Die Beue Well

№o 29.

Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volk.

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Erscheint wöchentlich.- Preis vierteljährlich 1 Mark 20 Pfennig. In Heften à 30 Pfennig. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter.

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Ein verlorner Mann.

Von Hermann Hirschfeld. ( Fortsetzung.)

Ich habe geruht; geschlafen kaum, traumdurchwirrter Schlummer einer heißen Sommernacht. Mit dem ersten Grauen des Morgens erhob ich mich vom Lager. Des aufgehenden Sonnenballes erste Strahlen lugen auf diese Zeilen, durch das geöffnete Fenster dringt des Morgens Frische. Sie erquickt meine Stirn, nicht meine Brust.

Wie nenne ich das Gefühl, das plößlich meine Seele erfaßte in schwindelndem Taumel, wie das Gefühl, das mich urplöglich, den Fünfziger, zu einem Mädchen zieht, das wohl kaum die Zwanzig überschritten? Liebe, ja Liebe! ruft mein Herz, und seliges Behagen, süßer Schauer durchrieselt meine Sinne. Ich liebe Melanie, sage ich leise und noch einmal lauter, und hinaus schreien möchte ich's und die Welt füllen mit meiner Stimme Schall: Ich liebe sie!

Vernunft, kalte, abwägende Vernunft, die so oft genaht und mit eisigem, aber heilenden Finger das heftig wallende Blut gestillt, wo bleibt sie!? Umsonst rufe ich dich, umsonst stelle ich mich dem eigenen Gericht. Umsonst, eine zu mächtige Partei ist die Leidenschaft, das Herz ein zu leicht bestochener Richter.

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Was ist es denn, was mich an jenes Mädchen fesselt, das mein Auge nie zuvor erblickte. Melanie von der Hellen ist nicht einmal eine Schönheit ersten Ranges zu nennen. Vielleicht er­greift mich ihre Erscheinung um so stärker, als sie so gänzlich von der Vorstellung abweicht, die ich mir von dem guten Engel Wolfshagens geschaffen. Semmelblond, hager, blauäugig anders - vermochte ich mir die Tochter von der Hellens nicht zu denken. Melanie ist von schlankem, aber eleganten Wuchs, das dunkel­blonde, einfach geordnete Haar von seltener Fulle und Weiche, das braune Auge ein Spiegel der Seele alles Edlen, alles Schönen Widerglanz.

Mein treuer Bernhardt kommit, er ist des Jubels voll. Die Maschine ist in Thätigkeit und übertrifft seine kühnsten Hoff nungen; in wenig Jahren muß sich, nach seiner Berechnung, mein Vermögen um die Hälfte vergrößert haben. Er ladet mich dringend ein, zur Fabrik zu kommen, mich selber zu überzeugen. Ich muß ihm schon den Willen thun, obgleich ich am liebsten allein wäre mit meinen Gedanken; mir ist alles so gleich, außer einem; doch nein, je reicher ich würde, desto strahlender ver­möchte ich ihren Lebenspfad zu schmücken, Fürstinnen sollten sie beneiden, wenn wenn

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Alter Mann mit dem jugendlichen Aussehen, laß ab,

laẞ ab!

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1880.

Ich will hinüber. Nie war ich feige. Keine Gefahr gab es, der ich nicht ins Auge geschaut; ich will auf meine alten Tage den mir gelobten Grundsäßen nicht treubrüchig werden. Schon war meine Reisetasche gepackt, ich wollte fliehen, vor mir selber, zu meinem Sohne wollte ich, aber was hätte ich dort ge­funden, was bei meinen Kindern des Vaters feurig schlagen­des Herz? Ich weiß, sie lieben mich, aber ihre Liebe trägt Glacéhandschuhe und bietet die Fingerspißen, wo ich nach Seele lechze, nach voller, warmer, empfindender Seele, wie bei ihr, bei Melanie. Nun bleibt alles beim Alten. Ich glaube, ruhig zu sein, ich bin gewiß, heute werde ich mit anderen Augen schauen, mit anderem Maße messen, ich will hinüber, wenn es doch noch immer die Leidenschaft wäre, die der Vernunft schmeichelt: " Geh'!"- Abends elf Uhr.

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Warum kommt mir Goethe's, des Unsterblichen, Greiſenalter nicht aus dem Sinn, das am Spätabend seines olympischen Daseins noch die Liebe zu einem blühenden, jugendfrischen Kinde verschönte? Hat Goethe ein Recht, anders zu fühlen, als ich? Bin ich nicht Mensch, wie er? Wer, der nicht wagt, gegen den Kroniden den Stein zu heben, wagt Kaspar Ehrenfried Waldenau zu verdammen?

Daß ich Wolfshagen kaufe, unterliegt keinem Bedenken mehr. Allein soviel gibt es zu ordnen, so verwickelt sind die Verhält­nisse des Guts, daß wohl noch geraume Zeit verstreichen fann, ehe die Sache zustande kommt. Auch ohnedies hätte ich die Sache hingezögert, um ihr nahe sein zu dürfen. Mittlerweile habe ich dem Baron versprochen, die dringendsten Gläubiger zu befriedigen, selbst die Bücher des Gutsverwalters einzusehen, das führt mich wieder und wieder nach Wolfshagen , unaufhaltsam meinem Schicksal entgegen. Es ist beschlossen. Zurück kann ich nicht. Der heutige Tag hat über mich entschieden.

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Ob sie eine Ahnung hat von den Gefühlen, die meine Brust durchbeben, während die Konvenienz mich zu förmlicher, gleich­giltiger Unterhaltung zwingt? Ich fürchte es fast, denn hin und wieder sehe ich ihr dunkles Auge mit unverkennbarem Ausdruck der Besorgniß, ja, der Angst, auf mich gerichtet, ein Erbleichen fliegt durch ihr Antlitz, ein Beben durch ihre Glieder, vergesse ich mich durch Blick oder Wort, und doch, wenn sie zu mir redet, tönt jedes Wort so schlicht, so warm, so herzlich, eine Fülle der Empfindung geht ein in meine Brust. Ich fühle mich so jung, so gut.-

V. 17. Avril 1880.