Die Scene Moll
Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volk.
No 2.
Erscheint wöchentlich.
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Luise zeigte in dieser Zeit des Kummers eine Thatkraft, eine Ausdauer und eine sich nie verleugnende Herzensgüte und Liebenswürdigkeit, die Frau Weiß mit thränenden Augen dankbar anerkannte und welche die ihr immer gehörende Neigung ihrer Nichten zur innigsten Verehrung steigerte. Aber Luise ließ sich mit dieser bisher geleisteten geistigen Beihülfe nicht genügen. Sie wollte die an keine Noth Gewöhnten auch materiell unter stützen, ihren beiden Nichten mindestens ein kleines Heiratsgut sichern, und darum beschloß sie, den Schatz von künstlerischem Können, den sie ungehoben in sich trug und in eigensinniger Verbitterung absichtlich vor aller Welt verschlossen hatte, jezt in ächt uneigennütziger Weise zu verwerthen. Sie eröffnete in Waidingen eine Musikschule. Sie hatte bald eine hinlängliche Anzahl Schüler und Schülerinnen, aber, wie schon gesagt, darunter manche nichtzahlende. Sie hatte an ihnen die meiste Freude; fühlte sich überhaupt glücklicher und zufriedener, als sie es seit der ihr Leben so traurig gestaltenden Katastrophe gewesen war. Sie erfrischte sich sichtlich an ihrer Thätigkeit und an dem Um gang mit jungen Leuten beiderlei Geschlechts, die ihr sämmtlich innig zugethan waren.
Nur hie und da verdüsterte ein Zug von Bitterkeit und Weltverachtung, eigentlich mehr nur Männerverachtung, ihr sonst so liebenswürdiges Wesen. Ihre beiden Nichten hatte sie auf besonderen Wunsch der Mama, hinter welcher die heimliche Drängerin Elvira stand, ebenfalls als Schülerinnen aufgenommen. Frau Weiß war jetzt zu der allerdings praktischen Ansicht gekommen, daß, wenn die Musikschule florirte, diese einmal von der einen oder der andern ihrer Töchter übernommen und weitergeführt werden könnte. Elvira hatte andere Absichten; das, was seit ihrer Kinderzeit instinktiv in ihrer Seele gelegen, der künstlerische Trieb, der Trieb, aus sich heraus zu schaffen und zu bilden, der bisher nur in unklaren, fast traumhaften Vorstellungen sich geäußert hatte, er hatte an Konsistenz gewonnen, er war zu einem Entschlusse geworden. Sie wollte zur Bühne gehen. Noch hielt sie diesen Entschluß geheim, sie war ja seit ihrer Jugend gewöhnt, was sie entzückte, tief berührte, in ihr Inneres zu verschließen; die Verstellung war diesem Kinde nur allzu geläufig geworden, und der Zeitpunkt, wo dieser Entschluß zur That werden sollte, war noch nicht gekommen. Aber sie dachte immer daran, sie arbeitete und bereitete sich darauf vor, alle ihre inneren Empfinngen, sowie all' die äußeren Ereignisse brachte sie in Ver
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1881.
[ 1880]
bindung mit demselben, betrachtete sie nurmehr von dem Standpunkte der angehenden Künstlerin.
Es war ein Jahr vergangen, seit die Familie Weiß in dieses Städtchen gezogen war. An dem heutigen Abend war bei Luise Licht; es fiel durch das große Erkerfenster in einem breiten Streifen auf die Straße. Sie hatte bis sechs Uhr Lektionen gegeben, und wahrscheinlich waren noch einige der Schüler bei ihr zurückgeblieben. Während es hier unten finster, kalt und stürmisch war, gab es da oben Licht, Wärme und behagliches Geplauder. Sollten wir da noch länger auf der Straße verweilen? Nein, wir gehen die wenigen Stufen hinauf und betreten Luisens Wohnzimmer, um sie und diejenigen, die sie um sich versammelt, näher zu betrachten, genauer kennen zu lernen.
Das Wohnzimmer war groß, sehr einfach, aber nicht ohne Geschmack möblirt. Die dunkle Tapete gab ihm etwas Trauliches und zugleich Distinguirtes. Ein großer bösendorfer Konzertflügel nahm die dem Fenster gegenüberliegende Wand ein. Er war geöffnet und verschiedene Notenblätter lagen verstreut auf ihm herum. In einer tiefen Ecke stand ein breites Ruhebett, mit einigen gestickten Polstern ausgestattet, es war in diesem Augenblick nicht okkupirt. Die ganze Gesellschaft hatte um den nicht allzu großen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, auf bequemen Stühlen Platz genommen, und die Petroleumlampe, die von der Decke herabhing, überstrahlte mit ihrem Lichte eine ganz allerliebste Gruppe. Dem Fenster gegenüber saß Fräulein Luise; ihr hübsches, ernſtes Gesicht, mit den intelligenten, aber kurzsichtigen Augen, war über einen Brief, den sie in der Hand hielt, tief herabgebeugt, vier reizende junge Mädchen bildeten die liebenswürdigste Umgebung, die man sich denken konnte. Zwei derselben waren die Nichten Luisens, Marie und Elvira, die beiden anderen ihre Freundinnen, die Schwestern Minna und Amelie Depauli. Die letzte, ein zartes, noch wenig entwickeltes Geschöpfchen von sechzehn Jahren, war die jüngste, ihre hochgewachsene, üppig erblühte Schwester, die vor einigen Tagen einundzwanzig Jahre und endlich einmal, wie sie selbst mit großer Zufriedenheit betonte, majorenn geworden war, die älteste unter dieser Jugend. Sie hatten alle ihr Arbeitszeug mitgebracht, aber die sonst so flinken Finger feierten und die Nadeln und farbigen Knäuel lagen verwirrt oder zerstreut auf dem Tisch und Boden herum, und niemand von ihnen dachte daran, sie aufzuheben. Wer kümmert sich auch um solche Kleinigkeiten, wenn
81353 1980