urtheilen des Volks, daß jeder Vorgang mit einem noch frühern verknüpft ist und daß so die ganze Welt eine nothwendige Kette bildet, worin zwar jeder seine Rolle spielen mag, aber keineswegs zu bestimmen vermag, welche es sein soll.
Wäre es möglich, die ganze Vergangenheit eines Menschen, sowie seinen Charakter ganz genau kennen zu lernen, so könnten wir vorhersagen, wie dieser Mensch unter gewissen Umständen handeln würde; diese Bedingungen genau fennen zu lernen, ist zwar unmöglich, trotzdem ist es aber gewiß, daß sein Betragen stets nur eine Folge seiner Charaktereigenthümlichkeiten, seiner Gemüthsverfassung und überhaupt aller Vorgänge, in deren Mitte er sich befunden hat, ist.
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Wer eine Wissenschaft der Geschichte für möglich hält, der muß sowohl das metaphysische Dogma von der Willensfreiheit, als das theologische von der Vorherbestimmung oder göttlichen Vorsehung verwerfen; denn, wenn wir eine Handlung vollbringen, geschieht dies aus einem oder mehreren Beweggründen, diese sind wieder die Folgen aus etwas Vorhergegangenem, so daß wir, wenn wir mit allem, was vorhergegangen und mit allen Gesetzen, nach denen es erfolgt, bekannt wären, mit unfehlbarer Gewißheit alle unmittelbaren Ergebnisse davon vorhersagen könnten. Wir sehen uns demnach zu der Folgerung genöthigt, daß die Handlungen der Menschen lediglich durch ihre Vergangenheit bestimmt werden und daher ein Gepräge von Gleichmäßigkeit haben, d. h. unter gleichen Umständen auch immer ein gleiches Ergebniß zeigen müssen. Und da alles, was früher vorgegangen, entweder cin innerer oder ein äußerer Vorgang sein muß, so ist klar, daß die ganze Mannichfaltigkeit der Ergebnisse, alle Veränderungen, von denen die Geschichte voll ist, alle Wechselfälle, die das Men schengeschlecht betroffen, sein Fortschritt und sein Verfall, sein Glück und sein Elend die Frucht einer doppelten Wirksamkeit sein müssen: der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf unsern Geist und der Einwirkung unsers Geistes auf die äußeren Erschei
nungen.
Wir haben also auf der einen Seite den menschlichen Geist, der den Gesetzen seines eigenen Wesens gehorcht und, wenn unbehelligt von äußeren Einwirkungen, sich seiner Anlage gemäß entwickelt; auf der anderen Seite haben wir, was man Natur nennt, die ebenfalls ihren Gesetzen gehorcht, aber unaufhörlich mit dem Geiste der Menschen in Berührung kommt, ihre Leidenschaften aufregt, ihren Verstand antreibt und so ihren Handlun gen eine Richtung gibt, die sie ohne ihren Einfluß nicht genommen hätten.
So haben wir den Menschen, der auf die Natur, und die Natur, die auf den Menschen einwirkt, eine gegenseitige Einwir fung, aus der nothwendig alle Begebenheiten entspringen müssen. Da die Naturerscheinungen eher in Wirksamkeit waren, als der menschliche Geist, ihre Einflüsse auch hervorstechender und folglich leichter zu beobachten sind, so betrachten wir
1. Die natürlichen Geseze.
Unstreitig den mächtigsten Einfluß auf das Menschengeschlecht üben aus: Klima, Nahrung, Boden und die Naturerscheinung im ganzen, d. h. diejenigen Erscheinungen, welche vornehmlich durch das Auge, aber auch durch andere Sinne die Ideenverbindungen geleitet und so in verschiedenen Ländern verschiedene Gedanken freise erzeugt haben. Diese letztere Art von Erscheinungen wirkt vorzüglich auf die Phantasie und erzeugt die unzähligen Formen des Aberglaubens, welche so große Hindernisse für den Fortschritt der Erkenntniß bilden. Und da in der Kindheit eines Volkes die Macht dieser abergläubischen Vorstellungen unumschränkt ist, so hat die verschiedene Naturbeschaffenheit auch verschiedene Nationalcharaktere erzeugt und namentlich auf die Religion eines Volkes den größten Einfluß ausgeübt. Klima, Nahrung nnd Boden haben keine so unmittelbare Wirkung dieser Art gehabt, trotzdem hatten sie bedeutenden Einfluß auf die Einrichtung der Gesellschaft, und aus ihnen sind manche der umfassenden und hervorstechenden Unterschiede der Völker entsprungen, welche man oft mit Unrecht dem Rassenunterschiede zugeschrieben hat.
Da Klima, Nahrung und Boden in nicht geringem Grade von einander abhängen und in innigem Zusammenhang mitein ander stehen, so ist es nicht wohl möglich, diese physischen Mächte einzeln zu betrachten, sondern vielmehr nach den verschiedenen Wirkungen, die ihr gemeinsamer Einfluß hervorbringt. Von allem, was für ein Volk aus seinem Klima und seinem Boden folgt, ist Anhäufung von Reichthum das Erste und Wichtigste. Denn obgleich der Fortschritt der Kenntnisse später das Steigen
des Reichthums beschleunigt, so muß sich doch bei der ersten Ausbildung der Gesellschaft zuerst Reichthum anhäufen, ehe die Wissenschaft beginnen kann. Solange jeder nur damit beschäftigt ist, die Nothdurft für seinen Unterhalt anzuschaffen, wird weder Zeit noch Sinn für höhere Bestrebungen vorhanden sein, deshalb ist in einem solch frühen Zustand der Gesellschaft die Ansammlung von Reichthum der erste Schritt auf dem Wege zu einer höheren Kulturstufe. Wenn ein Volk grade ebensoviel verzehrt, als es produzirt, so wird nichts übrig bleiben, unbeschäftigte Selassen heranzuziehen und zu unterhalten, wenn aber die Produktion größer ist, als die Konsumtion, so entsteht ein Ueberschuß, der nach bekannten Gesetzen sich selbst vermehrt und am Ende ein Fonds wird, aus welchem unmittelbar oder entfernt alle erhalten werden, die das Vermögen, von dem sie leben, nicht selbst erzeugen. Erst jetzt wird die Existenz einer intelligenten Klasse möglich, deren Mitgliedern erlaubt ist, zu verbrauchen, was sie nicht selbst hervorbrachten, und so sich Gegenständen zu widmen, wozu in einer früheren Periode der Drang ihrer täglichen Bedürfnisse ihnen keine Zeit übrig gelassen haben würde. Es leuchtet ein, daß bei einem ganz unwissenden Volke die Schnelligkeit, womit Reichthum erzeugt wird, ganz von der natürlichen Beschaffenheit seines Landes abhängen wird. Später kommen noch andere Ursachen mit ins Spiel; bis dies aber geschieht, kann der Fortschritt nur von zwei Umständen abhängen: einmal von der Anstrengung und Regelmäßigkeit, womit die Arbeit geleistet wird, und dann von dem Ertrage, den die Natur dieser Arbeit gewährt. Beide Ursachen sind selbst das Ergebniß früherer natürlicher Vorgänge. Die Fruchtbarkeit des Bodens hängt theils von der Beimischung gewisser chemischer Bestandtheile ab, theils davon, wie Flüsse oder andere natürliche Ursachen zur Bewässerung des Bodens wirken, theils von der Temperatur und Feuchtigkeit der Atmosphäre; die Energie und Regelmäßigkeit der Arbeit dagegen hängt gänzlich von dem Einfluß des Klima ab. Bei starker Hize sind die Menschen nicht aufgelegt und gewissermaßen nicht fähig zu der Thätigkeit und dem Fleiße, welche sie in einem gemäßigteren Klima bereitivillig anwenden.
Ein anderer weniger auffallender Umstand ist der, daß die Arbeit von dem Klima nicht nur durch Entnervung oder Kräftigung des Arbeiters beeinflußt wird, sondern auch durch die Wirkung, die es auf die Regelmäßigkeit seiner Lebensweise ausübt. So machen z. B. in den nördlicheren Gegenden die Strenge des Winters und der theilweise Mangel des Lichts es dem Volke unmöglich, seine Beschäftigung im Freien fortzuseßen. Die Folge ist, daß die arbeitenden Klassen ihre gewohnte Thätigkeit abbrechen müssen und zu unordentlichen Gewohnheiten geneigter werden; die Kette ihrer Thätigkeit wird gleichsam zerrissen, und sie verlieren den Trieb, welchen eine regelmäßig fortgefeßte Uebung einflößt. Daraus entsteht ein eigensinnigerer und launischerer Nationalcharakter, als bei einem Volke, dessen Klima die regelmäßige Ausübung seiner gewöhnlichen Arbeit gestattet. Dies Gesetz sehen wir unter ganz entgegengesetzten Umständen in Wirkung. Man kann sich kaum eine größere Verschiedenheit in Regierung, Gesezen, Religion und Sitten vorstellen, als in Schwe den und Norwegen einer, Spanien und Portugal andererseits. Hier wie dort ist fortgesette Feldarbeit unmöglich. Die Folge ist, daß diese vier Völker, in anderer Hinsicht so verschieden, sich alle durch eine gewisse Unstetigkeit und einen gewissen Wankelmuth des Charakters auszeichnen. Sie bilden einen auffallenden Kontrast mit den regelmäßigeren und stetigeren Sitten in Ländern, deren Klima den Menschen die Nothwendigkeit einer beständigeren und anhaltenderen Beschäftigung auferlegt.
Die außerordentliche Macht des Bodens und des Klima läßt sich aus der Geschichte nachweisen; man kennt kein Beispiel, daß irgend ein Land durch seine eigenen Anstrengungen zivilisir worden wäre, wenn es nicht wenigstens eine der genannten Bedingungen in günstiger Form besaß. In Asien war die Zivilisation immer auf die große Strecke beschränkt, wo ein fetter angeschwemmter Boden dem Menschen den Reichthum sicherte, ohne den kein geistiger Fortschritt beginnen kann. Dieses Gebiet erstreckt sich von dem Osten Südchinas bis zu den westlichen Küsten Kleinasiens , Phöniziens und Palästinas; nördlich davon ist eine Reihe unfruchtbarer Länder, welche immer von rohen Stämmen bevölkert waren, die durch die unwirthbare Natur des Bodens, so lange sie darauf blieben, in Armuth erhalten wurden. Dieselben mongolischen und tartarischen Horden aber haben zu verschiedenen Zeiten in China , in Indien und in Persien große Reiche gegründet und bei dieser Gelegenheit eine Zivilisation