große Anzahl von Fällen, wo eine solche Selbstregulirung, die übrigens auch ohne Vorsehung sich sehr gut materiell erklären läßt, garnicht vorhanden ist. Die Alten halfen sich sehr einfach damit, daß sie außer an gute Götter auch noch an böse, feind liche glaubten. Wenn ein Blutgefäß verlegt, geöffnet wird, so blutet es, und es würde alles Blut wie durch ein Loch in einem Rohre ausfließen, wenn das Blut nicht die Eigenschaft besäße, zu gerinnen, und das Blutrohr nicht die Fähigkeit hätte, sich bei­nahe bis zum vollständigen Verschluß zusammenzuziehen, zu ver­engen. Allein diese wunderbare Fürsorge" gegen die Verblutung ist grade da nicht vorhanden, wo sie am nöthigsten wäre. Grade die größten Blutröhren die großen Schlagadern, aus denen das Blut massenhaft und sehr rasch herausschießt, besitzen die Fähigkeit, sich zusammenzuzieheit, fast garnicht, und die Gerinnung des Blutes reicht gegen die Gewalt des Blutstroms in ihnen nicht aus. Hier verläßt uns also die Vorsehung und auch die Natur" hilft sich da nicht von selber. Ja, in anderen Fällen hilft die Natur" nicht nur

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nicht, sondern sie ver­schlimmert sogar, mit anderen Worten, es ruft die schädliche Ein­wirkung nicht Zustände hervor, die eine Wieder­Herstellung zur Folge haben, sondern solche, welche von neuem schäd lich wirken oder die ur­sprüngliche Schädlichkeit noch erhöhen. Wenn sich ein Stein in der Blase gebildet hat, so bewirkt er nicht etwa Veränderungen, durch die er wieder von selbst entfernt wird, sondern im Gegentheil, er wirkt als mechanischer Reiz auf die Blasenschleim­haut, es entsteht ein Blasenkatarrh, dieser aber hat neue Stein­bildung zur Folge, und so geht das in unseligem Kreise fort. Die Ent wicklung von Eiterherden in der Lunge bei der Lungenschwindsucht wird von Fieber beglei­tet, dieses Fieber ver­ringert aber die Kräfte des Organismus und begünstigt so die Bil­dung neuer Eiterherde.

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Schmerzen unfühlbar zu machen. Allerdings verhehlen wir uns nicht, daß diese Waffen in der Hand der Medizin verhältnißmäßig geringfügig sind gegenüber dem zahllosen Heer von Uebeln und Krankheiten, die den Menschen befallen. Kein Zweifel, diese Waffen, diese Hülfsmittel sind im Laufe der Zeit mächtiger und zahlreicher geworden, aber sie sind noch immer klein im Vergleich zu der Zahl der zu bekämpfenden Feinde. Bei keiner Wissen­schaft aber kommt ihre Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit dem großen Publikum so zum Bewußtsein, als bei der Medizin. Bei der Astronomie, der Physik, der Chemie 2c. preist man mit Enthusiasmus ihre Fortschritte; alle Welt erfreut sich mit Be­friedigung der außerordentlichen Vortheile, die sie uns bescheert haben. Wie wenige aber empfinden es als einen Mangel, daß auch diese Wissenschaften noch sehr viele Probleme zu lösen haben, daß sie uns noch auf unzählige Fragen ohne Antworten lassen; ja, wer kennt überhaupt nur diese Fragen? Ganz anders bei

Ludwig Börne. ( Seite 539.)

In allen diesen Fällen existirt also eine Selbstregulirung von Seiten des Organismus, ein Heilbestreben der Natur keineswegs. Es ist also falsch, wenn die Partei der Naturheilkundigen sagt, jedes ärztliche Eingreifen sei überflüssig, da sich die Natur immer von selbst helfe; es ist ferner falsch, zu sagen, daß da, wo der Organismus sich nicht von selbst zu reguliren im Stande sei, auch der Arzt machtlos sei. Im Gegentheil, die Medizin kann mit Stolz behaupten, daß sie in einzelnen Fällen im Stande sei, da, wo der natürliche Verlauf in furchtbarem Kreise immer Uebel auf Uebel häuft, diesen Kreis zu durchbrechen. Wenn aus der verlegten großen Schlagader mit dem hervorspritzenden Blute das Leben zu entfliehen droht, so braucht der Arzt blos funstgerecht das Blutrohr mit einem Faden zuzubinden, und die Blutung stockt, das Leben ist gerettet. Der Arzt kann den Stein in der Blase zertrümmern oder herausbefördern, und das Leiden ist beendet.

Man glaube übrigens ja nicht, blos chirurgische Eingriffe seien im stande, so ellatante Wirkungen zu erzielen. Auch inner­lich verabreichte Medikamente können etwas ausrichten. Bei einer Vergiftung kann ein zu rechter Zeit angewendetes Gegengift un­zweifelhaft retten; wir haben Mittel, um unter Umständen die Fiebertemperatur herabzusehen, die Herzthätigkeit zu verändern,

der Medizin. Keine Wissenschaft hat ein so scharf abgegrenztes Ziel wie sie, bei keiner wird die Erreichung dieses Zieles von jedermann, vom Gebildetsten bis zum Rohesten, so leb­haft gewünscht und bei feiner wird die That­sache, daß sie von ihrem Ziele noch sehr weit ent­fernt ist, so schmerzlich empfunden, als bei ihr. Die Heilkunde hat die große Aufgabe, alle uns bekannten Krankheiten zu heilen. Nun hat sie von dieser Aufgabe nur einen sehr geringen Theil auch nur an= nähernd gelöst. Jeder­mann also, der selbst oder dessen Umgebung von einer Krankheit be­fallen wird, hat Ge­legenheit, diese Unzu­länglichkeit der Medizin zu erfahren.

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Dazu kommt noch ein Umstand. Die­jenigen Uebel, denen die Medizin mit ihren Hülfsmitteln einiger­maßen beikommen kann, sind nicht grade die ge­wöhnlichsten und häu­-figsten.

Das Wechselfieber, die Syphilis 2c. kann

der Arzt mit einiger Sicherheit bekämpfen, einem gewöhnlichen Schnupfen oder fatarrhalischem Husten steht er fast machtlos gegenüber. Und wie wenige leiden verhältnißmäßig am Wechsel­fieber 2c. und wie unendlich viele am Schnupfen. Die Heilkunst befindet sich also den andern Wissenschaften gegenüber in der un­angenehmen Lage, daß ihre Schwächen von jedermann, auch dem Uneingeweihtesten, empfunden werden. Diese Unzulänglichkeit darf aber bei ihr ebensowenig wie bei jeder andern Wissenschaft dazu verleiten, sie als werthlos oder überhaupt leistungsunfähig hin­zustellen. Sie ist nicht machtlos, wenn auch ihre Macht viel geringer ist, als von aller Welt so dringend gewünscht wird.

Wir wollen ganz davon absehen, daß die Heilkunst in sehr zahlreichen Fällen nüßen und mildern kann. Auf die Fragen, die Goethe den trotzigen Prometheus höhnisch an die Gottheit stellen läßt:

Hast du die Schmerzen gelindert Je des Betroffenen?

Hast du die Thränen gestillt Je des Beladenen?

könnte die Medizin getrost mit Ja antworten. Und noch mehr, die Medizin kann auch heilen, d. h. Uebel völlig beseitigen; aller­