensfähigkeit der Menschheit sich im Laufe der Jahrhunderte erhöht hat. Sicher ist, daß es in der Vergangenheit Perioden gab, in welchen infolge von ver­heerenden Kriegen oder Seuchen die mittlere Lebensdauer geringer war, als gegenwärtig. Indessen neigen die bedeutendsten Stati­stiker zu der Ansicht, daß, abgesehen von allen vorübergehenden Störungen, die Lebenskraft der Menschheit heut vielleicht geringer, jedenfalls aber nicht höher ist, als in den verflossenen Zeiträumen. Wenn wir die mittlere oder wahrscheinliche Lebensdauer kennen, so ist uns einer der Faktoren gegeben, von welchen das Wachs­thum der Bevölkerung abhängt; wenn beispielsweise die mittlere Lebensdauer 35 Jahre beträgt, so wissen wir, daß von allen gleich zeitig gebornen Menschen die Hälfte nach vollendetem 35. Lebens­jahre gestorben sein wird.

Um die Genauigkeit der festzustellenden Thatsachen zu sichern, sucht man die Berechnungen auf möglichst zahlreiche Personen und möglichst lange Zeitperioden auszudehnen, und vermittelt gewisse Durchschnittsziffern, die man alsdann mit einander zu vergleichen hat, um Rückschlüsse auf allgemeine öffentliche Verhältnisse aus ihnen entnehmen zu können. Um die Sterblichkeitsgrade in den einzelnen Städten und Ländern zu erkennen, bedient man sich eines feststehenden Begriffs, der allgemeinen Sterbeziffer. Diese erhält man, wenn man die Zahl der innerhalb eines Jahres ge­storbenen Personen um das tausendfache vermehrt und das Pro­dukt durch die Gesammtzahl der Bevölkerung dividirt. Hierdurch wird die Jahressterblichkeit durchweg gleichmäßig pro tausend Einwohner berechnet; um die Uebersichtlichkeit noch weiter zu er­leichtern, wird auch für die einzelnen Monate oder Wochen stets die allgemeine Jahressterblichkeit festgestellt, indem man annimmt, die betreffende Monats- oder Wochensterblichkeit daure das ganze Jahr in gleicher Weise fort. Vermittels dieser Methode kann man nach einheitlichem Grundsaze kontroliren, in welchem Maß­stabe die Bewegung der Bevölkerung in verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sich entwickelt hat. Wenn z. B. in einer Stadt von 200,000 Einwohnern 7300 Personen im Laufe des Jahres gestorben sind, so ist die Sterblichkeitsziffer gleich 362. Dieselbe Ziffer würde man erhalten, wenn in dieser Stadt im Verlaufe einer Woche 140 oder während eines Monats 608 Per­sonen verschieden sind.

In ähnlicher Weise berechnet man eine allgemeine Geburts­ziffer, um das Verhältniß der Summe der innerhalb eines Jahres Gebornen zur Gesammtzahl der Einwohner zu erkennen. Auch hier ist die Reduktion der Bevölkerung auf die Zahl 1000 neuer­dings üblich, während die älteren Statistiker diejenige Anzahl von Personen, auf welche durchschnittlich je ein Neugeborner fam, zur Geburtsziffer machten. In der neueren Statistit zeigen Geburts

und Sterbeziffer somit den Promillesatz der Geborenen resp. Gestorbenen an, während sie früher zeigten, wieviel lebende Einwohner auf je einen Geborenen resp. Gestorbenen kommen. Geburts- und Sterbeziffer haben für die Beurtheilung der so­zialen Verhältnisse die entgegengesetzte Bedeutung, je größer die Geburts- und je kleiner die Sterbeziffer( im neueren Sinne) sind, um so günstiger ist die Lage der Bevölkerung. Die Differenz zwischen Geburts- und Sterbeziffer ergibt die faktische Vermeh­rung, beziehungsweise Verminderung der Einwohnerzahl. Eine eigenthümliche, aber nicht schwer zu erklärende Erscheinung ist es," daß jede Zunahme der Geburtsziffer sofort eine relativ vermehrte Kindersterblichkeit zur Folge hat, gleichsam als wenn Wappäus sagt der Werth eines Kindeslebens im umgekehrten Verhältniß zu seiner Häufigkeit stehe, oder als wenn die Natur bestrebt wäre, um so weniger von den Neugeborenen zugrunde gehen zu lassen, je geringer ihre Zahl in einer Bevölkerung ist."

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wie

Im großen und ganzen ist die Bewegung der Bevölkerung eine stetige und gleichmäßige, und selbst in den Schwankungen ist Regelmäßigkeit nicht zu verkennen. Die Zahl der Geburten wechselt nach der Jahreszeit und ist am größten in den Monaten Februar und September, in industriereichen Gegenden ist indeß kaum ein Unterschied zwischen den einzelnen Monaten wahrzu­nehmen. Die Todesfälle bewegen sich, wenn man zunächst von der Säuglingssterblichkeit absieht, in ganz Europa im Herbst in aufsteigender, im Frühjahr in absteigender Linie, und erreichen ihr Maximum gegen Ende des Winters, ihr Minimum gegen Ende des Sommers.

Die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Altersklassen ist in den verschiedenen Ländern sehr ungleich. Im allgemeinen be­trägt die kindliche Bevölkerung von 0 bis 15 Jahren überall etwa ein Drittel der Gesammtheit, ein Zehntel kommt auf die Alters­klassen von 15 bis 20 Jahren, der Rest, welcher sich in dem eigentlich erwerbsfähigen Alter befindet, ist noch um das Greisen­alter von über 60 Jahren zu vermindern, welches 1/14 der Gesammt heit ausmacht. Abweichungen von diesem Durchschnitt sind zahl­reich; in Amerika , sowie in den vorwiegend industriellen Städten, ferner in vielen ländlichen Bezirken nimmt das Kindesalter einen höheren als den angegebenen Antheil in Anspruch. In anderen Staaten Europas ist das Greiſenalter beträchtlicher als 14; in größeren Städten ist infolge von Einwanderung die Altersklasse von 15 bis 30 Jahren gefüllter als auf dem Lande. Auffallend gering ist die kindliche Bevölkerung in Frankreich , vornehmlich in Paris . Die wohlhabenden Stände besigen, wie bekannt, durch weg weniger Kinder als die besitzlosen.

Zur Erklärung dieser Schwankungen hat man auf die Ver­schiedenheiten der Rasse, des Klimas, der Beschäftigung, der Er­nährung u. s. w. hingewiesen. Es ist Thatsache, daß die Armuth die Beugungsfähigkeit zum mindesten nicht verringert. Es scheint vielmehr, als ob vielfach Armuth und Kinderreichthum sich gegen­seitig bedinge; wenn wir somit den sozialen Verhältnissen nur einen negativen Einfluß auf die Geburten einräumen, so werden wir später eine desto positivere Wirkung auf die Sterblichkeit konstatiren können.

Deutschland nimmt in Bezug auf den Kinderreichthum eine mittlere Stellung ein, es ist weniger finderreich als Kanada , die Vereinigten Staaten, Ungarn , England, Schottland und Nor­ wegen ; überragt dagegen Belgien , die Schweiz und Italien , und gleicht etwa Desterreich, Schweden , Dänemark und den Nieder­landen. Einzelne Gegenden Deutschlands können sich fast mit dem finderreichen Kanada messen, z. B. die preußischen Regierungs­bezirke Bromberg , Marienwerder, Köslin , Posen und Oppeln , während einzelne Theile von Bayern sich französischen Zuständen nähern. Im deutschen Reich haben durchschnittlich 100 Erwerbs­fähige nicht nur für ihren eigenen Unterhalt, sondern auch für 59 Erwerbsunfähige zu sorgen, in Frankreich für 46, in Kanada für 80 Personen.

Diefelbe Ungleichheit, welche wir in der Frequenz der ein­zelnen Altersklassen wahrgenommen haben, finden wir wieder, wenn wir die Sterblichkeit der Bevölkerung mit Rücksicht auf das Lebensalter untersuchen. Selbstverständlich zahlt das Kindes­alter, einerseits wegen der großen Zahl von Kindern, andrerseits, weil der zarte Organismus der Neugeborenen den Unbilden der