-

546

im Herbste von 1838 seine Versezung an das Gymnasium zu Fulda zur Folge hatte. Hier wirkte er, fortgesezt literarisch tätig, als ordentlicher Hauptlehrer bis Michaelis 1841. Jm Jare 1840 trat er mit seinem ersten größeren Werke, dem Roman Unter der Erde"( 2 Teile, Leipzig ), hervor, welcher ebenfalls gleich für die Eigenart Dingelstedts karakteristisch war. Er nante es ein Denkmal für die Lebendigen" und beabsichtigte, darin wuchtig und eindringlich die Schäden und Gebrechen des modernen Lebens, insbesondere in den Regionen der höheren Stände, zu schildern; es ist ihm dies, wenn der Roman in künstlerischer Hinsicht auch keineswegs one Mängel ist, in der Tat trefflich gelungen, und vor allem dokumentirte er damit sein besonderes Streben, die Finger auf die schwärenden Wunden der Zeit zu legen, als Sittenrichter, als Mahner zu erscheinen. Er zeigte sich eben wieder in den Bahnen des jungen Deutschland ", und nach dieser Seite hin wenigstens ist sich Dingelstedt auch in den weiteren Perioden seines Schaffens, soweit sich dieses in denselben Formen bewegte, treu geblieben: seine Aufmerksamkeit und Beobachtung galt vor allem der Zeit, in der er lebte, die Stoffe fast aller seiner selbständigen Arbeiten sind dem Leben und Ringen der unmittelbaren Gegenwart entlehnt, und er darf insofern ein ganz ,, moderner Dichter" genant werden. Es entspricht diesem Karakter seines literarischen Schaffens auch die krankhafte, überreizte Stim mung, die alle seine schriftstellerischen Aeußerungen von Anfang an zeigten, und hinsichtlich der Form ein scharf realistisches Ge­präge, eine gewisse grelle Mischung der Farben und springende Lebendigkeit des Stils.

Dem Roman, Unter der Erde " folgten unmittelbar die Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters"( Hamburg 1840; 2. Aufl. 1842), die Dingelstedts Namen rasch in ganz Deutschland Ruf und Geltung verschafften. Es war eine Samlung von Gedichten, ganz aus dem Geist und dem Trachten der Zeit herausgeboren. Wennschon nicht der Volksmassen, so hatte sich doch einer nicht geringen Anzal bedeutender Geister und durch diese immer weiterer Kreise die Ueberzeugung von der Notwendigkeit einer durch greifenden Reform der öffentlichen Zustände in Deutschland be­mächtigt, seitdem auch der von so vielen Hoffnungen begleitete Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. weder die endliche Erfüllung des vor einem Vierteljarhundert dem preußischen Volke feierlich gegebenen Versprechens einer freien Konstitution gebracht, noch das überaus belastende Joch der Censur in irgendwie erheb licher Weise gemildert hatte. Wenn der Kampfreigen der politi­schen Poesie in Deutschland in den dreißiger Jaren bereits durch Platens und Lenau's düstere Polenlieder und Anastasius Grüns ( Grafen von Auersperg) hoffnungsfreudige Spaziergänge eines wiener Poeten" eröffnet worden war, so erschienen nun im Jare 1840 Hoffmanns von Fallersleben Unpolitische Lieder", Herweghs " Gedichte eines Lebendigen", Karl Beck sang seine ergreifenden Lieder vom armen Mann", Moriz Hartmann und Alfred Meißner erhoben ihre Stimme, Robert Pruzz ließ in der Politischen Wochenstube" seinem aristophanischen Wize die Zügel schießen, Heine sein unsterbliches Gelächter" erschallen, Freiligrath rieb sich den Wüstensand aus den Augen und rief seinem Volfe als " Guten Morgen!" sein Glaubensbekentnis" zu, und selbst der zarte Lyriker Emanuel Geibel raffte sich zu gewichtigen Beit stimmen" empor, in diese Zeit des immer lebendiger erwachen­den politischen Lebens fallen auch Dingelstedts Nachtwächterlieder, im Zusammenhang mit diesem immer mächtiger werdenden poli­tischen Aufschwung müssen sie betrachtet werden.

-

"

Den Liedern eines kosmopolitischen Nachtwächters" liegt der an sich glückliche Gedanke zugrunde, die kleinstädtische( beziehentl. Kleinstaatliche) Misère des Alltagslebens zu schildern, welche den Nachtwächter aus der deutschen Heimat in die Fremde treibt; ganz besonders fesseln darin die freilich meist düsteren Bilder, welche er auf seinem Weltgange" an uns vorüberziehen läßt. Spöttischen Ergüssen über die Unfreiheit der politischen Verhält nisse in Deutschland , über das Prahlen mit dem freien deutschen Rhein " schließen sich mit dichterischer Kraft gezeichnete Nacht stücke aus Paris und London an, wo der unstete Wanderer ebenso vergeblich wie daheim das Glück menschenwürdiger Zustände sucht. Ich erinnere in lezterer Hinsicht u. a. an das ergreifende Gedicht Christnacht"( in Paris ), worin es nach einem schmerzlichen Rück blick auf in der Heimat glücklich verlebte Tage der Kindheit heißt:

,, Nun denn, so dent' ich mein, wenn niemand denkt, Ich schenke mir, wenn keine Hand mir schenkt: Hier dieser Eichenstock um fünfzehn Sous, Der sei's! Den wirft der Christ mir heuer zu!

-

Ein Wanderstab, ob einst ein Bettelstab? Gleichviel, hält er nur aus bis an das Grab, Und bricht er, dann verzichtend will ich sprechen:

Herz, nun ist's Zeit, nun darfst auch du zerbrechen!" Von tief ergreifender Wirkung sind vor allem auch die im Schloß­hofe zu Marburg ( 1840) gedichteten, Osterwort" überschriebenen Strophen, in welchen er u. a. den König von Preußen folgender­maßen anredet:

,, Herr, dem an des Trones Stufen treue Bürger freudig huldigen, Kleine Feler, so geschehen, laß die große Zeit entschuldigen; Sieh, schon büßen nah' und ferne viele ihr verjärtes Leid, Neig' dein Szepter, Friedrich Wilhelm, zu erlösendem Bescheid! Ach, daß deines Volks ein Dichter sich in deinen Glanz gewagt hat, Daß, was andre schweigsam flehen, er voll Ehrfurcht laut geklagt hat, Herr, verzeih's! Ein Dichter fült es, was es heißt: gefangen sein, Mehr als andre. Ja, gefangen, und vergessen, und allein!"

-

Es kann nicht verwundern, daß Dingelstedt nach dem Er­scheinen der Nachtwächterlieder, die sich neben ihrem geistigen Ge­halt namentlich auch durch ihren hohen sprachlichen Schwung, durch vollendete künstlerische Form auszeichneten, sie erschienen übrigens anonym, ein Umstand, der indes das rasche Bekant­werden des Dingelstedt'schen Namens in keiner Weise zu hindern vermochte- seine Entlassung aus dem kurhessischen Staatsdienst nam. Er trat darauf in engere Verbindung mit der augsburger Allgemeinen Zeitung" und lebte als deren Korrespondent wärend der nächsten Jare in Paris und London , wo er bedeutende und nachhaltige Eindrücke in sich aufnam. In der englischen Haupt­stadt lernte er die gefeierte wiener Sängerin Jenny Luzzer kennen, mit der er sich an der Donau im Jare 1844 verheiratete und die ihm vor wenigen Jaren im Tode vorausgegangen ist. Ein unleugbarer Wechsel in Dingelstedt's literarischer Betä­tigung, in der ganzen Art seines öffentlichen Auftretens vollzog sich in dem ,, kosmopolitischen Nachtwächter", seitdem ihn im Jare 1843 der König von Würtemberg mit dem Titel eines Hofrats als seinen Privatbibliotekar nach Stuttgart berief, in eine Stellung also, die ihm freilich völlige Muße zur Entfaltung seines dichterischen Talentes zu gewären schien, aber ihm auf der anderen Seite- und zwar nicht one Grund auch manchen scharfen Tadel wegen seiner damit zusammenhängenden politischen Schwenkung zuzog. Er machte von jezt an rasch Karrière". Nachdem ihm bereits im Jare 1846 das Amt eines Dramaturgen am stuttgarter Hof­teater übertragen worden, ward er 1851 durch König Max II. zum Intendanten des münchener Hof- und Nationalteaters ers nant, welche Stellung er im J. 1857 mit der Leitung des Hof­teaters zu Weimar vertauschte. Wärend der Zeit seines Aufent­halts in der freundlichen Musenstadt an der Ilm widmete er seine ganze Kraft der vollen Einbürgerung Shakespeares auf dem deutschen Teater, zu welchen Zweck er schon in den Studien und Kopien zu Shakespeare "( Pest, 1858) auf weitere Kreise an­regend einzuwirken suchte. Die Bearbeitungen verschiedener Dramen des großen Britten, die er von nun an unternam, bürgerten sich denn auch rasch auf den Bünen ein, was insbesondere seinem großen Geschick im szenischen Arrangement und der von ihm immer im Auge behaltenen Hinwirkung auf teatralische Effekte zuzuschreiben ist. Als Veranstalter der mit Recht nach ihm ge­nanten, im Verlag des bibliographischen Instituts erschienenen Aus gabe der Shakespeare 'schen Dramen hat er sich dann nicht blos um die lezteren, sondern vor allem auch um die deutsche Büne unzweifelhafte Verdienste erworben. Auch seine sonstige literarische Tätigkeit hing von dieser Zeit an auf das engste mit dem Teater zusammen: er schrieb eine Reihe von Prologen, Vorspielen und dergleichen, unterzog sich einer Neubearbeitung der Komödien des Beaumarchais ( sprich Bohmarschä) und lieferte zalreiche drama­turgische Abhandlungen in verschiedenen Zeitschriften. Ja, in so hohem Grade wurde die Büne, man könte sagen, seine Welt, daß er sie selbst mit Vorliebe zum Schauplaz der Handlung in seinen novellistischen Arbeiten machte. Von den lezteren seien hier noch die Novellenbücher Heptameron"( 1841) und Sieben friedliche Erzälungen"( 1844), sowie die geistvolle Novelle: Die Amazone" ( 2 Bde., 1868) erwänt, in welcher lezteren er mit ironischem Humor sich über die Torheiten der Zeit erget, freilich in einem Sinne, den nicht jeder mit ihm zu teilen vermag. Im Jare 1845 hatte er eine Samlung seiner ,, Gedichte"( Stuttgart , Cotta'sche Buch­handlung) veröffentlicht, die, namentlich in ihrer über ein Jarzehnt später erschienenen, bedeutend vermehrten 2. Auflage, eine wesent liche Läuterung seines Seelenlebens erkennen lassen. Freilich ist es unwar, zu sagen, daß er jemals ganz die weltschmerzliche