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Der„ kosmopolitische Nachtwächter".
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Ein literarisches Porträt.
Man könte füglich zwei Porträts geben, denn das literarische Karakterbild Franz von Dingelstedt's , der in der Morgenfrühe vom 15. Mai d. J. aus dem Leben schied, weist zwei wesentlich von einander abweichende Physiognomien auf. Wer den Lebensgang des Mannes kent, wird dies von vornherein erklär
zu
lich finden: es liegen sehr verschiedene Stationen auf dem Wege vom einfachen Gymna siallehrer Kassel bis zum Leiter der ersten deutschen Büne, des Burgteaters zu Wien , und wie der ,, kosmopolitische Nachtwächter" aufunferm Bilde erscheint, stellt er sich seinem äußeren Habitus nach durchaus nicht als lezterer,
sondern als t.t.
Hofburgteaterdirektor Hofrat Freiherr Franz v. Dingelstedt
dar.
Es ist
von entschiede
nem Interesse,
die Entwid lungsphasen zu beobachten, die er als
Mensch wie
als Dichter wärend dieser Zeit durchgemacht.
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der
Geboren wurde Dingel stedt am 30. Juni 1814 als der Son unbemittelter Eltern Vater früher Mili är gewesen zu Halsdorf Oberhessen, verlebte indes seine erste Ju
war
So windet sie mit treuem Fuß
Zum deutschen Meere sich hernieder
Und spiegelt mit geschwäz'gem Gruß Der Ufer sanften Frieden wieder...."
gendzeit in Rinteln an der Weser, wohin die lezteren im Jare 1822 übersiedelten. Er hat dem Weserfluß später ein hübsches Gedicht gewidmet:
,, Ich kenne einen deutschen Stromt, Der ist mir lieb und wert vor allen, Umwölbt von ernster Eichen Dom, Umgrünt von fühlen Buchenhallen; Den hat nicht, wie den großen Rhein , Der Alpe dunkler Geist beschworen, Er ward aus friedlichem Verein Verwanter Ströme still geboren. So taucht die Weser kindlich auf, Von Hügeln treulich eingeschlossen, Und komt in träumerischem Lauf,
Durch Reben nicht, durch Korn geflossen,
die Universität Marburg , wo er von 1831 bis 1834 Teologie und Philologie studirte, daneben aber schon mit besonderem Eifer sich dem Studium der neue= ren Sprachen und Literatu= ren zuwante. Auch begann er schon wärend dieser Zeit poe tisch und journalistisch tätig
zu werden. Nach beendeten Universitätsstudien wirkte er zuerst als Lehrer an einer vorzugs weise von jungen Engländern besuchten Privaterzie hungsanstalt zu Ricklingen bei Hannover und folgte im J. 1836 einem Rufe an das neu organisirte Gymnasium nach Kassel . Hier gelangte vor allem der ihm innewonende Drang zu literarischer Tätigkeit зи entschiedenem Durchbruch. Er schrieb und ver öffentlichte novellistische Versuche, Reisebrife und allerhand Skizzenhaftes, worin
er sich durchaus von dem Geiste des jungen Deutschland , jener damals auftretenden und, wie jedermann weiß, in der Folge viel angefeindeten literarischen Richtung, beherscht zeigte: ein kritischer Hang, eine revolutionäre Stimmung, eine nervöse Gereiztheit und weltschmerzliche Fronie, sinliche Glut und Sehnsucht nach besseren öffentlichen Zuständen und vor allem auch nach buntbewegterem eignen Dasein, alles Merkmale der Autoren der jungen Literatur", traten dem Leser aus diesen Schriften entgegen. Erregte er dadurch auf der einen Seite das Interesse des Publikums, so zog er sich auf der andern das deutliche Misfallen der Behörden zu, welches leztere zu offen erkärter Ungnade ward, als er durch ein schönwissenschaftliches Beiblatt zur kurhessischen Landeszeitung " Die Wage" im Sinne der neueren journalistischen Strebungen unmittelbar Fülung mit dem kasseler Publikum suchte, was
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