Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volt.

No 28.

Erscheint wöchentlich.

-

In Heften à 30 Pfennig.

Preis vierteljärlich 1 Mark 20 Pfennig. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter.

Herschen oder dienen?

Roman von M. Kautsky.

Dieser größte Raum des Hauses, der es der Länge nach durchschneidet, und in den zu beiden Seiten die übrigen Ge­mächer münden, ist für die altitalienische Bauart höchst charakte­ristisch. In den Tagen von Venedigs   Glanz mußte die Sala, mit Bracht und künstlerischem Aufwand ausgeschmückt, den zal reichen Gästen des Hauses einen passenden und höchst will kommenen Versamlungsort geboten haben, in dem Musik und Tanz und Spiel und jedes gesellschaftliche Vergnügen erhöten Reiz gewann. In unseren Tagen, wo diese Räume verödet, wo feine großartigen Feste mer in diesen Palazzi   gefeiert werden, ist sie zu einem Vorzimmer heruntergesunken, und zu einem recht unbequemen obendrein.

Marie durcheilte den Saal, dessen Marmorboden, wie eine Eisfläche, ihre Füße durchkältete, mit raschem Schritt. Sie öffnete die Türe eines Gemaches, das nach einem Seitengäßchen ging, der Calle Minio, wo der Hauseingang von der Landseite aus sich befand. Das Gemach, das sie jezt betrat, war dunkel und leer, man bewonte es nicht, aber man gelangte von hier auf einen winzigen Balkon, wo das Aufzieseil mit einem Korbe angebracht war. Hölzerne Stangen ragten rund um den Balkon in die Höhe, und von einer zur andern waren in mehreren Reihen Stride gespant; es war dies auch die Hängestatt, wo, da alle diese Paläste keine Böden haben, die Wäsche getrocknet wurde. Heute waren die Stricke unbehängt geblieben. Marie trat auf den Balkon und sah hinab. In dem Gäßchen vor der Haustür stand, wie sie vermutet hatte, der kleine Pietro. Er hatte einen Korb neben sich gestellt, und die Hände in die Hosentaschen steckend, sprang er, um sich zu erwärmen und zu erheitern, mit ungemeiner Behendigkeit von einem Fuß auf den andern, wobei er Pfiffe laut werden ließ, die wie Notsignale flangen. O, er war auch schon sehr ungeduldig, der kleine Pietro. Marie ergriff rasch den Korb, der an der Mauer angehängt war, und ließ ihn an dem Seile hinunter. Wärend der Korb sant, mußte sie unwillkürlich einen Blick in das gegenüberliegende Fenster werfen, das in dem engen Gäßchen so nahe lag, daß sie von ihrem vorgeschobenen Standpunkte aus es mit der ausgestreckten Hand hätte erreichen können. Kein Vorhang bewarte vor indiskreter Neugier das Studier und Waffenzimmer des Signor de Vita, eines alt­venezianischen Nobile, der mit seine: Familie dies nachbarliche Gebäude, den Palast seiner Ahnen, bewonte. Marie sah ihn selbst und seine junge Gattin an einem Tische sizen, auf welchem eine angezündete Lampe brante, deren Schein das enge Gemach

1881.

( 1. Fortsezung.)

vollständig erleuchtete. Die beiden hatten sich wol aus den großen Sälen, die nach dem Kanale zu lagen, wo sie der Kälte und dem Winde ausgesezt waren, hierher geflüchtet, wo es enge und ruhig war und wo sie sich vor diesen Unbilden geschüzter glaubten. Bei de Vitas gab es nämlich gar keinen Ofen, man verachtete dort diese Rauch, Ruß und Krankheiten erzeugende Maschine des Nordens, aber die edle Familie litt augenscheinlich unter diesem Vorurteil. Tomaso de Vita saß hier, wie er von der Straße gekommen war, in einen Mantel von Doublestoff gehüllt, den Cylinder auf dem Kopfe; seine Frau ihm gegenüber, in vielfache Shawls gewickelt, wie eine Mumie, sodaß nur das hübsche, helle Gesichtchen hervorguckte. Sie saßen zusammengekauert, vor Kälte zitternd, die Füße auf eine Kolenpfanne gestellt, und auf dem Schoße den Skaldino, ein kleines Kolengefäß, haltend, über welches sie mit vorgebeugtem Oberkörper die erstarrten Hände hielten. Auch sie getraute sich nicht, eine Bewegung zu machen, wodurch an ihren Körper eine erneute falte Luft sich herandrängen würde, und so blieb der gravitätische Tomaso de Vita und auch seine sonst so lebhafte und geschwäßige Gattin still und stumm, leeren Blickes vor sich hinstarrend.

Marie hatte dies Bild trostloser Jämmerlichkeit mit einem Blick erfaßt, es reizte ihre Lachlust. Die de Vitas, obwol die Italiener keineswegs den dummen Ahnenstolz andrer Nationen besizen, liebten es doch, mit einer gewissen Prätention aufzutreten und als Nobili sich zu geben, um so possirlicher erschienen sie in ihrer jezigen Situation. Ach, wie frieren diese Südländer, dachte sie, viel mehr noch als wir, und doch ertragen sie das Jar für Jar, one eine Abhülfe zu treffen. Es ist unbegreiflich.

Der Korb war unten, und sie wendete nun ihre Aufmerkſam­keit dem kleinen Pietro zu, ihrem Lieferanten, der ihr auf diese Weise die meisten Lebensmittel ins Haus schaffte.

Un litro di latte, qua uove, due chioppe," sagte er, in überlauter Betonung die Worte herausstoßend und zugleich die genanten Gegenstände, einen Topf mit Milch, Eier und zwei Stück eines unschmackhaften Weißbrotes in den Korb legend, basta!"

"

Er gab dem Korb einen leichten Stoß und lief davon. Marie begann, ihn langsam und vorsichtig heraufzuziehen. Sie entnam ihm die Eßwaren und eilte mit ihnen in die Küche, welche durch einen kleinen dunklen Gang mit der Sala in Verbindung war, und nachdem sie dort die Milch rasch abgekocht, kehrte sie wieder in das Zimmer zurück. Die vielbeharrliche Domenika und das

VI. 9. April 1881.