zerstörende und zersetzende Wirkung, aber sie beherrscht das moderne Leben nicht in ihrem wahren Gehalte, und nur das wäre wirklich Anarchie. Wenn aber auch nicht im gesammten Leben, so doch auf der Schaubühne dokumentirt sich Anarchie, d. h. es macht sich nicht etwa der Mangel einer gewissen gleichmäßigen Ordnung", sondern ,, völlige Verwahi losung der ästhetischen Sagungen" bemerklich.

Daß bessere Bühnenleistungen in der That auf Beifall im Publikum rechnen könnten, beweist die neueste Geschichte der meiningischen Schau­spielertruppe. Die Meininger verfügen über sehr geringe Mittel im Vergleich zu jeder großen Hofbühne, sie streben aber ernstlich, das Theater in einer der Bildungsstufe des Zeitalters entsprechenden Weise umzugestalten," und dieses Streben sichert ihnen, obgleich es sich in ein­seitiger Weise wesentlich auf die Pflege des Aeußerlichen beschränkt, reichen Beifall überall, wo die deutsche Zunge klingt, von Berlin bis Wien , von Köln bis Riga , der sowohl den Leitern des Hofschauspiel­hauses in der Kaiserstadt an der Spree , als dem des Burgtheaters an der Donau die Schamröthe ins Gesicht treiben sollte.

Und wie die meisten Bemühungen der Meininger, so sind auch die dankenswerthen Versuche vereinzelter Bühnenleitungen mit Aufführungen literarhistorisch und theatergeschichtlich merkwürdiger Stücke, bis zur Antigone des Sophokles hinab in die Tiefe der Jahrtausende, nicht ohne Erfolg geblieben, haben sogar die Kassen gefüllt.

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Das Publikum also beweist mit seinem Verhalten den Meiningern und den klassischen Aufführungen gegenüber, wenn nicht sein tieferes Kunstverständniß, so doch ein garnicht so schwer anzuregendes Kunst­gefühl. Allerdings übt heute der durch die Richtung der Zeit auf das Reale geschärfte Sint auch der und vielleicht vornehmlich Massen gegenwärtig eine schärfere Kritik, als früher, an den theatra­lischen Leistungen, aber diese ist nur ,, Situationen und Gefühlsausbrüchen, welche von unserm Verstande nicht gesund und folgerichtig befunden werden" gefährlich, dem reinen, von jeder krankhaften Empfindelei und Verzerrung freien Ideal würde diese Kritik mehr und mehr zu statten kommen, sich an ihr schärfen und veredeln.

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Wenn heute ein Theaterdirektor den Hamlet, morgen die Antigone und übermorgen ein poesielos realistisches Schauspiel der modernen Tendenzmache oder ,, ten dialogisirten Zwitter irgendeines renommirten Novellisten" aufführt, dann hat er es seinem eignen Unverstande zu danken, wenn die Theilnahme des Publikums sofort wieder erkaltet.

Neben solchen Fehlern lassen sich die Theaterdirektoren noch viele andere nicht minder grobe Vergehen wider ihren Beruf zu Schulden tommen. So geht ihnen überall der Schauspieler, sobald er Virtuose ist und Namen hat, über das Schauspiel. Um die Virtuosen und die Virtuosinnen reißen sich die Bühnenchefs, jagen sie einander ab mit schwerem Gelde, und lassen aufführen, was nach deren Meinung diesen am besten auf den Leib paßt und Spektakel macht. Auf den inneren Gehalt des Dramas kommt es dabei nicht im geringsten an. Der Dramatiker tritt hinter dem Darsteller erst recht zurück. Neue Dramen werden in einem Bureauwinkel aufgestapelt, aber nicht geprüft; blind­lings wird gegeben, was anderwärts gefällt.

An diese Kritik unserer Theaterzustände reiht sich eine Kritik der Kritik, welche gegen das Fundament der köberle'schen Kunstanschauungen ausgespielt worden ist.

Die Norddeuts he Allgemeine Zeitung " hatte in ihrer gelehrten Beilage das Werk: ,, Die Theaterkrisis im neuen deutschen Reiche" durch den Vorwurf abzutrumpfen versucht, Köberle's Kunstanschauung schlüge ,, aller Aesthetik ins Gesicht", und sei eine der seichtesten zu nennen, die ihr ,, von einem berühmten Manne bekannt geworden" sei; sie sei ,, kurzweg Moral" von den Aufgaben und dem Wesen der Kunst als solcher habe er kein Verständniß.

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Das Zeitungsgeschwister, bettelarm an Gedanken und allem Besseren gegenüber begriffsstiigig, wie es einmal ist, obendrein von Profession sich dazu berufen fühled, überall mitzureden und mit der unwiderstehlichen Neigung behaftet, was aus den Geleisen des Ordinären weicht, nach Leibeskräften herur terzureißen, machte natürlich sofort den Chorus zu der Melodie, welche die offiziöse Norddeutsche vorgepfiffen, und wenn sich Köberle nicht sehr energisch gewehrt hätte, so wäre es so ziemlich in ganz Deutschland ausgemachte Sache gewesen, daß einer der hervor­ragendsten von den paar Dugend Männern im deutschen Reiche, die das innerste Wesen der Kunst wirklich erfaßt haben, absolut in Kunst­sachen nicht mitst rechen dürfe, wegen gröblichen Mangels an Verständniß wie es durch den glorreichen ,, allgemeinen verrückten Konsens" glücklich festgestellt worden war.

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was ist

Röberle will freilich ein ,, ethisches Theater", aber ein ,, ästhetisch­ethisches". Die Norddeutsche Allgemeine" und der Zeitungsschreiber troß wollten von der Ethik, der Moral auf dem Theater natürlich nichts wissen, wenn das Theater nur ,, ästhetisch" ist, sich nur um das Schöne und nichts weiter fümmere; das Schöne muß ja Selbstzweck sein, was soll also die Moral daneben, Moral ist Spießbürgersache eine veraltete Forderung für das Gebiet der schönen Künste das für ein beschränkter Mensch, der so etwas noch nicht weiß! Auf diese geistreiche Manier gedachte der Kunstgelehrte der ,, Nord­deutschen" die Berechtigung des Unmoralischen, der kleinen und der großen, der deklamirten, gesungenen und getanzten Boten für die Bühne schlagend zu erweisen. Er übersah dabei nur eines oder wollte es über­sehen: nämlich daß das Schöne und Gute, oder gelehrter ausgedrückt: das Aesthetische und Ethische( Moralische) nicht zwei Dinge sind, sondern ein einziges, was sich absolut nicht trennen läßt, und wenn man mit

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der ganzen Kraft der Unmoralität des neunzehnten Jahrhunderts auf der einen und der vollen Wucht der Geschmacklosigkeit desselbigen Jahr­hunderts auf der andern Seite daran herumzerrt. Das Schöne ist das in und mit den menschlichen Sinneswerkzeugen geschehende äußere Erscheinen des Wahren; und das Gute ist das sich der mensch­lichen Vernunft offenbarende innere Wesen des Wahren. Es ist allerdings nicht so gar leicht, das Wesen des Wahren, Schönen und Guten mit einem nicht begriffsgewandten Verstande zu durchdringen; und es ist speziell mit Bezug auf die Definition des Schönen vielfach von unsren Philosophen gesündigt worden. Köberle sucht ihn folgendermaßen vor Mißverständnissen zu schüßen. Er sagt: Der Schönheitsbegriff ist einer der wichtigsten in der Aesthetik, seine nähere theoretische Erklärung eine der schwierigsten. Vielleicht liegt eine annähernd richtige Definition in der Anforderung, daß die ästhetische Schönheit des, harmonischen Gleichgewichts und der, innigsten Durch­bringung des Geistigen und Sinnlichen' nicht entbehren könne. Fügen wir dieser, bekanntlich von Schelling und Hegel besonders fulti­virten Anforderung als weiteres Merkmal noch die von Lessing und Schiller so sehr betonte Eigenschaft bei, daß die ästhetische Schönheit mit den Vorschriften der Ethit im philosophischen Sinne des Wortes harmonirt, so möchte man sich wohl eine flare Vorstellung von dem Begriffe machen können, den ich mit dem Ausdrucke schön gern ver­bunden sehen möchte."

Die Folgerung, welche Röberle aus dieser seiner Definition des Schönheitsbegriffes zieht, ist sehr wichtig und richtig.

Meine Definition legt dem Dramatiker nicht die Pflicht auf, daß er uns Charaktere bieten müsse, welche dem Schönheitsbegriffe voll­kommen entsprechen; vielmehr liefert sie ihm nur den Maßstab zur Auswahl und Nebeneinanderfügung der für sein Kunstwerk sich eignenden Gestaltungen, und er wird z. B. laut dieser Definition leicht das Er­habene in dem Hervorragen des Geistigen über das Sinn­liche, das komische umgekehrt in dem Hervorragen des Sinnlichen über das Geistige, und das Häßliche in der rohen, geist verlassenen Sinnlichkeit erkennen. Ihm steht die ganze Mannichfaltigkeit der menschlichen Charaktere zur Verfügung, wie das Leben dieselben darbietet. Ja, er wird, just um dem Schön­heitsbegriffe sein Recht zu verschaffen, nach Maßgabe der Eigenart des dramatischen Genres sogar zu unvollkommnen Charakteren greifen müssen."

Die Entwicklung der Aufgabe des Dramas erläutert das Vor­stehende und bietet auch des Interessanten viel. Der Inhalt des be­züglichen Abschnittes ist folgender: Drama heißt Handlung. Diese Handlung muß bestehen in dem Kampf zweier Gegensäße, in dem Kon­flikte menschlicher Leidenschaften, und aus den darin gegebenen Begriffen Handlung, Streit, Widerstreit entspringen alle dramatischen Geseze. Der Dramatiker hat das Schönheitsideal mittels der Charaktere, aller aus ihren Leidenschaften entspringenden Konflikte und Handlungen oder vielmehr mittels der Folgen dieser Konflikte und Handlungen und mittels deren( dieser Folgen) läuternden Rückschlägen auf die Charaktere, nicht durch die Charakteranlagen selbst zur Anschauung zu bringen."

Nach mehreren Kapiteln kritischer Ausführungen, welche die Mode­dramen der Lindau , Felix Dahn und Laube gebührend in ihrer Schwäche und dramatischen Nichtigkeit kennzeichnen und in unserm Schlußartikel in kurzer Zusammenfassung gewürdigt werden sollen, wendet sich Köberle zu eingehender Erläuterung dessen, was er unter dramatischem Charakter versteht. Er entwickelt diesen Begriff folgendermaßen: Jeder normale Mensch besitzt in seinem Innern ein ihm eigenthümliches Ideal, d. h. die Vorstellung von einem Zustande, der ihm als der Inbegriff der höchsten Schönheit und Glückseligkeit erscheint. Dies subjektive Ideal steht nicht selten im vollsten Widerspruch mit dem objektiven Ideal, d. h. mit dem Begriffe wahrer Schönheit und Glückseligkeit. Nichts­destoweniger gehört es zur innern Natur des Menschen und ist von ihm unabtrennbar; die Marionette besigt kein Jdeal: sie liefert nur Stoff zu phantastischen Verzerrungen, die man mit den Augen des Ver­standes nicht prüfen kann, ohne sich widerwillig davon abzuwenden."

Daher darf keinem dramatischen Helden eine Handlung oktroyirt werden, welche seinen Charakter der Naturwahrheit beraubt und ihn zu einer lebensunfähigen Spielmarke in der Feder des Autors ernie­drigt; zweitens ist jede Begebenheit im Drama, welche nur den sub­jektiven Zwecken des Autors dient und nicht der naturwahr treibenden Willenskraft der dramatischen Charaktere entfeimt, undramatisch und verdient den Namen einer Handlung nicht."

Wir finden in den Charakteren der Menschen, meint Köberle, die­selbe Mannichfaltigkeit und dieselben Grundzüge, wie in den Gesichtern der Menschen. Alle haben etwas allgemein Menschliches aufzuweisen; unterscheiden sich aber von einander durch etwas jedem einzelnen Eigen­thümliches und durch die besondere Art, wie sie das der Gattung Anhaftende mit dem jedem Eigenthümlichen zu einer untrennbaren Einheit verbinden. Dies alles hat der Dramatiker bei der Darstellung seiner Charaktere auf das genaueste und liebevollste wiederzugeben. Derjenige, welcher seinen Charakteren nur das allgemeinmenschliche Gepräge gibt, zeichnet Schablonen, während der andere, welcher nur die Charaktereigenthümlichkeiten wiedergibt, Starrikaturen entwirft. Beide, Schablonen und Karrikaturen, entbehren des eignen dramatischen Lebens, und ihre dramatische Unzulänglichkeit kann nur durch allerhand theatra­lischen Firlefanz oder durch die täuschende Virtuosität der Darstellung küm merlich verdeckt, in keinem Falle aber gehoben werden.( Schluß folgt.)