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speziell gegen ihn, den sie auch noch mit solch einem geschmackvollen Anredehenkel und Adressenzierat verschont hat. Aber es ist doch un­möglich, so denkt der, gewiß verdienstvolle, Literarhistoriker Kurz, daß Chamisso das Vaterland mit jenem nichtigen Dinge, dem Schatten, habe vergleichen wollen! Unmöglich? Chamissos wirkliches Vater­Unmöglich? Chamissos wirkliches Vater land war Frankreich  . War es ihm blos darum zu tun, dieses Vaterland wieder zu gewinnen, warum war er nicht für die Dauer nach Frank reich zurückgegangen es hinderte ihn ja kein Mensch daran, und so lieb wie die deutschen Regierungen war ihm zweifellos die des ersten Napoleon auch. Die Literarhistoriker hätten sich nur daran zu erinnern brauchen, was Chamisso als seine Heimat betrachtete, so würden sie nicht mer haben leugnen können, daß ihm dieses angeborene Vater­land trog ihrer blinden Voreingenommenheit für alles Angestammte nicht mer war als ein Schatten. Wie sang er bei der Ankunft in Swinemünde   von seiner Weltreise im Oktober des Jares 1818?

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Heimkehret fernher aus den fremden Landen, In seiner Seele tief bewegt der Wandrer; Er legt von sich den Stab und knieet nieder, Und feuchtet deinen Schoß mit stillen Tränen, O deutsche Heimat!

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Deutschland also war ihm heimat, hier nicht im Lande, in dem er geboren, in seinem Vaterlande, wollte er leben und sterben. In einer anderen Zeit, als die von 1813, hätte sonach Chamissos fein em­pfindendes Herz von dem Gefüle der Vaterlandslosigkeit kaum mer als gestreift werden können, und unter anderen Kulturmenschen, als deutsche Philister nun einmal sind, würde es ihn wol auch nicht mit einem leifen Hauche angefochten haben, nachdem ihm das Land, wo er aus der Geistesdämmerung der Kindheit zum Vollbewußtsein des Mannes herangereift, zur waren Heimat geworden war. Aber gute Deutsche  waren und sind selber zu gefülvoll, als daß sie nicht jede Gelegenheit benußen sollten, bei jedem Mitgefülsmenschen beständig die empfind­lichsten Gemütssaiten aus purem Mitleid anzuschlagen. Der Mann ist ser unglücklich. er hat kein Vaterland", schreibt der biedere Perthes. Wie oft mögen Chamisso diese Worte in jener vaterlands- überbegeisterten Zeit ans Dr geklungen sein? Wie oft mag er sie von gutmütigen, mit einer gewissen Scheu wie sie einen vor notorischen Unglücksmenschen zu ergreifen pflegt ihn betrachtenden Antligen abgelesen haben? Wie oft mag er dieses Mitleid, das nicht blos bei ganz rohen Naturen gar leicht umschlägt in jene Selbstzufriedenheit, welche von den neu­testamentlichen Worten trefflich charakterisirt wird: Ich danke Dir, Herr, daß ich nicht bin wie dieser Zöllner wie oft, frage ich, mag er nicht diese Art Mitgefül mit Fug und Recht übersetzt haben in das Arndt'sche Anatema: Pfui über Dich Buben hinter dem Ofen zwischen den Schranzen, zwischen den Zofen? Und daß für alles Wehe, welches Freund und Feind dem tatendurstigen, freiheitsglühenden Manne, der in der taten­frohesten, freiheitsgewissesten Zeit dennoch zu tatenlosem Zuschauen ver­dammt blieb, daß dieser sich wenigstens innere Genugtuung zu schaffen suchte, dadurch, daß er in des Peter Schlemihl   tragikomischer Historie jenen und sich den Spiegel vorhielt, wer findet nicht dies gerade so natürlich, so ganz eines Dichters würdig? Von diesem Gesichts­punkte aus deutet sich auch auf das einfachste die sonst angesichts der religiösen Anschauungen Chamissos schwer erklärliche Wendung des Märchens, bei der Schlemihl auf die Wiedergabe des Schattens gegen Verpfändung seiner Seele verzichtet. Dieses Schlemihls Seele" war die Liebe zur neuen Heimat, das Bewußtsein, daß er sich nicht mer lossagen könne von dem deutschen Land und dem deutschen Lied, das war's, was ihn den Schatten des angestammten Vaterlandes für alle Zeiten hingeben ließ. ( Schluß folgt.)

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Studentinnen und Verwantes. Das alte Vorurteil, daß es , unweiblich" sei, den weiblichen Geist wissenschaftlich zu bilden, ver­schwindet mer und mer. In Paris   wird jezt ein Gymnasium ein­gerichtet, in dem Mädchen wesentlich denselben Unterricht erhalten sollen, wie Knaben und Jünglinge in den Lyceen. Und wärend die deutschen Universitäten sich noch gegen die Zulassung von Studentinnen" sträuben, haben die beiden für so verzopft geltenden Universitäten Englands, Orford und Cambridge, wissenschaftliche Institute für Damen gegründet. Daß an den schweizer Üniversitäten Damen immatrikulirt werden können, ist bekannt. Die italienischen Universitäten sind ebenso tolerant; bergangenes Jar studirten auf denselben, wie Prof. Laveleye berichtet, elf junge Damen, die ihr Maturitätsexamen gemacht hatten und von ihren Lehrern sehr gelobt wurden. In Italien   ist es bei­läufig nichts neues, daß Mädchen den Wissenschaften huldigen. Die Professorinnen der Rechte Novella   und Calderini, welche im 14. Jar­hundert, und die Professorinnen Arcangela Paladini  , Laura Bassi  , Maurolini, Agneti und Tambroni, die später, bis zum Ende des vorigen Jarhunderts, an der Universität Salerno   Philosophie, Natur­wissenschaften und die klassischen Sprachen lehrten, haben die wissen schaftliche Befähigung des weiblichen Geschlechts glänzend bewiesen, und es ist in der Tat schwer faßlich, wie, angesichts solcher Beispiele, über­haupt noch ein Zweifel obwalten kann. Die obengenannte Calderini war beiläufig das Modell für die Portia im Kaufmann von Venedig".

Am meisten ist für die wissenschaftliche Gleichberechtigung des Weibes in Amerika   geschehen. Im Jar 1879 wurde der Harward­

Universität ein ,, Anner" für Damen zugefügt; und sofort meldeten sich 27 Studentinnen, welche die Kollegien für Griechisch, Lateinisch, Sans­krit, neuere Sprachen, Geschichte, Matematik, Physik und Naturwissen­schaften besuchten. Nach Verlauf eines Jares schreibt der berühmte Professor Goodwin über das ,, Experiment":" Die Erfarungen des ver­flossenen Jares haben mich überzeugt, daß unser Erziehungsplan für das weibliche Geschlecht durchaus seinen Zweck erfüllt. Strebsamen Mädchen ist jezt bessere Gelegenheit geboten, sich wissenschaftlich aus­zubilden, als jungen Männern noch vor 15 Jaren." Die jungen Damen sind sehr fleißig und bekommen durchschnittlich bessere ,, Marken" ( Zeugnisse), als die Studenten. ,, Die jungen Damen", sagt Dr. Peabody, sind ausnamslos von ernstem Wissenseifer erfüllt und fähig, und einige von ihnen sind sogar ungewönlich begabt." Außer dem Harvard­Annex gibt es in den Vereinigten Staaten   noch verschiedene, mit Uni­versitäten verknüpfte Anstalten zur wissenschaftlichen Ausbildung von Mädchen, darunter auch eine Gesellschaft für das Studium zuhause", welche durch Ratschläge, Unterrichtsbriefe u. s. w. schriftlich wirkt, und die günstigsten Resultate erzielt. Durch dieses Institut, an welchem 150 Lehrer und Lehrerinnen tätig sind, erhalten etwa tausend Studen­tinnen( students) in sämmtlichen Staaten der Union   und in Kanada  Anweisung und Unterricht. Das Honorar beträgt järlich blos zwei Dollars, wofür noch Bücher geliehen und mineralogische und sonstige Sammlungen zur Ansicht geschickt werden natürlich gegen Zalung des Portos.

Wol noch wichtiger als diese, speziell für Mädchen und Frauen bestimten Anstalten, ist für die Erziehung des weiblichen Geschlechts in Amerika  , daß fast sämtliche höhere Bildungsanstalten, Colleges( Gymna­sien) und Universitäten weibliche Schüler und Studentinnen gleich­berechtigt aufnemen. Im Jare 1800 gab es in den Vereinigten Staaten 24 Colleges, von denen kein einziges Mädchen zuließ; zwischen 1860 und 1870 sind 75 neue Colleges errichtet worden, und von diesen sind vier Fünftel beiden Geschlechtern offen. Der gemein­same Unterricht beider Geschlechter bewärt sich vorzüglich. ,, Noch fein College, welches Mädchen einmal zugelassen hatte, hat Ursache gehabt, es zu bereuen," heißt es in einem uns vorliegenden Bericht. Es gibt aber auch eine ganze Menge Colleges blos für Damen. Die berühmtesten sind das Smith College   und Vassar  - nach den Stiftern benannt welche über Lehrkräfte ersten Ranges verfügen. Am Vassar College   lehrt u. a. die Professorin Maria Mitchell  , ſeit dem Tode der bekannten Mary Somerville  , die erste Astronomin der Welt.

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Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß in den Vereinigten Staaten   das weibliche Geschlecht mit dem männlichen auf vielen Gebieten konkurrirt, die man bei uns als über dem weiblichen Horizont liegend betrachtet. Es gibt viele Advokatinnen, namentlich in den westlichen Staaten; in San Francisco   hat z. B. Miß Gordon eine der bedeutendsten Klientelen, ,, sie plädirt in einem schwarzen seidenen Kleide, eine Rose im Gürtel." Ferner hat man in Amerika  67 Geistlichinnen verschiedener Konfessionen, und 525, in Worten: fünfhundertfünfundzwanzig, rite obgleich in Amerika  , doch nicht amerikanisch" promovirte Aerztinnen, allerdings den 62 000 männlichen Aerzten gegenüber noch eine winzige Minorität, die reißend schnell wächst. lb

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Heilkunde in der Kinderstube.( Bild S. 249.) Hat man doch seine liebe Noth mit den kleinen! Kaum ist der junge Erdenbürger auf der Welt, so beginnt auch schon der Kampf ums Dasein, die Sorge, das bischen Leben zu erhalten. Und nun gar, wo eine liebe alte Tante im Hause ist, die den Beruf in sich fült, der Gesundheit des kleinen Würmchens mit so allerlei altbewärten Hausmittelchen auf die Strümpfe zu helfen. Da mag der Papa noch so ser protestiren, wenns nicht anders angeht, werden hinter seinem Rücken dem unschuldigen Kindlein allerlei Säft­chen und Tees beigebracht. Die kann der kleine schwache Magen natür­lich nicht vertragen, und das Elend ist fertig. Eine ganze Schar bedenk­licher Kinderkrankheiten hält, nicht trog sondern gar oft wegen der leidigen Kurirerei, ihren Einzug ins Haus, sodaß die geängstigten Eltern immer um das Leben ihres Lieblings einen langen und schweren Kampf zu kämpfen haben. Beim Kommerzienrat Leberecht Habermann ist die Medizinflasche teine Seltenheit. Die Leute haben's dazu, sie können einen Hausarzt bezalen; und daß der sein Honorar nicht umsonst empfängt, dafür ist schon gesorgt. Eins ist wenigstens immer ,, unwol" in der Familie, und wenn es auch nur ein ganz ordinärer Schnupfen wäre, welcher der Frau Mama- die schon in der Pension in brillanten Onmachten eine annerkennenswerte Uebung gewonnen hat­die gräß­lichsten Leidensgeschichten entlockt. Nun gar die beständigen Zanschmerzen Gustav's, des Erstgebornen. Trotzdem der Junge nie anders als wol­verpackt im Kaisermantel und mit Watte in den Oren an die Luft kommt und ihm wegen der ,, garstigen" Witterung die umsichtige Mutter streng das seinen Kameraden viel Freude machende Schlittschulaufen verboten hat, sind doch oder auch hier vielleicht gerade deshalb Erkältungen an der Tagesordnung. Da muß der Doktor helfen- ja, was man doch für Not mit den Kindern hat! · Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme. Die kleine, hübsche und gute Lisbet weiß schon längst Krankengeschichten zu erzälen. Die schmucke Gliederpuppe, ihr hübsches Gretchen, das sie mitten auf den weichen Bolsterstul placirt hat, friegt offenbar die ersten Zänchen, und so etwas get selbstverständlich

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