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unterstützen jeder Kapitalist von Herz eine ernste Pflicht hat, auch die billigsten Arbeitslöhne finden, Arbeitslöhne, die an Wohlfeil heit mit denen der Italiener sehr wohl konkurriren können."

Höchst verwunderte: Ah, ah! Hört, hört! und begeisterte Bravo , bravissimo! unterbrachen den Redner, der diesmal eine Kunstpause garnicht mehr nöthig gehabt hatte. Herr Alster hatte sich zu keinem Ausrufe hinreißen lassen, aber auf seinem Antlige hatten den Ausdruck der Verwunderung die deutlichen Zeichen steigenden Mißbehagens verdrängt.

Dafür leuchtete des Justizraths Antlig in vollem Behagen: " Ja, meine verehrten Herren. Ich habe im Vereine mit unserm über alles Lob und alle Erkennung hocherhabenen Freunde, dem Herrn Oberbaurath Schneemann, bereits die sorgfältigsten und umfassendsten Nachforschungen angestellt und kann konstatiren, daß erstens die Noth in unserm Oberlande nicht nur jetzt schon im Abnehmen ist, sondern daß sie ganz ohne unser Eingreifen im Sommer dieses Jahres als völlig gehoben zu betrachten sein wird. Ich kann ferner konstatiren, daß unsere Gebirgsleute zur Zeit der höchsten Noth im allgemeinen nicht in schlechteren Lebens­verhältnissen sich befunden haben, als die große Mehrzahl der Landbewohner in den östlichen Provinzen unsres deutschen Vater­landes fie unausgesezt, jahraus jahrein zu ertragen hat. Daß augenblicklich die allgemeine Lebenshaltung in unserm Gebirge schon eine nicht unerheblich bessere ist, als die jener deutschen Arbeiter, bin ich in der Lage, jeden Augenblick zu beweisen. Da es immer, wie unser verehrter Kollege Alster in so schönen Worten betont hat, unsere heilige Pflicht ist, den Bedrängten beizustehen, wo wir es nur immer können, so müssen wir eben auch da unsre Hand anlegen, wo die Noth am größten ist, und grade mit Bezug auf diese Erkenntniß freut es mich, drittens und letztens konsta­tiren zu können, daß es unserm vortrefflichen Oberbaurath ohne allen Verzug möglich sein wird, in genügender Zahl oberschlesische, posnische und ostpreußische Arbeiter zu engagiren, welche genau zu demselben Lohne arbeiten, als die Italiener Waldsteins, welche uns ermöglichen werden, bei unseren Bauten insgesammt ein Anlagekapital von millionen Mark zu sparen."

Damit schloß der Justizrath. Der Beifall, welcher ihm ge­spendet wurde, übertraf den, welchen Herr Alster geerntet, noch um ein Bedeutendes an Lebhaftigkeit und Wärme. Die Kollegen des Verwaltungsraths drängten sich um ihn und schüttelten ihm die Hände, mehrere ältere und an Leibesumfang nicht minder, als mit finanziellem Besitz gesegnete Herren konnten sich sogar nicht enthalten, den unübertrefflichen Rathgeber" in allen Ver­legenheiten, wie sie ihn nannten, ihren wahren Führer" begeistert an ihr Herz zu drücken.

Sehr zu seinem Nachtheil machte Alster noch einen ver­zweifelten Versuch, die Verwendung der Leute im Gebirge zu den Bahnarbeiten zu erzwingen. Aber alles, was er sagte, war

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Presse und Censur in Rußland . Die Existenz einer periodi­schen Literatur in Rußland datirt seit Peter dem Großen, der zuerst eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift ins Leben rief, welche sich nur mit Wissenschaften und schönen Künsten beschäftigte. Ihr folgte 1755, die Vorgängerin an Lebenskraft übertreffend, die ,, Moskauer Zeitung" ( ,, Moskovskija Wjedomosti"), welche jetzt ihren 125. Jahrgang erreicht hat. Diese ersten Zeitungen, denen 1802 in Petersburg der ,, Euro­päische Bote"( Wjestnik Evropy") und 1809 in Moskau der ,, Russische Bote"( Rußtij Wiestnit") folgte, waren ausschließlich der Literatur und Kunstkritik gewidmet. Gleichwohl bildeten sich auch hier bereits politische Gegensätze aus. Der Europäische Bote" entwickelte sich als Bertreter und Förderer des modernen Liberalismus und der Russische Bote" machte in Kunstkritiken, Novellen und wissenschaftlichen Aufsäßen für die Jdeen Propaganda, deren Gesammtheit sich heute wohlaus gewachsen unter dem Begriffe des Panslavismus" präsentirt. Also entwickelte sich unter den Fittigen der von der Regierung freundlich geförderten Belletristik" eine politische Zeitungsliteratur, die in den engsten Grenzen zu halten das Regime des Kaisers Nikolaus nachdrück lichst bestrebt war. Das natürliche Mittel hierzu bot sich in der Cen­sur. Auch das übrige Europa kannte und kennt noch diese Institution, aber nirgends hat sie so reiche und so seltsame Blüthen getrieben als im ,, heiligen" Rußland. Daß es den Zeitungen untersagt war, irgend etwas an der Regierung oder ihren Funktionären zu tadeln, mag sich in Rußland von selbst verstehen, aber man ging weiter und verbot ausdrücklich jeden Verbesserungsvorschlag. Die Censur des Kaisers Nikolaus war eine doppelte. Den Einbruch fremder Geistesprodukte überwachte und hinderte an den Grenzen des Czarenreiches der Zoll­wächter mit den bekannten scharfen Augen und hohlen Händen. Im Innern war es ein völliges System von Fachcensoren, welches die ge­

in den Wind gesprochen. Die Harmonie der Interessen, welche der Justizrath zwischen den reichen Aktionären und Verwaltungs­rathsmitgliedern und den armen ostdeutschen Arbeitern entdeckt hatte und welche sich so vortrefflich dokumentirte in den fabelhaft geringen Arbeitslöhnen, die diese Arbeiter zu nehmen gern bereit waren und jene großen Bauunternehmer noch viel lieber zahlen wollten das war das Zauberwort gewesen, welches die Ohren der Herren Kollegen für die schönen Worte ihres all­verehrten Freundes Alster für heute eisenfest verschlossen hatte.

Die Vorschläge Wichtels wurden von der Mehrheit der Ver­waltungsrathsmitglieder zum Antrag erhoben und mit allen gegen zwei Stimmen, darunter die Alsters, angenommen. Der Ober­baurath übernahm den Auftrag, sofort mit dem Engagement von mehreren tausend ostdeutschen Arbeitern vorzugehen und die Bahn­arbeiten im weitesten Umfange, sobald als es die Witterung nur irgend erlauben würde, beginnen zu lassen.

Was im Verwaltungsrathe vorgegangen und beschlossen wor­den war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Stadt und Land. Billigung und Mißbilligung machten sich geltend; die einen be­wunderten und priesen die hohe Weisheit der Eisenbahnchefs, während die andern einen bedenklichen Widerspruch in dem Han­deln von heute finden wollten gegenüber den schönen Humanitäts­reden und Wohlthätigkeitsaufrufen, welche dieselben Herren zur Zeit des schlimmsten Nothstandes zu Gunsten der armen Gebirgs­bewohner losgelassen hatten.

Während in P. selbst die öffentliche Stimmung eine getheilte blieb und keine besondere Aufregung vorerst weder für noch gegen das nun kaum noch abzuwendende Vorhaben der Eisenbahnleitung zu bemerken war, schlug die Nachricht in der Baugegend im Ge birge ein wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Zuerst herrschte ein paar Tage eine unheimliche Stille, dann vernahm man überall und aus jedem Munde den Ruf: Nein, wir können es nicht glauben, es ist garnicht möglich. Uns hat man Arbeit ver­sprochen, wir haben gehungert und haben die Noth an unsere Thüren klopfen sehen in jeder Gestalt, wir darben noch und werden wieder hungern und verhungern, wenn wir Arbeit wenn wir diese Arbeit nicht bekommen. Uns will man tausende von fremden Arbeitern ins Land schleppen, damit wir zusehen können, wie sie arbeiten, wir werden bettelnd auf den Dorfstraßen umherlungern und unsere Kinder aus Nahrungsmangel daheim elend zugrunde gehen- nein, nein, tausendmal nein ist und bleibt rein nicht menschenmöglich.

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So tönten die Entrüstungs- und Angstrufe auf allen Wegen und Stegen, in allen Wirthshäusern und Wohnungen der Gebirgs­dörfer wider, und diese Rufe pflanzten sich fort bis in die Zeitungen von P. und über P. hinaus in die des ganzen Landes und riefen überall Aufregung und Bewegung, Bitterkeit und Feindseligkeit gegen die Eisenbahnverwaltung hervor.( Fortseßung folgt.)

druckt sein wollende Literatur behütete. Da trennte sich von der all­gemeinen Censurbehörde, welche ursprünglich dem Unterrichtsministerium untergeordnet war, zuerst die geistliche Censur ab, die auch noch heute besteht. Dann bildete sich dieses System der Arbeitstheilung immer weiter aus. In das Kriegsministerium kamen die Manuskripte, welche militärische Dinge behandelten; in das Finanzministerium wanderte, was auf Bolts- und Staatswirthschft Bezug hatte, und so ging das fort bis zu den Gestütsdirektionen und bis zur Verwaltung der peters­burger- moskauer Eisenbahnen, welche alle Schriften censirte, die den Betrieb ihrer Linien erörtern wollten. In gleicher Weise entwickelte sich dieses Protektions- und Censursystem an den Universitäten und Akademien, an welchen die angestellten Professoren den in ihr Fach ein­schlagenden Publikationen das Imprimatur( deutsch : es werde gedruckt) ertheilten. So geschah es denn, daß weit mehr Geschicklichkeit und

issen" nöthig waren, ein Buch zum Druck zu befördern, als dazu, ein gutes Buch zu schreiben und selbst die alten römischen und griechi­schen Schriftsteller wurden nur verstümmelt den Unterthanen des Czaren verabreicht. Mit dem Regierungsantritte Alexander II. wurden diese Spezialcensuren beseitigt, aber die allgemeine Censur blieb bestehen. Sie handhabte ihr Amt bald streng, bald nachsichtig, nach den wechseln­den Strömungen und Stimmungen; sie erlaubte auswärtige Bücher heute und verbot den nächsten Tag andere; der index romanus, das Verzeichniß der seitens des Papstes verbotenen Bücher, fand im feind­lichen Petersburg seinen Genossen, nur daß man im vorsichtigen Rom auf gefährliche Prinzipien fahndete, während den petersburger Censoren Prinzipien und Doktrinen recht harmlos vorkamen, wenn nur nicht un­angenehme Thatsachen und praktische Erörterungen vorgebracht wurden. So lernte die jeßige russische Jugend die extravagantesten Theorien kennen und ihrer Phantasie blieb die Ausführung überlassen; so wurde