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Nachschrift. Wenn Sie Frizz Lauter sehen, so bitte, grüßen Sie ihn von mir auch recht freundlich. Eigentlich sollte ich auf ihn recht böse sein, denn er ist erst ein einziges mal bei uns gewesen, seit wenigstens zwei Jahren, und das war, Sie wissen es ja am besten, in der ersten Woche, nachdem er Redakteur ge­worden war. Ich habe ihn ausdrücklich eingeladen, er ist doch mein Jugendfreund und sollte sich immerhin um seine älteste Freundin etwas kümmern, und die gute Frau Doktor hat ihn auch eingeladen sie hat jetzt großen Respekt vor ihm, seit er etwas Tüchtiges geworden ist, wie sie sagt. Verzeihen Sie die lange Nachschrift und lachen Sie mich deshalb nicht aus, bester Herr Klose, ich befinde mich wirklich in Aufregung wegen des Briefes von Hildegard Schneemann. Nun aber nochmals Adieu und auf Wiedersehen!"

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Der alte Herr Klose hatte den in zierlichen, aber trotz aller Flüchtigkeit festen Zügen geschriebenen Brief kaum gelesen, so hatte er sich auch schon auf den Weg nach der Villa Alster be­geben. Von der eben erst im Ausbruch begriffenen Hungersnoth im Gebirge hatte er schon gehört, aber nur dunkle, zweifelvolle Gerüchte waren nach P. gedrungen. Er sah den Nachrichten, welche der Brief der Tochter des Oberbauraths enthielt, daher mit Spannung entgegen. Und es war so, wie Wanda gefürchtet hatte; Hildegard Schneemanns Mittheilungen sahen garnicht aus wie Uebertreibungen sie wiederholten nur mit möglichster Treue, was ein Freund des Betriebsinspektor Lesser, welcher als höherer Steuerbeamter viel mit dem Landvolke in Berührung fam, selber beobachtet und berichtet hatte.

Da war allerdings jeder Mensch zur Hülfsleistung verpflichtet, soweit er nur immer zu helfen vermochte, und zu unverzüglicher Hülfsleistung, denn hier war offenbar äußerste Gefahr im Ver­

zuge.

Nun schmiedeten denn die beiden, der alte, welterfahrene Mann und das siebzehnjährige, lebensunkundige Mädchen, in seltener Uebereinstimmung eine ganze Menge Pläne, von denen einer nach dem andern in rascheſter Aufeinanderfolge zur Aus­führung gelangte.

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Herr Klose schrieb seinen von edelster Menschenliebe diktirten Artikel; Herr Alster empfahl dem Chefredakteur Schweder auf Antrieb seiner Tochter nicht nur die sofortige Aufnahme desselben, sondern er veranlaßte Schweder auch, einen zweiten Aufruf zur Einsendung von Unterstüßungen an Geld, Heizmaterialien und Winterkleidungsstücken zu erlassen und sich im Namen der Re­daktion zur Empfangnahme derselben bereit zu erklären; darauf hin wurde ein Hülfscomité gegründet, zu dessen Vorsitzenden Alster erwählt wurde; ferner wurden Wohlthätigkeitskonzerte ab­gehalten; der alte Herr Klose hielt auf Wanda's Bitten mit größter Bereitwilligkeit, ja mit einer Art heiligen Eifers, einen Cyklus von drei Vorträgen über interessante literarhistorische Themata zum Besten der Nothleidenden im Gebirge, und Wanda sorgte dafür, daß die Billets, deren Preis sie selbst, zum großen Entsetzen des Vortragenden selbst, auf drei Mark ansetzte, in ihrem großen Bekanntenkreise untergebracht wurden; ein Wohl thätigkeitsbazar wurde eröffnet kurz, der ganze Apparat, mit dem die öffentliche Wohlthätigkeit in Szene zu gehen pflegt, wurde aufgeboten, und da er vom besten Willen geleitet wurde, so tamen denn auch in kurzer Zeit beinahe hunderttausend Mark baares Geld zusammen, und für nicht viel weniger wurden Kleidungsstücke, Kohlen, Holz und dergleichen beigesteuert. Selbstverständlich hatte auch Friz Lauter sein gutes Theil dazu beigetragen, daß die Flamme des allgemeinen Mitgefühls durch den Tageskorrespondenten" unausgesetzt angefacht wurde. Fast alle Artikel über den Nothstand, mit Ausnahme des von Herrn Klose geschriebenen ersten und des von Schweder ver­faßten Aufrufs, flossen aus seiner Feder; er stellte die Berichte der im Gebirge erscheinenden kleinen Lokalblätter zusammen, zog eigene Berichterstatter heran, indem er sich an die Ortsgeistlichen und die Schullehrer einer ganzen Reihe von Städten und Dörfern wandte und sie zur Einsendung von Schilderungen der Zustände in der von der Noth heimgesuchten Gegend aufforderte, und ließ, so oft es nur immer ging, den Aufruf zur Unterſtüßung von neuem abdrucken. Eines Tages brachte er unter andern auch eine Nachricht, die große Sensation hervorrief. Die Unter stüßungen, welche von P. ausgingen, waren einige Wochen regel­mäßig der Ortsbehörde von Oberbergstadt, welches die größte Stadt in jenem Landestheile war, zur Vertheilung überliefert worden. Auf einmal kamen von verschiedenen Seiten zugleich Nachrichten, welche es außer Zweifel seßten, daß die guten Ober­

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bergstädter nicht nur zunächst, sondern ausschließlich die Bewohner der Dörfer in der nächsten Umgebung ihrer Stadt bedachten und sich um die von der Noth viel härter bedrängten Weber und Bauern tiefer im Gebirge drin garnicht fümmerten. Diese Nach­richt übergab Friz, dessen Zuverlässigkeit und Umsicht ihm in der Redaktion schon eine ziemlich selbständige Stellung errungen hatte, sofort der Deffentlichkeit mit dem Zusaß, daß es am besten sein würde, wenn das Hülfscomité von P. selbst oder vertrauens­würdige Abgeordnete desselben sich in die nothleidende Gegend begeben und die Vertheilung der Unterstützungen in die eigne Hand nehmen würde.

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Die Gemeindebehörde von Oberbergstadt versuchte sich zu ver­theidigen, aber von dem Vorwurfe, die nöthige Umsicht und Un­parteilichkeit außer Acht gelassen zu haben, vermochte sie sich nicht zu reinigen. Der Vorschlag des Tageskorrespondenten' fand daher Beifall, und das Hülfscomité deputirte drei Herren, denen sich ebensoviel ältere Damen anschlossen, ins Gebirge. Kaum zwei Tage war die Deputation fort, so liefen ihre ersten Berichte ein. Sie lauteten trostlos. Die Noth war noch viel größer, als man vermuthet hatte, und viel größere Bevölkerungs­theile waren davon ergriffen. Die bisher eingegangenen Unter­stüßungen, die vom Hülfscomité in P. gesammelten betrugen mehr als die Hälfte alles dessen, was im ganzen Lande bei­gesteuert worden war, hatten gewirkt wie der Tropfen Wasser auf einem heißen Stein. Die Privatwohlthätigkeit mußte sich zu viel umfassenderen Leistungen aufraffen, als bisher, und die Deputation zur Vertheilung der Unterstügungen brauchte Succurs, vier, fünf- nein, wenigstens zehn, zwölf Personen noch mußten ihr helfen, wenn man in den nächsten Wochen alle von der Noth ereilten Dörfer im Gebirge besucht und den Nothleidenden einige Hülfe gebracht haben wollte. es that,

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Man mußte es dem Hülfscomité in P. lassen, was in seinen Kräften stand. Die Aufrufe in den Zeitungen, die Wohlthätigkeitskonzerte, Theatervorstellungen, Vorlesungen u. s. w. jagten einander, und für guten Besuch und respektable Einnahme­überschüsse wurde immer gesorgt. Aber damit ließ man sich noch nicht genügen; Herr Alster stellte bei der Stadtbehörde einen Antrag auf Gewährung einer größeren Unterstüßungssumme aus städtischen Mitteln, und sorgte durch brillante Reden, wie sie P. lange nicht mehr gehört hatte, in der Stadtverordnetenversammlung für die Annahme seines Antrags. Wanda Alster und Herr Klose waren auch auf einen neuen Gedanken gekommen, dessen Aus­führung viel Geld zusammenbrachte. Sie schlugen vor, regel­mäßige Wochenbeiträge zu zahlen, und Wanda ging mit leuch tendem Beispiele voran, indem sie fünf Sechstel ihres reich bemessenen Nadelgeldes zu opfern sich freudig bereit erklärte. Alle jungen Damen von P., die auch Nadel- oder Taschengeld erhielten, auf das zu verzichten sich lohnte, folgten nach, und den jungen Damen schlossen sich junge und alte Herren und schließlich ältere Damen in großer Zahl und gleicher Opferwilligkeit an. Auch die Landesregierung sah endlich die Nothwendigkeit ein, die Hülfsquellen des Staates zur Hebung des Nothstandes zu öffnen, und so flossen denn Gelder und Unterstützungen aller Art in reichem Maße nach dem Gebirge, und die Deputation des Hülfscomités von P., das sich in seiner Thätigkeit trefflich be­währte, hatte mehr als je alle Hände voll zu thun und rief lauter als zuvor nach persönlicher Beihülfe. Und auch diese wurde ihm zutheil; ein ganzes Dußend von Damen und Herren, die sich eines gesunden Körpers und energischen Willens bewußt waren und von dringenden Geschäften nicht belästigt wurden, gingen als Freiwillige nach Oberbergstadt, und unter diesen Frei­willigen befanden sich auch der alte Herr Klose, die Frau Doktor Winter und Wanda Alster.

Auch der ,, Tagesforrespondent" that ein Uebriges. Er sendete einen Spezialberichterstatter ins Gebirge und kündigte tägliche Bülletins über den Fortgang der Unterstüßungsthätigkeit an.

Dieser Spezialberichterstatter war der gewiegte Journalist Herr Prell, der schon in der ganzen Welt in gleicher Eigenschaft herum­gekommen zu sein behauptete und mit der stolzen Versicherung abreiſte, er werde beweisen, daß er im höchsten Grade der Haupt tugend eines reisenden Zeitungskorrespondenten theilhaft sei, jener fabelhaften Eigenschaft der Augegenwart und Allwissenheit, wie sie nur die berühmtesten Kriegsforrespondenten der berühmtesten Weltblätter entwickelt hätten.

Er schien nicht zuviel behauptet zu haben- der Journalist comme il faut. Vom ersten Tage seines Aufenthalts im Gebirge an hagelte es förmlich von Berichten auf die Redaktion des