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Das ist die uralte germanische Föderation, die ganz und gar dem deutschen Geiste, dem deutschen Bewußtsein von Recht und von Freiheit entspricht. Wie sehr dies der Fall ist, darüber seien mir, bevor ich auf mein Tema zurückkomme, noch ein par Be­merkungen gestattet.

Die schweizerische Eidgenossenschaft vereinigt in ihrem Ver­bande drei Nationalitäten, Deutsche, Franzosen, Italiener . Die überwiegende Mehrzal der Kantone und der Einwoner sind deutsch ; der Rest bestet größeren Teils aus französischen, geringeren Teils

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aus italienischen Elementen. Drei Nationalitäten in einem und demselben Staatsverbande sind drei Rivalitäten; in einer Re­publik wächst die Rivalität nur gar zu leicht zur Eifersucht, zu Haß und Feindschaft und Hader empor. In der Schweiz leben alle drei Nationalitäten in brüderlicher Eintracht beisammen. Das schweizerische Volk hat das Höchste erreicht, zu dem ein Volf sich erheben kann: es hat sein nationales Bewußtsein seinem staatlichen Bewußtsein untergeordnet. ( Fortsezung folgt.)

Der Selbstmord und

Von H. K.

Der Pathologe der Arzt, der im Aufsuchen und in der Feststellung der Krankheiten den Hauptzweck seines Studiums findet unterscheidet zwischen Grundübeln und, dieselben fast immer begleitenden und von ihnen abhängigen, Nebenkrankheiten, und dem praktischen Arzte ergibt sich aus dieser Unterscheidung die kostbare Lehre, daß er, um dem leidenden Menschen die Ge­sundheit wieder zu schenken, die Art seiner wissenschaftlichen Be­handlung dort anlegen muß, wo der eigentliche Siz der Krank­heit, das Grundübel, sich befindet.

Nicht allein der Mensch, sondern auch die Menschheit wird von Krankheiten heimgesucht, und auch hier muß man von Grund­übeln und Nebenkrankheiten sprechen, und wehe einem Volke, an dem ungeschickte Aerzte die Nebenleiden kuriren wollen, one das Grundübel zu behandeln. Es ist allerdings leichter und für die Gemütsruhe des Patienten besser, von den Nebenleiden als von dem Grundübel zu sprechen, von Ünverdaulichkeit als von Magen­frebs, von Nachtschweißen als von Abzehrung, aber dem Patienten ersprießt daraus kein Heil und dem Uebel wird dadurch kein Halt geboten.

Ein Blick auf die Menschheit unserer Tage, auf die moderne, civilisirte Gesellschaft zeigt uns viele und schwere Leiden, frank hafte Erscheinungen, die auf eine untergrabene Gesundheit, einen zerstörten Organismus hindeuten, und in dem großen Schuld- und Leidensbuche der Menschheit, wie unserer Zeit, gibt es kein schwär­zeres Blatt als das des Selbstmordes. Der Selbstmord ist zu einer Massenerscheinung unserer Tage geworden, wir dürfen in ihm nicht mehr den freien Entschluß eines einzelnen Indivi­duums, das eigene Ich für immer zu zerstören und den trägen Stoff der Natur wieder zu geben, erblicken, wir müssen vielmehr in ihm eine geistige Epidemie, das traurigste Produkt des gesell­schaftlichen Allgemeinbefindens erkennen, das Symptom eines tiefen Leidens, den stichhaltigsten Beweis reformbedürftiger Verhält nisse! Wenn wir z. B. lesen, daß in Deutschland allein järlich neuntausend Menschen, in Frankreich siebentausend und in Dester reich( one Ungarn ) zweitausendsechshundert freiwillig aus dem Leben scheiden, wenn ferner berechnet worden ist, daß im Durch schnitte in ganz Europa jedes Jar fünfzigtausend Personen sich selbst den Tod geben oder doch wenigstens zu geben suchen, und wenn der freundliche Leser sich nun im Kopfe ausrechnet, wie viele Selbstmörder es demnach in zwanzig Jaren in ganz Europa gibt, dann mag wol die Frage erlaubt und natürlich sein: wie frank muß die Menschheit sein, wie ungenügend aller Fort­schritt und alle Kultur, ja wie barbarisch unsere raffinirteste Ci­vilisation, wenn troz alledem in Europa allein in zwanzig Jaren eine million Selbstmörder das Leben für eine Qual und das Nichtsein für eine Woltat ansiet!

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Eine million Selbstmörder- gab es je eine düftrere, furcht­barere Zal? Wessen Geist wäre stark genug, die Qual, das Leid und Weh zu fassen, die sie in sich begreift. Wer wagte es noch, mit Stolz auf eine Zeit zu blicken, die solche Erscheinungen gebiert!

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Zwar ist es allerdings richtig, daß der Selbstmord nicht von gestern her ist und daß unsere Zeit, die so viel erfunden, nicht auch ihn entdeckt hat; und der Selbstmord schleicht in der Tat als dunkler Gast durch die Geschichte fast aller Nationen, mit Aus­name der Völker im Naturzustande. Aber einenteils ist der Selbstmord in diesen Fällen entweder eine Einzelerscheinung, die Tat eines Wahnsinnigen, die durch ihre Seltenheit es dahinbringt, in den Jarbüchern jener Zeit angemerkt zu werden, oder aber die Folge einer epidemisch auftretenden Gehirnkrankheit, wie sie

seine Ursachen.

im Mittelalter häufig ausbrach und nach kurzer Dauer schnell verschwand.

Jm 14. Jarhundert trat z. B. am unteren Rhein eine krampf­hafte Tanzsucht epidemisch auf. Diejenigen, welche von der Krank­heit ergriffen wurden, zeigten eine auffallende Vorliebe für das Wasser und stürzten sich häufig hinein. Nicht viel später zeigte sich in Italien der sogenante Tarantismus, von dem uns Hecker erzält, daß die Kranken durch Musik zu einem wilden Tanze gebracht, auf der höchsten Stufe der Aufregung sich scharen­weise in die Fluten des Meeres stürzten, welche Todesart durch die Dichter und Sänger jener Zeit in Lied und Note verherlicht wurde.

Anderenteils aber tritt der Selbstmord in Massen als ein sicheres Zeichen und Symptom der Auflösung einer Gesellschaft, des Absterbens einer Kultur und der Fäulnis einer Zeit auf und als solcher wiederholt er sich fast mit geschichtlicher Notwendigkeit im Augenblicke des Niederganges eines Volkes oder einer Kultur. -Wie im Herbste die treibende Kraft der Natur innehält, ihre Werkstätten zu feiern und Wald und Flur nur ein Bestreben zu haben scheinen, sich ihres Schmuckes zu berauben und ihres Da­seins zu entäußern, so fülen auch die Menschen einer überreifen Zeit kein anderes Verlangen, als das nach Ruhe, keine andere Kraft als die, sich durch Dolch, Strick oder Messer aus dem er= bärmlichen Stande der Dinge glücklich in das Nichts hinüber zu retten.

Das alte Aegypten, das sonst so krampfhaft an dem Leben hing, siet den Selbstmord an den Ufern des heiligen Nils" herschen von demselben Augenblicke an, in dem eine neuere Kultur mit der alten der Pharaonen in Berührung tritt und die alt­ägyptische Gesellschaft sich zerbröckelt. Im alten Griechenland , das doch so lebensfrohe Tage sah, wird nach den Perserkriegen und in den Tagen des Verfalls der Selbstmord als das einzige Mittel, dem irdischen Jammer zu entrinnen, gepriesen und an­empfolen und eine Reihe der ausgezeichnetsten Männer sezt ihrem Leben ein freiwilliges Ende. Und dieselbe Erscheinung liefert uns Rom im Augenblicke seines Niederganges. Die Herren einer Welt, die Eigner ungeheurer Schäze werden lebensmüde und ihr größter Naturforscher Plinius schreibt einen Hymnus auf den Selbstmörder.

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Der Philosoph Seneka siet sich genötigt, gegen die Leiden­schaft für den Selbstmord" aufzutreten, und was tut er selbst?- er öffnet sich die Pulsadern, um zu verbluten. Die Verblutung aber get nicht rasch genug von statten; er läßt sich daher Gift reichen. Aber die Chemie stand damals noch nicht auf sehr hoher Entwicklungsstufe, das Gift wirkte nur langsam und der Straf prediger gegen den Selbstmord siet sich darum genötigt, durch heiße Dämpfe dem widerspenstigen Leben das lezte Flämchen aus zublasen.

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Es ist selbstverständlich, daß man auch damals sich um das Warum der Selbstmordseuche stritt und anstatt es im Nie­dergange der Gesellschaft, die auf dem Grundsaze des Rechtes der Stärkeren gegenüber den Schwächeren aufgebaut, wie jede an­dere solche Gesellschaft, mit dem Erstarken der Schwächeren sich auflösen mußte, zu finden, suchte man es, wie heutzutage im Ver­fall der Religion. Das Grundübel war eben nicht sehr be­quem. Nun ist der Verfall einer Religion, wie wir später sehen werden, allerdings ein Begleiter der Selbstmordmanie, keines­wegs jedoch deren Ursache. In Rom jedoch wollte man dies nicht einsehen und Kaiser Marc Aurel hatte daher nichts eiligeres zu tun, als im weiten römischen Reiche Gottesfurcht anzuordnen, Frömmigkeit zu dekretiren und die zerfallenden Altäre aufrichten