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Er wußte, daß binnen kurzem aufgebrochen werden sollte, um noch zu einer andern Weihnachtsfeier zu eilen. Daher bat er sich von der Frau Doktor Winter die Erlaubniß aus, sie und Wanda in ihrem Schlitten begleiten und ihr Gespann führen zu dürfen. Einen Schlitten zu fahren, sei eine Kunst, versicherte er, die kein Mensch so gut verstünde, wie er. Bei Schlittenpartien seien die Damen immer am liebsten mit ihm gefahren, und nur um der Frau Doktor zu zeigen, was man auf diesem Gebiete leisten fönne, habe er sich erlaubt, das Anerbieten zu machen.
Die Frau Doktor war vollkommen mit ihm einverstanden. Was konnte man Besseres thun, als die beiden für einander seit Jahren Bestimmten, Wanda und Wichtel, mit einander zusammen zubringen. Sie nahm sich fest vor, das Paar möglichst wenig zu stören, und diesen Vorsaz auszuführen, mußte ihr ungemein leicht werden, da sie von den vielen Strapazen der letzten Wochen und Tage so angegriffen war, daß sie für den Genuß eines stärkenden Schläfchens während der Fahrt bereit war, den der wichtelschen Meisterschaft im Schlittenfahren hinzugeben.
Wichtel hatte sich auf Schwierigkeiten von Seiten Schweders gefaßt gemacht, aber er hatte sich getäuscht. Dieser kümmerte jich garnicht um ihn, und nahm auch das von der Frau Doktor Winter getroffene Arrangement, welches den alten Herrn Klose statt des jungen Wichtel in den ,, Herrenschlitten" bannte, während letterer bei ihr nnd Wanda Aufnahme fand, mit einem leichten Spottlächeln um die Lippen, sonst aber ohne das geringste Zeichen einer Bewegung auf.
Wichtel wollte das Eisen schmieden, dieweil es ihm warm schien er ließ seine Pferde die Peitsche tüchtig fühlen und der Schlitten flog leicht und windschnell wie der Vogel in der Luft über die Schneefläche.
Der zweite Schlitten, den starke, aber aus keinem Rassegeschlechte stammende Pferde zogen und dessen Kutscher immer bedacht war, sich und seinen Pferden das Leben möglichst leicht zu machen, ließ sich durch das Beispiel des ersteren zu keiner Wettfahrt anspornen. Bald hatten seine Insassen das erste Gefährt völlig aus den Augen verloren.
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Frizz Lauter war ein wenig später in Niederbartenstein eingetroffen, als er erwartet hatte. Die Post hatte sich verspätet. Sie hatte an Passagieren und Gepäck noch viel mehr zu transportiren bekommen, als die Postbeamten voraussehen konnten. Der Abend dunkelte bereits herein trotzdem die mit einer leichten, aber unabsehbaren Schneefläche bedeckten Felder und Wiesen das Licht mit aller Gewalt festhalten zu wollen schienen, als er von dem Dorfe am Fuße des Bartensteins, eines beinahe zweitausend Fuß hohen Berges, den ziemlich steilen und beschwerlichen Waldweg nach dem etwa fünfhundert Fuß höhergelegenen Oberdorfe hinaufzusteigen begann.
Im Nadelwalde, den der Weg passirte, war es dem Tageslichte nicht so leicht gewesen, sich zu halten, nur in matten, schmalen Streifen durchbrach es noch den tiefen Schatten der hohen Bäume, welche den Pfad umsäumten. Aber Frizz kannte jede Krümmung des Weges und jeden Strauch, der ihn einengte, er konnte daher auf die Tagesbeleuchtung sehr wohl verzichten und so rasch, wie auf freier Landstraße, dem Gebirgsdörfchen, wo ihn getreue Herzen erwarteten, entgegeneilen.
Die Stimmung, in welcher er sich befand, war erregter, als sie sonst bei ihm zu sein pflegte. Er hatte in ärgster Hast arbeiten und trotzdem den ganzen Tag mit dem Zweifel kämpfen müssen, ob es ihm gelingen werde, den Pflichten seines Amtes und denen seines Herzens voll und ganz nachzukommen. Auf die Ueberhastung der Arbeit war ohne allen Uebergang die erzwungene körperliche Ruhe der Eisenbahnfahrt gefolgt, der sich die lebhaft gereizten Nerven nicht anzubequemen vermochten, ohne eine Fluth von Gedanken zu entfesseln, welche die geistige Erregung steigerten, statt sie allgemach zu sänftigen.
So war an Fritz Lauters Geistesaugen während der nicht langen Fahrt auf dem Eisenwege ein gut Stück seiner Vergangen heit von neuem vorübergezogen. Zuerst die frohen Tage, die er als Gymnasiast während der großen Ferien mehrere Jahre hinter einander in Oberbartenstein verlebt, all' das Liebe und Gute, was die Kantorfamilie an ihm und den Seinen trotz der Gering fügigkeit der eigenen Mittel gethan; dann dämmerte die Erinnerung herauf an die Tage der Knabenzeit, die er im elterlichen Hause in der Obervorstadt verbracht, und all' die Personen standen wieder in scharfen Zügen und lebhaften Farben vor seinem Geiste,
mit denen er damals in nähere Berührung gekommen war. hatte ein vorzügliches Gedächtniß, der Frizz wenn er auch monate- und jahrelang so wenig von ihm merkte, wie von dem Inhalt eines geschlossenen Buches; begann er einmal so recht eifrig darin zu blättern und zn lesen, so fand er von dem Wichtigeren und Interessanteren, das er erlebt, fast alles noch so darin vor, wie es sich dereinst zugetragen.
Er sah z. B. jezt, als wenn es heute wäre, den Herrn Alster , mit den Händen in der Westentasche an seiner Ladenthür stehen, die Cigarre in dem einen Mundwinkel und mit ziemlich verächtlicher Miene in die Gassen der Obervorstadt hinausschauen, er hatte damals schon verhältnißmäßig viel Geld im Kasien und längst war ihm die Ueberzeugung herausgedämmert, daß er zu etwas Besserem bestimmt gewesen sei, als die armen Leute mit Zucker und Kaffee, mit Salz und Heringen zu versorgen. Von dem Herrn Alster hatte sich Frizz nie sehr angezogen gefühlt, und das war erklärlich genug, denn der Herr Alster hatte auch, wenn er anscheinend nichts that, immer so wichtige Gedanken im Kopfe, daß er sich unmöglich auch nur einen Augenblick um solch' kleinen, unwissenden Burschen fümmern konnte, wie es der Frizz da mals war.
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Da war Alsters Wanda ganz anders gewesen, die war noch viel kleiner und unwissender, als Friß, und hatte sich auch um keinen Menschen mehr oder auch nur halb so sehr gekümmert, als um ihn.
Alsters Wanda! Der Gedanke an sie wollte Frizz heute garnicht mehr verlassen. Außer seiner Mutter hatte ihn fein Mensch so lieb gehabt, als sie, und kein Mensch war bis in die jüngste Beit in so unwandelbarer Freundschaft ihm ergeben gewesen, als Wanda. Sie hatten sich zwar selten gesehen, aber immer von neuem war ihm ein Beweis geworden, daß sie die Kinderfreundschaft nicht vergessen, daß sie dieser immer noch in ihrem reinen und getreuen Herzen einen Platz bewahrt hatte.
Der Gedanke an Wanda's treue Freundschaft hatte ihm immer wohlgethan, hatte er doch sonst keinen Freund aufzuweisen, da ihm die oberflächliche Kollegenfreundschaft, wie er sie freilich in einem vollen Schock von Fällen hätte genießen können, niemals genügen wollte. Aber war er nicht doch das Opfer einer Selbsttäuschung geworden konnte jene Kinderfreundschaft, wenn sich auch zehnmal Beweise dafür fanden, daß sie von beiden Betheiligten nicht vergessen, wenn sie auch durch jenen Sturz Wanda's in den Schloßteich für furze Zeit neue Nahrung erhalten hatte konnte sie noch geblieben sein, was sie einst gewesen?
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Thorheit! Und noch viel thörichter war und blieb es auch, daß sich Frizz einen Augenblick gar eingebildet hatte, es wäre eine andere, als die alte Kinderfreundschaft, welche sich für ihn in Wanda's Herz eingenistet, oder es wäre am Ende vielleicht selbst mehr als Freundschaft..
Es war eine merkwürdige Thatsache, die in Friß solche Gedanken zu erzeugen im stande gewesen. Als er Anfang dieses Jahres seinen Geburtstag gefeiert, da hatte er früh morgens, als er aus tiefem Schlummer erwacht war, inmitten der Geschenke von seiner Mutter einen prachtvollen Blumenstrauß vorgefunden, einen Strauß frischer, duftender, zum Theil seltener und kost barer Blumen, wie sie in jener rauhen Jahreszeit im Freien nirgend zu finden waren. In frühester Morgenstunde hatte der Postbote ein zur expressen Beförderung aufgegebenes Packet abgeliefert, das in zierlichem Pappkarton das Bouquet enthielt und auf einem dicht vor den Mauern von P. gelegenen Dorfe zur Bost gekommen war. Zwischen den Blumen war ein schmaler Streifen zartesten, weißen Papiers versteckt, auf dem in schöner, Fritz aber gänzlich unbekannter Frauenhand die Worte geschrieben standen: In treuer Freundschaft." Friz hatte sich viele Wochen lang den Kopf zerbrochen, wem er diese liebenswürdige Aufmerksamkeit wohl zu danken haben könne, aber er war auf keine sichere Spur gekommen. Immer wieder hatte er an Wanda Alster gedacht, aber es fehlte ihm jeder Anhalt für die Vermuthung, daß sie so sinnig ihr freundliches Gedenken bethätigt habe; einmal hatte sie ja vorher von seinem Geburtstag feine Notiz genommen, jedenfalls wie konnte es auch anders sein! hatte sie längst vergessen, wann er ihn zu feiern habe. Dann war die Handschrift, wie er genau wußte, nicht die ihre, endlich befand sie sich während jener Zeit weder in P., noch in dessen Nähe, sondern hunderte von Meilen entfernt, im Süden, wo die üppige Natur und das herrliche Klima und all' die Genüsse, welche den mit den Gütern materiellen Wohlbefindens gesegneten Reisenden zur Verfügung stehen, das reiche, vielumworbene Mädchen
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