unmittelbar daran die Fahrstraße, dicht mit Pappeln besetzt, und jenseits derselben Wiesentriften mit einzelnen Baumgruppen, welche allmälich anstiegen und über welche eine Serpentine in den Wald führte.

In ziemlicher Höhe lag der Kirchhof und links davon, aber im Thale , bemerkte man die Kirche, das Schulhaus und eine Reihe anstoßender Gebäude, welche in grader Linie nach dem Flusse führten.

Das Thermometer war in den letzten Tagen gestiegen, der April zeigte indeß noch immer seine herkömmliche Launenhaftig keit, und auch der heutige Tag bot ein reizendes Wechselbild von mildfreundlichem Sonnenschein und hart niederrasselnden Regenschauern.

Es war um die fünfte Nachmittagsstunde. Elvira saß am Piano. Sie sang und begleitete sich selbst. Ihre Stimme klang voll und schön; ein hoher, ungemein sympathischer Sopran. Sie sang eine Arie aus dem Barbier von Sevilla ", welche sie heim­lich dem Notenkasten ihrer Tante entnommen hatte. Niemand beachtete diese häuslichen Studien; Mama verstand nichts davou, wenn sie einmal fragte, so antwortete ihr Elvira, es sei ein Kirchengesang, und Marie war immer viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. All die Sorgen und Arbeiten des Haus­halts ruhten allein auf ihren jungen Schultern; ja, es schien allen selbstverständlich, daß, wo es eine Arbeit gab, diese von Marie verrichtet werden müsse, wußte sie doch niemand so geschickt auszuführen. Mama war stolz auf diese gelungene Heranbildung zur fünftigen Hausfrau, und wenn dies in Zukunft gut für ihre Tochter sein konnte, so war es jetzt bequem für sie selbst. Elvira war ebenfalls von Kleinauf an das emsige Walten ihrer Schwester gewöhnt, und selbst Tante Luise, die sonst so Einsichtsvolle, war nur zu sehr geneigt, Marie, als von der Natur prädestinirt zu betrachten, von jedem eigenen Bedürfen abzusehen und ihren hauptsächlichen Beruf und ihre Freude darin zu finden, anderen zu dienen. Und war es denn nicht auch wirklich so? Aber eben Diese angeborne Herzensgüte und ihre Sanftmuth machten sie oft zur Dulderin, ihre Bescheidenheit zu der am wenigsten Beachteten, und ihre Unermüdlichkeit und Arbeitskraft brachte es mit sich, daß sie, wie oft, die Ueberbürdete war.

Auch heute gab es für sie Arbeit in Hülle und Fülle. Das Dienstmädchen hatte mit der Wäsche zu thun, Marie hatte allein die Küche über sich. Nach dem Mittagessen war sie daran ge­gangen, zehn Meter weißer Binnenstreifen zu plissiren; in einigen Tagen sollte der letzte Ball der Saison stattfinden, für die Mädchen der erste, den sie besuchen wollten, und da war ihr natürlich die

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ganze Herstellung des Puzes zugefallen. Nun hatte, zum Ueber­fluß, vor einer Stunde sich die Frau Hofräthin zum Kaffee an­sagen lassen; der mußte frisch gebrannt werden, sie trank nur solchen, etwas frisches Gebäck sollte besorgt werden, und Mama wünschte auch das feine Kaffeeservice, das wohlverwahrt in der Vorrathskammer sich befand, auf dem Tisch zu sehen. Schließ­lich fand Mama, die, ihre Anordnungen überdenkend und alles mit fritischen Augen prüfend, hin und her trippelte, daß auch die Thürklinken nicht mehr glänzend polirt aussähen, und da sollten denn auch diese noch rasch geputzt werden. Man sieht, Frau Weiß wußte die Auszeichnung zu würdigen, die ihr durch die häufigen Besuche der verwittweten Frau Hofräthin zutheil ward. Diese besonderen Aufmerksamkeiten wurden freilich mehr durch die Furcht, als durch die Freude veranlaßt. Die Dame galt im Städtchen als eine Frau von hoher Bildung und Distinktion, wozu ihr Titel allein schon die Berechtigung gab in unsrer Gesellschaft existirt ja noch immer dieser enorme Respekt vor Titeln-, dann besaß sie auch eine Zunge und übte damit eine schonungslose Kritit; man mußte sich also in acht nehmen und durfte sich vor ihr keine Blöße geben. Sie selbst war von ihrer hohen, geistigen Ueberlegenheit auf das innigste überzeugt; sie glaubte sich deshalb autorisirt, sich überall und in alles ein­zumischen, um gute Sitte und guten Ton unter die Leute zu bringen und ihnen über ihre Beschränktheit die Augen zu öffnen. Herrgott, wie würde es auch in Waidingen aussehen, wenn sie alles gehen ließe, wie es ginge, nicht hie und da rüttelte und die guten Leutchen vor der Bersumpfung oder vor allzukrassen Irrthümern bewahrte! In diesem Sinne hielt sie ihre Allerwelts­bemutterung für eine große moralische Pflicht. Für den Empfang dieser Frau wurden also alle Vorbereitungen getroffen. Marie, welche den Wünschen der Mama bestmöglichst nachzukommen suchte, kam einigemale erhitzt von der Küche in das Zimmer und ging, nachdem sie einiges zurechtgestellt, wieder zurück. Elvira Hatte sich bisher in ihrem Gesang nicht stören lassen. Auch ihre Wangen waren geröthet von der freudigen Empfindung, die das Bewußt­sein fortschreitenden Gelingens in einer ehrgeizigen Brust erregt. Technische Schwierigkeiten, die ihr vor einigen Monaten noch Mühe kosteten, überwand sie jetzt mit Leichtigkeit, und damit gelangte sie auch zu einer immer mächtigeren Entfaltung ihrer schönen Mittel. Und mit der Lust an dem eigenen künstlerischen Vermögen wuchs die Begierde, eine solche Lust auch bei andern zu erwecken. Sie verlangte, gehört zu werden, sie dürftete nach Anerkennung. ( Fortsetzung folgt.)

Diät des Geistes und des Herzens.

Von Dr. med. Eduard Reich.

Sehen wir, daß eine Bevölkerung sehr großes Gewicht auf das gute Essen und Trinken legt, so bemerken wir meist gleich zeitig, daß daselbst dem Geiste wenig gehuldigt, ja, derselbe oft genug garnicht geachtet, ganz in den Schatten gestellt werde.

Eine solche Art, das Leben zu durchschreiten, ist nicht allein unwürdig, sondern auch ungesund; denn die Erhaltung des Gleich­gewichts der Kräfte, und damit der Gesundheit, erfordert, daß nicht blos Ernährungsstoffe gebildet und in den Muskeln zersetzt werden, um Kraft und Wärme freizumachen, sondern auch in den Nerven umgesetzt werden, durch geistige Thätigkeit und Erhebung des Gemüths.

Daraus folgt, daß die eigentliche Gesundheitspflege eine Diät des Leibes ist, des Geistes und Gemüths, und daß kein Theil dieser Diät vernachlässigt werden dürfe, wenn die Wohlfahrt des einzelnen und der Bevölkerung erhalten bleiben soll.

Im großen und ganzen sind geistig regsame Nationen, die zugleich angemessen körperlich arbeiten, gesunder und von längerer Dauer des Lebens, als geistig zurückstehende, unentwickelte. In Europa wissen wir von den Skandinaviern und Franzosen , daß dieselben die besten Gesundheits- und Lebensverhältnisse bekunden. Dies ist jedoch nicht blos die Folge der günstigen geographischen Lage der nordischen Länder und Frankreichs , sondern auch der größeren Regsamkeit des Nervensystems bei den Bewohnern dieser Länder, der besseren Harmonie von Muskel- und Nervenarbeit.

Nordländer und Franzosen sind lebhaften Temperaments, er­nähren sich angemessen und zeichnen sich durch den Trieb, geistig

thätig zu sein, aus. Das Nervenleben ist bei diesen Nationen gesteigert, ohne das leibliche Leben krankhaft zu überflügeln. Nirgends in Europa wird soviel gelesen, als in Standinavien und Frankreich . Mögen auch viele Bauern auf französischer Erde des Lesens nicht mächtig sein, so macht dies ihrer geistigen Reg­samkeit keinen Abbruch und sie lassen Zeitungen 2c. von andern sich vorlesen. Die Provençalen haben viele große, breitschulterige, fräftige Gestalten aufzuweisen, die keineswegs das gute Essen und Trinken verschmähen; aber diese Kraftmenschen sind lebendig, beweglich, empfindlich, erinnern in keinem Stücke an die trägen Fettbäuche und werden auch bei weitem weniger, als diese, vom blutigen Schlagflusse getroffen. Infolge des gesteigerten Nerven­lebens kann bei dem Südfranzosen das Ernährungsleben niemals recht die Oberhand gewinnen, und es muß demgemäß die Gesund­heit auf einer etwas mehr gesicherten Grundlage stehen.

Es läuft aber auch allen Normen der Natur zuwider, wenn die Geistesthätigkeit stärker ist, als der Nahrung und ganzen Leibespflege entspricht und wenn die Anstrengung des Gehirns durch Schule und Erziehung allzu frühe beginnt. In beiden Fällen erfährt die Entwicklung des Körpers Hemmungen, und es entstehen, wegen des Ueberwiegens der Nervenarbeit und des Fehlens der nöthigen Menge ergänzender Stoffe, Zustände von Nervosität, Blutmangel, Lebensschwäche.

Die Bewohner jener Staaten, woselbst dem Körper nicht alles gegeben wird, was des Körpers ist, und von dem Geiste mehr gefordert wird, als derselbe bieten kann, pflegen große Mengen