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wimmeln. Alles scheint absichtslos, zwecklos, und ist doch nothwendig| bis zur untersten Zelle. Der gothische Baustil charakterisirt sich durch einen aus der Tiefe des deutschen Wesens hervorgegangenen schöpfe­rischen Geist, der alle Baugestalten und Verhältnisse in schönste Har­monie bringt und von der Beherrschung der kolossalsten Massen bis in die einzelnsten Ornamente denselben einheitlichen Plan befolgt; er charakterisirt sich ferner durch schönere Formen, freiere Bewegung, reich lichere Ausstattung der Gebäude, als wie sie der romanische Stil, aus welchem der gothische hervorgegangen, aufweisen kann. Hohe Giebel, steile Dächer, schlanke Thürme, Spizbogen in Thüren und Fenstern, fühne Gewölbe, in die Höhe strebende Pfeiler, die statt der früheren bloßen Wandstreifen auf den äußeren Mauern emporragen, architekto­nische Ausschmückung an den innern Flächen, wie an Thüren und Fenstern das ist das Gepräge der gothischen Baukunst, deren sämmt liche Gebilde auf dem Gesetz einer konsequenten Entwicklung weniger Hauptformen beruhen. Und wem verdanken wir die Kunst, die unsere Kirchen und Rathhäuser wie mit steingewordenem Spigengewebe über­zogen hat? Wir wissen es nicht, die undankbare Menschheit hat die Namen der Baumeister vergessen und nur die ihrer Brotherren, der Bischöfe, erhalten. Wohl waren es Bischöfe, die auch in der römischen Pflanzstadt die Baukunst zur Geltung brachten, man darf aber, wenn man die Priester als Förderer der Kunst rühmt, niemals vergessen, daß ihr Mäcenatenthum stets einer sehr egoistischen Triebfeder ent­sprang, daß sie die Kunst nicht um ihrer selbst willen, sondern ledig­lich zu kirchlichen Zwecken oder zur Erhöhung des Prunkes begünstigten und unterstüßten. Die Rührigkeit der Kölner war es, die diesen groß­artigen Plan ins Leben rief. Auf allen Meeren segelten ihre Schiffe, in allen Häfen der damals bekannten Welt fanden ihre Waaren Absatz. Als Mitglied der Hansa( norddeutscher Städtebund) brachte Köln den niederländischen Handel und das Hansakomptoir zu Brügge ( eine Stadt in Flandern ) fast allein in seinen Besiß. Damme bei Gent und London , damals eine unbedeutende Stadt, wo die Gildhalle der Kölner sich be­befand, waren die Vermittler zwischen dem Rhein einerseits und Flan­ dern wie England andererseits. Das im Jahre 1259 erworbene Stapel­recht, demgemäß alle die Stadt passirenden Schiffe dort ausladen, Zoll entrichten und dann auf kölnischen Schiffen weiter gehen sollten, trug gleichfalls zur kommerziellen Macht der Metropole der Rheinlande bei. Dazu blühten Gewerbszweige aller Art. Die Tuchweber wurden in­folge des starken Absages, den ihr Fabrikat auf allen Märkten Europa's fand, so übermüthig, daß sie wiederholt Aufstände anzettelten. Der regelmäßige Zustand der Stadt Köln in dieser Zeit war Aufruhr gegen die Patrizier und Parteifehde mit den Bischöfen und infolge dessen die Hinrichtungen so zahlreich, wie in einem asiatischen Staat. Dies wohl der Grund, daß die Chronisten jener Zeit nur Kriegsereignisse aufzeich neten, ohne sich viel um Friedenswerke zu kümmern. Im Jahre 1257 wird neben Heinrich Sunere Meister Gerhard als Bauleiter des Domes genannt. Den Entwurf des Grundrisses schreibt die Sage dem Domi­nikanermönch Albertus Magnus zu, einem Universalgenie, der nach spanischem und französischem Muster die gothische Bauart in Deutsch­ land eingeführt haben soll. Doch darf zur Steuer der Wahrheit nicht verschwiegen werden, daß den fast unglaublichen Thaten des Albertus Magnus der historische Hintergrund fehlt. Etwas bestimmter tritt der Baumeister Gerhard von Köln im Jahre 1295 vor. Siebenundzwanzig Jahre später vollendete Meister Johann den Chor des Domes, hundert Jahre später war der südliche Thurm zur Hälfte gediehen, aber erst zu Anfang des 16. Jahrhunderts wurde das Seitenschiff mit den prachtvollen Glasfenstern vollendet. Jetzt brach eine böse Zeit für den fölner Dom herein, Reformation, Krieg und Verarmung diktirten dem ,, deutschen Rom " das Naturgesez der Nothwendigkeit, nämlich von der Höhe herabzusteigen. Religionsstreitigkeiten bestimmten die fähigsten Ge­werbtreibenden zur Auswanderung. Nach Auflösung des Hansabundes wurden die Holländer tonangebend im Handelswesen und ruinirten im J. 1566 durch die sogenannten Licentgebühren die Hafenstellung Kölns . Da konnte man deutlich sehen, daß der Bau des Domes nicht aus dem Säckel der Pfaffen, sondern aus dem des Volkes bestritten wurde, und das Volk nagte am Hungertuch. ( Schluß folgt.)

Literarische Umschau.

Die Verwahrlosung des modernen Charakters." Ein Straf­und Mahnwort an die Zeitgenossen von Dr. M. Vogler. Leipzig , Verlag von Paul Frohberg. Preis Mark: 1,20.

Das bezeichnendste Merkmal des modernen Charakters ist, keinen Charakter haben. Der Schein ist es, der herrscht, dem man nachjagt und die Heuchelei ist das Mittel, durch welches man sich in seinen Besitz zu sehen sucht. Das gilt für's private und öffentliche Leben, und alle Gesellschaftsklassen stellen ihr Kontingent zu diesem verderb­

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lichen Treiben. Die sogenannten Gebildeten oder höheren Schichten sind nicht davon auszunehmen, weil sie das wahre Wesen echter Bil­dung und Gesittung infolge der unserer Zeit eigenthümlichen Erziehung meist nicht erkannt und das wenige, was sie vom Werth des Menschen fennen gelernt, unter der faden und schalen Maske der Etikette und der hohlen herrschenden Form des Salons ertödtet haben; die niedern nicht, weil ihnen überhaupt eine höchst mangelhafte Erziehung zu theil geworden, und andererseits die Sorgen um die Existenz jedes selbstän­dige Denken und Fühlen vernichtet haben, und sie infolge dessen nicht in der Lage sind, den Dingen auf den Grund zu kommen, also bei ihrem Urtheil an der Oberfläche, am Schein kleben bleiben müssen. Wer den Erfolg hat, dem wird zugejubelt, ohne zu untersuchen, ob man sich einer Selbsttäuschung hingibt oder nicht: heute ist man begeistert für den Milliardensegen und den Freihandel, morgen begrüßt man freudig die Schutzölle, heute ist man für diesen oder jenen großen Mann, morgen ruft man Steinigt ihn!" und erhitzt sich für seinen Gegner. Genau so im Parteileben. Wie anders wäre denn sonst das Renegatenthum und die Großmannssucht zu erklären, die in dem Be­streben zutage tritt, seine früheren Gesinnungsgenossen in der wider­lichsten Weise mit Schmuß zu bewerfen, wenn nicht aus dem Umstande, daß die äußeren Erfolge irgend welcher Partei eine große Zahl Men­schen herbeizogen, die aber zu beschränkt, um in das innere Wesen der Sache selbst einzudringen, in Fällen der Noth davonliefen, um das, was sie früher vergöttert und gepriesen, in den Staub zu ziehen! Cha­rafterfestigkeit, Selbständigkeit im Denken und Handeln gilt für Narr­heit, wird verspottet oder doch verächtlich über die Achseln angesehen. Mit einem Wort, das, was den Menschen zum Menschen macht, die Wahrung seiner Individualität, hat in der herrschenden Tagesmeinung keinen Werth; die Person soll untergehen in dem trüben und schlam­migen Brei der herrschenden Parteien. Die Intoleranz ist somit zu dem einzig herrschenden Prinzip geworden. Religiöse( Kulturkampf und Judenhazz) und politische Verkeßerungen und Heßereien bestätigen dies. Ist es ein Wunder, wenn weniger stark beanlagte Menschen die große Mehrheit ist dies leider!- diesem Druck der öffentlichen Meinung nachgeben, zu Heuchlern werden, um sich ihre leibliche Eri­stenz zu sichern, und wenn infolge dessen alles Pflichtgefühl gegen die Gesammtheit mehr und mehr verschwindet, nur noch das Sonderinter­esse herrscht und das Streben nach dem äußeren Schein, nach Titeln, Orden u. dgl. immermehr zum Verderben des Menschenwohl um sich greift? Ist nicht eine feile, gesinnungslose Presse sofort bei der Hand, um die sich irgendwo regende Gesinnungstüchtigkeit öffentlich zu denun­ziren und somit ihrem Träger die Existenz abzuschneiden! Der den Lesern der ,, N. W. " zur genüge bekannte Verfasser der obengenannten Schrift hat das Verdienst, den unserer Zeit eigenen Typus des Cha­rakters, d. h. der herrschenden Charakterlosigkeit, blosgelegt und dessen Verwahrlosung nebst den dazu beitragenden Ursachen gezeigt zu haben. Der verderbliche Einfluß der Presse, die von dieser Großmacht ersten Ranges gepflegten Schamlosigkeiten, das öffentliche Feilbieten in den Zeitungen von allen dem gesitteten Menschen heiligen Gütern, den Ge­heimmittelschwindel, Heiratsanzeigen, Unterstützung der gemeinen Speku­lation auf ökonomischem und politischem Gebiet u. s. w. u. s. w. finden ihre verdiente Züchtigung. Ebenso der verslachende und versumpfende Charakter unserer belletristischen Literatur, die profitmacherischen Be­strebungen vieler Verleger, die Käuflichkeit der Schriftsteller, die Ehe­vermittlungen, der Einfluß des Mammons auf die Gesezgebung, kurz, das verderbliche Umsichgreifen der Unsittlichkeit auf allen Gebieten der Deffentlichkeit, die Sphären der Kunst nicht ausgenommen. Wir müssen uns bei dem hier kurz Angedeuteten genügen lassen, wer sich über das hochwichtige Thema nähere Aufklärung verschaffen will, der kaufe sich die empfehlenswerthe, 6 Bogen starke, sich auch äußerlich gut reprä­sentirende Broschüre selbst, er wird darin viel des Beherzigenswerthen finden. Die Mittel und Wege zur Besserung sind gleichfalls angedeutet, wenn wir auch die Bemerkung nicht unterdrücken können, daß hier etwas mehr Ausführlichkeit am Blaze gewesen wäre. Doch auf einen Hieb fällt kein Baum und auf einem von vornherein engbestimmten Raum lassen sich nicht so hochwichtige wissenschaftliche und philosophische Fragen endgültig erledigen. Daß der Verfasser aber von vornherein sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe vollständig bewußt war, sagt er in seiner Vorrede selbst, und es mag hier nur eine, von ihm als berechtigt anerkannte und mitgetheilte Stelle aus einem Werke von Melchior Meyr dies bestätigen: Es ist eine entsetzliche Mission, an der Ver­edlung der Menschen arbeiten zu sollen. Man muß die Halunken an­greifen, die Glück machen bei der Menge und das erklärt sich der Böbel aus Neid ; und sogar in den Augen besserer Menschen hat es etwas Gehässiges. Man muß sich rein aufopfern und gegen den Strom schwimmen unter den Verwünschungen der Charlatane und ihrer Ver­ehrer und unter dem Achselzucken der Philister. Man hat Teufelsmühe und Teufelsdank!"

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Inhalt.' Die Schwestern, Roman von M. Kautsky( Fortsetzung). Ueber das Problem des Fliegens, von Ingenieur P. Köhler ( Schluß). Mein Freund, der Klopfgeist. Eine Spiritistengeschichte aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, von H. E.( VI.) Hauch von Lessings Geiste( Fortsetzung).-Ueber Pflanzenwachsthum bei gehemmter Transpiration.- Der kölner Dom in seiner Vollendung ( mit Illustration). Literarische Umschau.

Verantwortlicher Redakteur: Bruno Geiser in Leipzig ( Südstraße 5). Expedition: Färberstraße 12. II. in Leipzig . Druck und Verlag von W. Fink in Leipzig .

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