Er hat sie sich geöffnet mit dem Schwerte   des Geistes. Bei der Fabel des Romans", wenn anders für diese lose aneinander­gereiten satirischen Stizzen der Ausdruck Roman erlaubt ist, halten wir uns nicht auf nur soviel: in Vivian Grey haben wir Disraeli   wie er leibt und lebt: mit seinem Ehrgeiz, seinem Selbst­vertrauen und seiner Verachtung für die Mitglieder der regierenden Klasse. Der Judenjunge" erkent, daß die englische Aristokratie das Zeug nicht in sich hat, ihre Herscherstellung aus eigenen Geistesmitteln zu behaupten, daß sie jemand braucht, der sie fürt, der sie rettet. Die ganze politische Karriere Benjamin Disraeli's  läßt sich zwischen den Zeilen herauslesen.

" Was ich will, das kann ich," ist das Leitmotiv" seines Romans, wie es das Leitmotiv seines Lebens war. Die All­gewalt des menschlichen Willens. Und der Wille ist nicht blos Erfolg, er ist Genie.

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Zu Anfang der dreißiger Jare veröffentlichte Disraeli   das so­genante, Revolutionäre Epos"( Revolutionary Epic), welches ihm später mancherlei Verlegenheiten bereitet hat. Mit der Poesie es ist nämlich ein Epos in Versen hatte er kein Glück. Das Revolutionäre Epos" enthält nämlich eine Verherrlichung des Tyrannenmords und wurde wärend der Parlamentsdebatten nach dem Orsini  - Attentate, als Lord Palmerston   das Asylrecht zu beschränken suchte und dadurch seinen Sturz herbeifürte-, von den Liberalen und Radikalen gegen Disraeli   mit boshaftem Behagen ausgespielt. Er hat hernach eine verbesserte", d. h. " gereinigte" Ausgabe des schlimmen Gedichts veranstaltet.

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Die beiden Romane Venetia" und" Henrietta Temple" sind künstlerisch dem besten, was Disraeli   geschrieben hat, an die Seite zu sezen; sie haben für uns aber jezt ein untergeord­netes Interesse, weil sie der Individualität Disraeli's weniger zum Ausdruck dienen; sie kommen von allen disraeli'schen Romanen dem Jdeal des gewönlichen Romanpublikums am nächsten.

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geräte und ihre kostbaren Waffen in die Schiffe verladen, laßt fie, begleitet von ihrem Hofstaat und ihren Großen, den Siz ihrer Regierung von London   nach Delhi   verlegen. Da wird sie ein ungeheueres Kaiserreich fertig vorfinden, ein zalloses Heer und glänzende Einkünfte. Ich will für Syrien   und Klein­ asien   sorgen. Die einzige Möglichkeit, die Afghanen zu regieren, ist: durch Persien   und die Araber. Wir wollen dann die Kaiserin von Indien   als Oberlensherrin anerkennen, und ihr die Küste der Levante   sichern. Wenn sie will, soll sie Alexandrien   haben, wie sie jezt Malta   hat. Das wäre zu machen. Eure Königin ist jung, sie hat eine Zukunft. Aberdeen   und Peel werden ihr niemals diesen Rat geben; sie stecken zu sehr in ihren gewonten Vorstellungen und Vorurteilen; sie sind zu alt, zu schlau! Aber ihr seht selbst: Das größte Reich, das jemals bestand! Und hat sie das, so ist sie außerdem der Scheerereien mit ihren zwei Kammern enthoben. Und alles ist völlig ausfürbar, da der ein­zige schwierige Teil der Sache, die Eroberung Indiens  , an der Alexander der Große   scheiterte, bereits ausgefürt ist.

Der syrische Emir Fakredin, der diesen Zukunftsplan entwickelt, wird zwar von Disraeli   als ein hyperphantastischer, etwas wind­beutlicher Patron geschildert, ist aber doch ein Stück Disraeli  , und dreißig Jare später hat der Premierminister Disraeli   den Zukunftsplan des Romanschreibers Disraeli  -- so weit irgend ausfürbar verwirklicht.

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Die Scheerereien mit den zwei Kammern" hat sich der Pre­mierminister und Politiker Disraeli   aber sehr wol gefallen lassen, ja Freude daran gefunden.

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Man glaube übrigens nicht," Tancred", der beiläufig ein eng­lischer Adliger ist und sich zu Jerusalem   in eine Jüdin verliebt, die er warscheinlich auch heiratet, drehe sich blos um das Asische Geheimnis"( Afiamystery). Tancred" bildet den Uebergang zu den beiden lezten Romauen Disraeli's  : Lothar" und" Endy= , Coningsby" und" Sybil", die anfangs und mitte der mion", welche in der vornemsten englischen Gesellschaft spielen, vierziger Jare geschrieben sind, haben wir bereits als die hervor- und sich innerhalb des Kreises der Crême der Upper Tenthou­ragendsten Schöpfungen Disraeli's bezeichnet. Das politische sand Das politische sand der oberen Zehntausend- bewegen. Endymion", der Element wiegt in diesen beiden Romanen allerdings vor; aber wenige Monate vor dem Tode des Verfassers erschien, ist wol hat dasselbe denn nicht seine poetische Berechtigung? Es sind der schwächste Roman Disraeli's  ; die Gesellschaft ist etwas Tendenzromane. Gewiß. Aber hat der Dichter nicht das Recht zu ungemischt und der Kultus der Macht drängt sich oft ab­seine Anschauungen in seinen Werken zu verkörpern? Eine un- stoßend vor. fruchtbare Teorie mag sich mit diesen Fragen abquälen. Die Praxis hat sie längst beantwortet.

Der Roman der Gegenwart, ja fast die ganze Literatur der Gegenwart ist sozialpolitisch. Und wie wäre es anders möglich, da die Gegenwart der Sozialpolitik gehört?

Disraeli   ist, wie nach seinem Tod in den englischen Zeitungen zu lesen war, an dem eisigen Ostwind gestorben, den keine noch so sinreiche und kostspielige Vorrichtung vollständig vom Kranken­zimmer fern zu halten vermochte.

Und dem Einfluß der politischen Atmosphäre können wir uns noch weniger entziehen, als dem des Aprilwindes.

Den sozial- politischen Zeitinhalt von dem Roman, überhaupt von der Kunst ausschließen wollen, heißt dem Roman, der Kunst in der Gegenwart die Existenz absprechen.

Der sozial- politische Roman ist der Roman der Gegenwart. Und Disraeli   ist der Schöpfer des modernen sozial- po­litischen Romans.

Sollte sich die Gelegenheit bieten, so werden wir den Lesern der Neuen Welt" einige Szenen aus den beiden Hauptromanen vorfüren; besonders aus" Sybil". Deutsche Uebersezungen sind freilich vorhanden, jedoch, gleich den meisten deutschen Ueber­sezungen, aus lebenden Sprachen, von den gröbsten Schnizern und Geschmacklosigkeiten wimmelnd, so daß man nicht zum Genusse des Driginals gelangen kann.

Ein guter Uebersezer hätte hier eine dankbare und sicher auch lohnende Aufgabe.

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Sind in Coningsby" und" Sybil" die allgemeinen sozial­politischen Anschauungen Disraeli's niedergelegt, so hat er uns in" Tancred" seine Ansichten über die orientalische Frage mitge­teilt. Ihr Engländer", sagt Fakredin, einer der Helden, müßt den alten Plan Portugals   in großem Stile verwirklichen. Ihr müßt ein kleines und erschöpftes Land mit einem großen, weit ausgedehnten Reiche vertauschen. Laßt die Königin von England ihre Flotte versammeln, laßt sie ihre Schäze, ihr Geld, ihr Gold­

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Aber auch dieser Roman trägt das Gepräge seines genialen Urhebers und bildet ein Stück Zeitgeschichte.- Wer das neue England, wer die englische Gesellschaft kennen, hinter die Koulissen der englischen Politik blicken will, der muß Disraeli's   Romane nicht blos lesen, sondern studiren.

Was Dickens   für die untere Mittelklasse, das ist Disraeli  für die oberen Klassen. Sein Talent ist ein anderes, fein ge­ringeres. Und, mit einem umfassenderen Ueberblick begabt, ist es ihm besser gelungen, die unteren Klassen zu schildern, als Dickens  die oberen.

Mit Dickens   hat Disraeli   gemein, daß er seine Charaktere aus seiner Umgebung nam. Seine Figuren leben. Es ist- meist tadelnd behauptet worden, er habe Porträts und Karrikaturen geliefert. Unwillkürlich hat man ihm hiermit das größte Kompli­ment gemacht. Jedem warhaften Künstler passirt es, daß das Publikum in diesem und jenem die Originale des Bildes entdeckt. Sehr natürlich. Denn die Züge des Bildes sind aus der Wirk­lichkeit geschöpft. Aber der Künstler entlent den Menschen, welche ihm sozusagen Modell stehen, nur einzelne Züge, seine Gestalten schafft er selbst. Und das hat Disraeli   getan. Sein Sidonia ist Rothschild   und ist nicht Rothschild  , sein Lord Roahampton ist Palmerston   und ist nicht Palmerston   u. s. w. Seine Ge­stalten Leben, sind aus dem Leben gegriffen, sind aber keine Porträts.

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Genug der Dichter Disraeli   stet dem Staatsmann Dis­ raeli   ebenbürtig zur Seite. Er hat als Romandichter Hochbe­deutendes geleistet, freilich der genialste und wunderbarste No­man, den er gedichtet hat, ist das Leben Benjamin Disraeli's  , Lord- Kanzlers von England.

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Durch den jezt veröffentlichten Geburtsschein ist festgestellt, daß Disraeli   am 21. Dezember 1804, nicht 1805 geboren wurde, wie bis­her ziemlich allgemein angenommen ward.

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