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diese Phantasie durch die leichtfertigen und unsttlichen, aber erlaubten| Ableger der westländischen Literatur vergiftet, so bildeten sich die ersten geheimen Gesellschaften zur Anschaffung und Lektüre von verbotenen Büchern, so wurden die Bande, welche den Genuß der verbotenen Frucht" um die Genossen schlang, durch die Furcht vor der Strafe ge­stählt; so bildete sich der Verschwörungstrieb in der russischen Gesell­schaft. Auch die offene Tagespresse fand Mittel, die Censur zu täuschen und zu umgehen. In keinem Staate ist die Kunst der Anspielungen, welche das Nichtgesagte errathen lassen, der Anwürfe, welche das Gegen­theil dessen bedeuten, was sie vorbringen, die Kunst zu tadeln in den Formen der Lobeserhebung, dieselbe Kunst, mit der Provost- Paradol und Forcade das zweite Kaiserreich bekämpften, weiter gediehen als in Rußland  . Die reichsten und schärfsten Waffen aber bezog die russische Bresse von der Regierung. Der discretionären Gewalt eines Gouverne­ments preisgegeben, das selbst kein einheitliches ist und in welchem die verschiedenen Departements fortwährend mit einander in Konflikte ge rathen, wurde für jedes Blatt ein einflußreicher Patron zur unentbehr­lichen Existenzbedingung. Alle die Meinungsverschiedenheiten und Ri valitäten im Schoße der Verwaltung fanden ihre Organe in der Presse; das Publikum las, lachte und wußte, wie viel es vom Angreifer und Betroffenen zu halten hatte, und bei den ,, kompetenten" Lesern wurden diese Angriffe zu Denunziationen und übten vernichtende Wirkung der Censur zum Troß. Vornehmere Schriftsteller suchten im Auslande ein Asyl für ihre patriotischen Strebungen. Herßen insbesondere hat mit seiner Glocke"( Kolokol") den Weg gezeigt und eröffnet, welchen heute die Verschwörer als Laufgräben zur Vernichtung des bestehenden Regimes benüßen. Der Kolokol" erschien in London   und wurde in Rußland  ebenso streng verboten, wie allgemein gelesen. Der eifrigste Leser war Kaiser Alexander II  . Eine Nummer enthielt einmal mit allen Beweisen heftige Angriffe gegen einige Personen des Hofes. In ihrer Verzweiflung ließen die Aermsten eine andere Nummer drucken, in der natürlich der unbequeme Artikel fehlte. Wenige Tage darauf fand der Kaiser das echte Exemplar auf seinem Schreibtische, und in der nächsten Nummer erzählte Herzen seinem kaiserlichen Leser den Versuch und das Mißglücken jenes Hofstreiches. Das heißt, man ließ den Journalen die Wahl, sich wie bisher der Präventivcensur zu unterwerfen oder gegen eine Kaution von 2500 Rubel frei zu schreiben unter Gewärti­gung der Verwarnung, Suspendirung, gerichtlichen Verfolgung, Ent­ziehung des Postdebits und des Rechtes, Inserate aufzunehmen. Man sieht, daß die Freiheit wenig damit gewann, aber um so mehr die Bequemlichkeit. Die Aktualität der Nachrichten und Artikel war ge wonnen; für die heilsame Tendenz sorgte jetzt der Eigennuß der um ihr rentables Unternehmen besorgten Herausgeber und auch wohl die Regierung selbst, welche durch Communiqués den Journalen eröffnet, welche Themata derzeit ,, unpassend" erscheinen. Rußland   findet heute seine öffentliche Meinung durch eine respektable Anzahl großer Blätter wie ,, Golos", Petersburger Zeitung", Moskauer Zeitung", Börsen zeitung" und Neu- Zeit" repräsentirt. Adel und Bürgerschaft können diese Zeitungen und die ausländischen, soweit sie der Censor nicht ,, in Kaviar taucht", halten und lesen. Das Volk hört auf den Popen ( Priester), den Tschinownik( Beamte) oder den Verschwörer; lesen kann es nicht. In den Provinzialstädten herrscht noch die Censur, und man mag sich vorstellen, mit welcher Freundlichkeit der Censor das Erscheinen eines neuen Zeitungsblattes begrüßt, das seine Arbeitsstunden und seine Verdrießlichkeiten vermehrt. Ein Prozeß hat vor kurzem auf die Zustände der russischen Provinzpresse ein grelles Streiflicht geworfen. Es handelte sich um den Obzor" in Tiflis  . Der Redakteur dieses Blattes, ein Armenier namens Nikoladzé, war angeklagt, einen Artikel, trop des Censurverbotes, gedruckt oder vielmehr die Erlaubniß des Censors zum Abdrucken erpreßt zu haben. Der Censor erzählt die Sache selbst folgendermaßen: Der fragliche Artikel war ein Feuilleton mit der Ueberschrift: Sonntagsplaudereien." Ich erhielt den Artikel Samstag Abends, las ihn und sendete ihn mit dem Verbote des Ab­druckes zurück. Darauf legte ich mich schlafen. Ungefähr zwei Uhr morgens, eine Stunde, nachdem ich meinen Boten an die Redaktion geschickt hatte, werde ich durch Läuten geweckt. Ich gehe auf den Balkon und höre unten den Angeklagten, der mich heftig zur Rede stellt, warum ich das Feuilleton verboten hätte. Er verlangte, von mir empfangen zu werden, und, da ich mich weigerte, fing er einen solchen Lärm an, daß in der Straße bald alles wach wurde. Da in der Nachbarschaft mehrere Persönlichkeiten"( soll heißen: angesehene Personen) wohnen, so mußte ich dem Skandal ein Ende machen und wohl oder übel den ergrimmten Redakteur zu mir einlassen. Oben verlangte er ein Glas Branntwein, um sich zu beruhigen; dann lasen wir den Artikel zusammen, sprachen darüber, er war aber so heftig, so obstinat, daß ich endlich die Erlaubniß zum Abdrucke mit einigen Aenderungen gab. Freilich hätte ich es für besser gehalten, den Artikel ganz zu verbieten, und ich wich nur der Gewalt. Der Redakteur des ,, Obzor" wurde freigesprochen und drei Wochen später hatte der Obzor" zu erscheinen aufgehört. Nikoladzé hatte den Kampf mit dem freundlichen Censor aufgegeben.

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Y.

In der Höhle der Winde" unter den Fällen des Niagara­flusses.( Bild Seite 340 u. 41). Von allen Sehenswürdigkeiten auf unserer Erde, behauptet der vielgereiste Engländer Trollope, gebührt der Preis dem Niagarafall. Der Niagarafluß ist die Verbindungsader

zwischen den nordamerikanischen Seen Erie   und Ontario  , welch' letterer die Grenze zwischen dem britischen Kanada   und dem Staat Newyork  bildet. Der Fluß durchläuft mit seinen Krümmungen eine Strecke von 7 Meilen. Etwa 1/2 Meilen unterhalb Fort Erie theilt sich der Fluß in zwei Arme, welche die zu Newyork gehörige Insel Grand- Island  umfließen und nach einem Laufe von 2 Meilen sich wieder vereinigen; vor dem Ausflusse des westlichen Armes liegt das britische Inselchen Nawy. Etwa 1 Meile weiter unterhalb, Détour genannt, bei dem zu Newyork   gehörenden Dorfe Manchester   bildet der Strom den welt­berühmten Katarakt des Niagarafalls. Der Sturz der mächtigen Wasser­massen, die man auf 15 millionen Kubikfuß in der Minute schäßt, aus einer Höhe von etwa 160 Fuß, bietet ein Schauspiel dar, welchem kein anderes zu vergleichen, und das durch keine Schilderung würdig darzustellen ist. Unveränderlich ist die Fluth in ihrer Größe, und das Auge kann keinen Unterschied in der Wucht, in dem Ton oder der Ge­walt des Falls erkennen, man mag ihn in der Trockenheit des Herbstes, unter den Stürmen des Winters oder nach dem Aufthauen der oberen Eiswelten in den Tagen des' Frühsommers besuchen. Einen eigenthüm­liche Charakter erhält der Fall dadurch, daß das Wasser im Sturz nicht gebrochen wird, sodaß sich unterhalb des Falls aus hinlänglicher Entfernung der wunderbare Anblick einer senkrechten Riesenwasserwand darbietet. Das 84 Fuß dicke, fast ganz horizontale Kalksteinlager, über welches die ungeheure Wassermasse herabstürzt, ruht auf einem noch mächtigeren Schieferlager, das durch den feinen Staubregen, den der Wind und das Aufschäumen der Wassermasse in die Höhe treibt, ohne Unterlaß zersetzt wird, so daß der seiner Unterlage beraubte Kalkstein in großen Massen nachstürzt, wie dies namentlich den 28. Dezbr. 1828 und im September 1853 geschah. Durch diese fortdauernde Zerstörung der Felsen seines Bettes geht der Niagarafall immer weiter nach dem Eriesee   zurück, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Fall einst weiter unten bei der Stadt Queenstown   war, wo sich plößlich steile, hohe Bergrücken zu beiden Seiten des Flusses erheben. Quer im Niagara­fluß, ehe dieser in den Abgrund stürzt, liegt, seine Fluten in zwei Arme und zwei Fälle, einen östlichen und einen westlichen, theilend, ein umfangreiches Eiland, Goats- Island, oder Ziegeninsel genannt, zu welchem eine breite Brücke hinüberführt. Von Goats- Island springt eine Klippe in den westlichen, wegen seiner einen konkaven Bogen bil­denden Form Horseshoe( Hufeisen) genannten Fall hinaus, von welcher aus man bequem und sicher in das Chaos brandenden Wassers und zackigen Gesteins hinabsehen kann. Ein noch großartigeres Schauspiel genießt man, wenn man von Goats- Jsland aus in jenen Raum hinab­steigt, welcher sich zwischen der Felswand und den über sie in Bogen hinabstürzenden Fluten befindet. Das ist der Schauplaz unseres Bildes, die berühmte Cave of winds( Höhle der Winde), das Hochzeitsgemach des Wassers und der Sturmbraut, ein kleiner Theil nur der der Fälle, unter welchen sich der Mensch wagen kann. Wie aus unserem Bilde ersichtlich, sind es auch Mitglieder des schönen" Geschlechts, die sich in die Werkstatt der aufgeregten Elemente gewagt haben. Der Sprüh­regen, welcher diesen ganzen Raum erfüllt, und den Eindringling in kurzer Zeit vollständig durchnäßt, macht es nothwendig, daß diejenigen, welche das Wagniß, unter den Wasserfall zu gehen, unternehmen wollen, mit einem wasserdichten Anzug sich umhüllen und Filzpantoffeln an die Füße binden, denn nur sie ermöglichen ein Voranschreiten auf dem schlüpfrigen Gestein. Aber das Unheimliche der Expedition liegt weni­ger in der Glätte und Zerklüftung des Pfades, auf welchem man sich zwischen der Wasser- und Felsenwand hindurchzwängen muß. Wirklich beängstigend, ja für Kleinmüthige überwältigend, wie die Damen un­seres Bildes beweisen, wirkt der ungeheure Luftdruck, der athemrau­bende Zug, welcher schneidend und pfeifend dem Eindringling entgegen­schlägt. Graue, nebelige Dämmerung umgibt ihn. Kaum das Nächste vermag er durch die Masse des hin- und hergepeitschten Sprühregens zu erkennen. Ueber seinem Haupte wölbt sich der Fall. Das Gestein unter seinen Füßen bebt. Betäubt und nach Luft ringend sehen wir die Frauen den Männern in die Arme fallen; die Männer selbst müssen sich mit aller Gewalt an die Felsenwand drücken, um nicht in den schaum­gepeitschten Abgrund gerissen zu werden. Auch der stärkste Schrei, der er würde am Ohr des jeßt der geängstigten Menschenbrust entſtiege nächsten Nachbars ungehört verhallen. Aber es gibt kein Rückwärts! Voran muß, wer einmal soweit vorgedrungen. Längs der Felsenmaner auf und nieder, wo die Breite des Vorsprungs für den menschlichen Fuß zu schmal wird, führt ein schlüpfriger Weg. Endlich wird es heller schon löst sich der unsägliche Druck von Gehör und Lunge, und der volle Tag begrüßt aufs neue die Tiefaufathmenden. Es war ein anstrengendes, echt amerikanisches Vergnügen, aber noch lange nicht so gefahrvoll, wie der vor mehreren Jahren unter großem Andrang der Zuschauer aus beiden Hemisphären von dem berühmten Seiltänzer Blondin ausgeführte Spaziergang auf einem über dem Wasserfall von der Staat Newyorkseite nach dem kanadischen Ufer gespannten Seile. Der berühmte Wagehals nennt den Uebergang selbst sein Meisterstück und berichtet darüber in seinen Memoiren, daß er sich zwischen den 230 bis 280 Fuß hohen Felsenwänden, über dem Abgrunde, aus wel­chem weiße Schaum- nnd Wolkenmassen emporsteigen, die meilenweit gesehen werden, wie ein geflügeltes Wesen vorkam. Da die Niagara­ fälle   die direkte Wasserverbindung zwischen den Seen völlig unter­brechen, so hat man auf der kanadischen Seite den wichtigen Welland­kanal angelegt, der von Port Colbourer am Eriesee   gegen Norden nach Am 4. Juli 1848 ward eine Port Dalhousie am Ontariofee führt.

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