Augenblicke der Gefar und keiner der Genossen, der die Beschwer lichkeit der neuen Wanderung zu ertragen vermag, bleibt zurück. Diese Organisation ist die Gesellschaft.

Noch gibt es im Rahmen derselben keine Familie, keinen Fa­miliensinn, keine Familienmoral. Wie bei den Wandervögeln, so werden bei den nomadisirenden Völkerschaften die Kranken und Schwachen, die Greise entweder getötet oder zurück gelassen. Man fent feine Rücksichten, keine Pietät, weil teine Familie da ist. Diese Gesellschaft hat bereits eine hohe Kultur erlangt, hoch wenigstens im Verhältnis zu derjenigen der meisten Tiergesell­schaften, übertroffen vielleicht von einzelnen derselben, deren Ent­widelung unter günstigeren Verhältnissen vor sich ging.

Das nomadijirende Hirten- und Jägerleben befizt einen An­flug von Seßhaftigkeit. Man wechselt den Aufenthaltsort erst dann, wenn die Weideflächen, auf denen man sich niedergelassen hat, abgenuzt oder die Jagdgründe erschöpft sind. Die Frauen finden eine höhere wirtschaftliche Verwertung, sie müssen allerlei den Männern unbequeme Arbeiten verrichten, und diese, entlastet, denken mehr an die Steigerung der Annemlichkeiten des Lebens. Der finlichen Liebe wird mehr nachgegangen, die Reize des Weibes beginnen eine größere Anziehungskraft auf die Männer auszu üben. Man begint zu wälen, sich abzusondern und diese Ab­sonderung wird begünstigt durch die Zerstreuung der Gesellschaft über eine weite Fläche und durch Narungsverhältnisse. Der fräf­tigere und mutigere Mann nimt viele und die schönsten Weiber in Beschlag, der schwächere muß sich mit dem Ueberreste begnügen. Weiber ausschließlich zu besizen wird endlich das Recht des Stärkeren, des Fürers der Gruppe, der über ausreichende Existenz­mittel und über die Macht verfügt, diese und die Weiber zu be­haupten. Soziale Kämpfe von langer Dauer füren endlich dazu, aus dem Rechte des Stärkeren, Weiber zu besizen, ein allgemeines zu machen, und je nach der Anzal der Weiber und dem Quantum der vorhandenen Narung erfolgt die Verteilung.

Von einer Ehe ist hier noch nicht die Rede, das Weib wird eben wie eine Ware besessen, es ist rechtlos und kann zu jeder Zeit, wenn es den Anforderungen seines Besizers nicht mehr ent­spricht, verstoßen oder auch getötet werden. Der Boden, auf dem sich die Ehe und die Familie entwickeln kann, ist jedoch schon gegeben, und der Uebergang dazu erfolgt im Augenblicke, wo die nomadisirenden Hirtenvölfer seßhaft werden.

Ehe wir uns dieser Entwickelung zuwenden, seien hier noch einige andere Punkte berürt, die von Wichtigkeit sind.

Es gab zweifellos Fälle, wo das Weib spärlich in der Ge­sellung vertreten war, oder wo sein Besiz zu einem ausschließ­lichen Monopol des oder der Mächtigen wurde. Dort bildeten sich neben der Vielmännerei Verhältnisse des geschlechtlichen Ver­tehrs aus( Päderastie, Sodomiterei u. s. w.), die wir vom heutigen Standpunkte als ungeheure Ausschreitungen auffassen.

Der Vielmännerei begegnen wir im alten Sparta und heute noch bei den Eskimos, den Aleuten, Korjaken und Koluschen, bei Indianerstämmen in Nordamerika , im südlichen Indien unter einzelnen Stämmen des Neilgherigebirges, wo alle Brüder die Männer der Frau des verstorbenen Bruders und umgekehrt die jüngeren Schwestern der verstorbenen Gemalin die Frauen der Ehegenossenschaft werden. Auch in Tübet herscht unter den Brüdern und anderen Verwanten Frauengemeinschaft, ebenso bei einzelnen Völkern Südafrikas . Meist wird die Frau von den Genossen ge­kauft und dann nur als Ware gebraucht.

Im allgemeinen scheint in der ursprünglichen Gesellschaft Ueber­fluß an Frauen vorhanden gewesen zu sein, weit überwog wenig­stens bei den alten Völkern die Vielweiberei.

Ein verhältnismäßig nur kleiner Teil der Erdenvölker ver­tauschte die Weibergemeinschaft schließlich mit der Einehe. Es find dies diejenigen, welche nach langen, beschwerlichen und häufig mit großen Gefaren verknüpften Wanderungen nördliche Gebiete offupiren, die nicht, wie die südlichen, einen Ueberfluß von Narung bieten, sondern eine fleißige und haushälterische Wirtschaft erfor­dern. Der weibliche Teil der Bevölkerung mag auf diesen Wan­derungen stark zusammengeschmolzen sein und man wird keinen Ueberfluß an Weibern haben.

Es kann übrigens bei der Beurteilung des Kultúrzustandes eines Volkes weniger darauf ankommen, ob die Familie eine oder mehrere Frauen zält, oder ob eine Frau viele Männer be­fizt. Die Frage der Einehe oder der Vielweiberei u. s. w. hängt wesentlich von bestimten gesellschaftlichen Verhältnissen, namentlich von der Zal der vorhandenen Frauen ab. Auch wo Vielweiberei herscht, kann eine große Kultur sich entwickeln, wir erinnern nur

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an die der Araber. an die der Araber. Wenn wir sie bei den heutigen Völkern vermissen, so fallen dafür doch in erster Reihe andere Ursachen, als die Einrichtung der Vielweiberei in Betracht. Trifft die Familie eine Schuld, so ist diese allein in der mangelnden Bil­dung und in ökonomischen Misverhältnissen, die das Familien­leben beeinflussen, zu suchen.

Im allgemeinen geben wir der Einehe den Vorzug. Wo Vielweiberei herscht, get das Leben der Frau in der Regel in Konkurrenzkämpfen gegen ihre Rivalinnen auf, die Kindererziehung verkümmert und für die Kulturarbeit eines Volkes get somit die Kraft des Weibes gänzlich verloren.

Ungleich mehr in Betracht fällt das Weib in der Einehe, wenn ihr auch eine untergeordnete Stellung und als einziger Kulturarbeitskreis die Kindererziehung überwiesen ist. Blicken wir in die Geschichte der Menschheit zurück, so müssen wir zu­geben, daß das Weib auf diesem beschränkten Gebiete Großes geleistet hat. Vermittelnd trat es in roher Zeit und tritt es noch heute zwischen die absolute väterliche Gewalt und die Kinder und überträgt der neuen Generation von der Milde und Sanft­mut, die sie selbst beseelt. So vollziet sich unter der Berürung ihres Geistes allmälich ein leiser, sittlicher Umschwung; die Des­potie in der Familie begint zu schwinden und auf der andern Seite auch die stumme Sklaverei. Beeinflußt durch die Familie entwickelt die Gesellschaft sich humaner, freiheitlicher und ersteigt unter der unmerklichen Fürung des Weibes eine höhere Stufe der menschlichen Kultur.

Der Kulturfortschritt ist also auch an die größere Selbständig­keit des Weibes geknüpft. Getrost darf man behaupten, daß im allgemeinen kein sklavisch gehaltenes Weib freie Männer erziehen, und umgekehrt, kein freies Knechte oder Sklaven erziehen wird.

Kehren wir zu unsrer Untersuchung zurück. Wir sahen die Gesellschaft nach langer Wanderung seßhaft werden. Zum Teil schon früher ist in ihr das demokratische Prinzip zum Durchbruch gelangt; Rechte und Pflichten sind gleichmäßig verteilt, die Ge­nossen sind gleichberechtigt geworden. Bei der Seßhaftwerdung des Jägervolkes werden die Waffen und Jagdbezirke, bei den Hirtenvölkern das Vieh und die Weiden , bei beiden auch die Weiber gleichmäßig verteilt. Der Mann ist nicht sein ausschließ­licher Eigentümer, das Weib gehört wie das Arbeitsgerät der Gesellschaft, es ist Eigentum der Gemeinschaft und wird bei dem periodischen Austausch der Waffen, der Arbeitsgeräte u. s. w. mit ausgewechselt. Wir erinnern übrigens an die alten seßhaften Germanen, welche jedem Gaste Weib und Töchter preisgaben und dadurch im Grunde nur konstatirten, daß das Weib kein ausschließliches Eigentum des einzelnen, sondern jedem Genossen zur Verfügung stand, also immer noch Gemeineigentum war. Das Gleiche geschiet noch heute im Norden Rußlands , bei den Comantschen, bei den Aleuten, bei den Eskimos, auf Kamschatka und in Bessarabien .

Wir wissen, daß man diese Seite der altgermanischen Gast­freundschaft auf religiöse Motive zurückgefürt hat. Sie entspricht aber durchaus den sozialen Einrichtungen ihrer Zeit und bedarf keinerlei religiöser Motivirung. Uebrigens ist alle Religion ein Ausfluß sozialer Zustände.

Inimerhin sind jezt die Grundbedingungen der Familien gewonnen und die Gesellschaft tritt nun in eine ihrer wichtigsten Perioden, in die der Familienbildung, welche einen Wendepunkt aus immer noch rohen Zuständen in die Civilisation für die eben gezeichnete Gesellschaft bedeutet.

Die Lage des Weibes bleibt indes noch lange eine trostlose. Der Mann aber ist nicht auf die eine Frau beschränkt, die die Gesellschaft ihm angewiesen hat. Er ist ihr Herr, nicht ihr Ge­färte, sein Wille ist ihr Gesez; er dagegen hat ein Recht über des Weibes Kraft, seinen Leib und sein Leben, und kann es von sich treiben, wenn er seiner überdrüssig wird. Die Frau kann sich dann einen andern Herrn suchen, und ihm stet es unbenommen, sie durch ein oder mehrere Weiber zu ersezen. Der Schuz, die Narung, die ihr gewärt werden, sind Gnadenakte, Rücksichten auf die Förderung des eignen Wols. Sie hat kein Recht, sie ist nur geduldet und muß diese Duldung bei jeder Gelegenheit fülen und durch die schwersten Arbeiten für den Schuz, der ihr gewärt wird, erfentlich sein.

Die Arbeitskraft des Weibes begint schwerer als bisher ins Gewicht zu fallen, der Mann sucht die tüchtige Kraft und es er­wacht in ihm der Wunsch, die Frau, die ihm zugewiesen ist und die sich in der Haushaltung und Wirtschaft bewärt hat, zu er­halten. Die periodische Auswechslung der Weiber hört auf und