Die Geschichte des deutschen Reichs ist tausend Jahre alt; sie beginnt mit der Theilung des von Karl dem Großen zur höchsten Blüte gebrachten fränkischen Reiches durch den Vertrag von Verdün im Jahre 843 nach Christi Geburt  . Verfolgen wir unsre germanischen Altvordern, bis dahin, wo die Fackel der Geschichte in das Dunkel ihrer Wälder auch nur noch den leisesten Lichtschimmer fallen läßt, so sehen wir 950 Jahre vor der Grün­dung des Reichs, um 115 vor Christi Geburt, die beiden kriegs­gewaltigen Stämme der Cimbern und Teutonen aus ihren Wohn­sigen an den Küsten der Ostsee   aufbrechen, um in die sonnige Italia zum heißen Kampf um reichen Länder- und Beutegewinn hinabzusteigen. Die Römer und Griechen sind die Väter unsrer Kultur, unsere geistigen Ahnen, wie die blondlockigen, breit schultrigen Barbaren des germanischen Nordens unsre leiblichen; der sonnige Tag der griechisch- römischen Kultur ging zu Rüste, als vor den Augen der Cimbern und Teutonen sich die un geahnten Wunder derselben aufthaten; und doch ist die Geschichte des römischen Volks um kaum 400 Jahre älter, als die der Germanen, und die Geschichte der Griechen reicht noch nicht 500 Jahre weiter, als die römische, zurück in die Nacht der Vergangenheit.

Machen wir die Geschichte dieser sogenannt klassischen Kultur­völker in Italien   und Griechenland   zu der unsern, wie wir ihre Kultur zu unserm Eigenthum gemacht haben und heute noch mehr und mehr zu unserm Eigen erobern, so können wir auf eine Geschichte von fast 3000 Jahren pochen und uns etwas darauf einbilden.

Nur vor den Chinesen dürfen wir nicht damit prahlen, wenn wir nicht mit gutem Fug ausgelacht werden wollen. Sie hatten ihre Reichsgeschichtsschreiber in nie unterbrochener Reihenfolge schon ein und ein halbes Jahrtausend lang, ehe der Urvater unserer Poeten, der alte Homer, der Griechen erste, gewaltige, aber doch nur sagengeschichtliche Heldenthat, den Kampf um Troja  , besingen konnte.

Die Griechen, diese unsre vornehmsten Kulturahnen, rühmten sich ihrer sieben Weisen, deren Namen in den Schulen der Gegen­wart noch den lernbegierigen Schülern eingeprägt werden.

Die Chinesen verehren zehn Weise, die an Weisheit den sieben Weisen Griechen nicht nachstehen und an historischen Erfolgen sie weit überragen.

Einen Christus besitzen die Chinesen in Laotse  ( auf deutsch  merkwürdigerweise: das alte Kind), dem tiefsinnigen Propheten ihres siebenten Jahrhunderts vor der christlichen Zeitrechnung, der in dem Buche Taoteking, zu deutsch  : Weg zur Tugend, seine Lehren niedergelegt hat. Nach ihm gibt es ein höchstes Wesen, d. i. die Weltvernunft, die zu erkennen und ihr in höchster sittlicher und intellektueller Vervollkommnung nachzustreben, die höchste Weisheit, das einzig berechtigte Streben des Menschen ist. Die höchste Sittlichkeit ist zu finden in der Reinheit des Herzens, in Ruhe der Seele und der Herrschaft über die Begierden. ,, Nur der," heißt es im Taoteking, der ganz frei ist von Leiden­schaften, wird im stande sein, das höchste geistige Wesen zu er­fassen; der dagegen, dessen Seele beständig von Leidenschaften getrübt ist, sieht nur das Endliche- die Schöpfung."

Wie das Christenthum lehrt die Tao- Religion den Dualismus, die Zweiheit und Gegensäglichkeit von Leib und Seele, und die Unsterblichkeit der letzteren. Nicht ist das Verlassen des Körpers für uns ein Unglück, sondern in Wahrheit wird es heißen: ,, wir haben das ewige Leben empfangen."

Ganz gleich dem Christenthum, nur eben soviel früher als dieses, daß die Jesuitenmissionäre des 17. und 18. Jahrhunderts meinten, den Chinesen sei das Christenthum selbst ein Jahr tausend früher, als den Juden und also auch den wirklichen Christen geoffenbart worden,- ganz gleich dem Christenthum, sage ich, lehrt die Religion Laotse's Abtödtung des Fleisches, Ent­sagung gegenüber den irdischen Freuden und Verzicht auf alle Geschäfte und Hantirungen des Alltagslebens. Und im Taoteking finden wir eine Menge von Stellen, welche in der Uebersetzung genau so klingen, als wären sie einfach aus dem Neuen Testa­mente" abgeschrieben.

Für die Abtödtung des Fleisches und das Zurückziehen von den Geschäften und Freuden der Welt waren die Chinesen aber schon vor zweieinhalb Jahrtausenden zu weltverständig. Darum folgte dem schwärmerischen chinesischen   Heilande Laotse   auf dem Fuße der weltlich gesinnte große Sittenlehrer Kongfutse( Con­fucius), d. i. Lehrer Kong  , im sechsten Jahrhundert vor Christi

Geburt.

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Der Sinn der Menschen, ihr Handeln und Denken völlig und ausschließlich auf das Irdische zu richten, das war die den Lehren der Tavreligion schnurstracks entgegenwirkende Aufgabe des Konfutse.

Den tief- innern Sinn der Taolehren, die erhabenen Spe­kulationen über die Weltvernunft, konnten die Chinesen von da= mals natürlich ebensowenig durchdringen und in ihrer geistigen Reinheit erfassen, als irgendein Volk bis zum heutigen Tage dazu fähig gewesen wäre, ein menschenähnlich gedachter Schöpfer drängte sich jedenfalls so gut wie bei andern religiösen Völkern an die Stelle der höchsten unpersönlich gedachten, das All durch­dringenden Vernunft. Solchen Widersinn bekämpfte des großen Kongfutse klarer Verstand. Nirgend in seinen Schriften spricht er von einer Schöpfung und einem Schöpfer oder von sittlicher Weltordnung. Eine aufs höchste gesteigerte Pietät gegen die Vorfahren ist seine einzige, über die Grenze des eigenen Lebens des Individuums hinausgehende Idee, welche in seinem Moral­system Platz hatte, sie ist auch die Grundlage desselben. Bürger­licher Ordnungssinn, Gehorsam gegenüber den Gesezen, und Humanität, d. i. Billigkeit, Duldung, Versöhnlichkeit, allgemeines Mitgefühl, legt es dem Volke, Gerechtigkeit und Milde gegen das Volk den Fürsten   ans Herz. Und seltsam! Wie durch Laotse werden wir auch durch die Lehren des Konfutse ans Christen­thum erinnert. Das Seid unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat", auf welches der Nazarener ein so großes Gewicht legte, ist das A und O der Staatsmoral des chinesischen   Weisen, und mehr als eine Stelle von Jesus   berühmter Bergpredigt ist dem Chinesen nahezu wörtlich nachgesprochen!!

Aber wie die Laoreligion nicht die Weisen und Gebildeten befriedigen konnte, so vermochte die götter- und mysterienlose, für gedankenarme Menschenkinder trostlos nüchterne und öde Lehre des Konfutse dem ungebildeten Volke nicht zu genügen.

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Daher sehen wir vom zweiten Jahrhundert vor Christi an die merkwürdigste und sagen wir es nur ohne jene vielbeliebte, der Wahrheit widersprechende Rücksicht auf die Religion, in deren mächtigem Bann wir aufgewachsen auch die gedankenreichste und gedankentiefste, die großartigste Religion, welche die Kultur­geschichte kennt, diese sehen wir im Reiche der Mitte Anhänger und um den Beginn unsrer Zeitrechnung herum als Staats­religion Anerkennung gewinnen.

Es war die Religion des Buddha, der das Christenthum bis heute noch nicht einmal in der Zahl seiner Anhänger den Rang abzulaufen vermochte. Ziemlich soviel millionen Menschen mehr, als sich zur evangelischen Konfession bekennen, verehren in Buddha ihren Heiland und einer, freilich nicht überweltlichen Gottheit Sohn, wie Katholizismus, Protestantismus  , griechische Kirche und alle übrigen christlichen Sekten zusammen.

Und nun der innerste Kern der Ideeninhalt!

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Der Buddhismus   umspannt alles menschliche Wissen nach allen seinen Richtungen und Verzweigungen hin mit einem un­geheuren, nie und nimmer auszufüllenden Rahmen. Er läßt sich nicht mit einer Welt genügen, sondern versteht von millionen und abermillionen zu weissagen. Nach ihm war von Uranfang her der unendliche, bis zur völligen Leere ins Unendliche ver­dünnte Stoff. Durch dessen Verdichtung entstanden die ersten Welten, die wieder zerstört wurden durch Verdünnung, Aus­dehnung und Verflüchtigung des Stoffes. In ihrer unendlichen Reihe stehen die Welten mit einander in innerem nothwendigen Zusammenhange, und alles, was da ist, wird regiert von einer unbegreifbaren Nothwendigkeit mittels des obersten Weltgesetzes von Ursache und Wirkung. Die Welten folgen stufenweise auf­einander, eine ist immer vollkommner als die andre, Sonder­gestaltungen und belebte Wesen entstehen durch die Wirkungen von Feuer und Licht, und das Gesetz der Vervollkommnung be­herrscht wie die Welten so auch die belebten Wesen, die, von Welt zu Welt wandernd, sich allgemach mehr und mehr ver­geistigen bis zur höchstmöglichen Stoffverdünnung und Verflüch­tigung, d. i. bis zur Rückkehr in den Urzustand alles Seienden, der da ist Nirwana, der Zustand der reinen Geistigkeit und absoluten Ruhe und Glückseligkeit.

Der Mensch steht nach dem Buddhismus   auf der Grenze zwischen Glück und Unglück. Wahres Glück besteht in der völligen Bedürfniß- und Begierdenlosigkeit. Der Kern des menschlichen Wesens aber ist der Drang nach Befriedigung immer neu sich gebärender Bedürfnisse, nach Stillung immer wieder hervor brechender Begierden. Daher kommt alles Elend in der Welt und darum kann der Mensch nie vollkommen glücklich werden;