Die sehr falten und die sehr heißen Gegenden üben auf das früheste und auf das späteste Lebensalter den am meisten töt­lichen Einfluß aus. Nur feste Organisationen widerstehen der strengen Kälte und der brennenden Hize; darum begegnet man in Ländern mit den extremsten Temperaturgraden nicht selten Greisen von mehr als hundert Jaren.

Allzu große Kälte, wie sie in Lappland   und Grönland   herscht, wirkt hemmend auf das Wachstum und läßt die menschliche Gestalt niemals zur Vollendung kommen. In der Hize der Tropen der alten Welt können die höheren Kräfte der Seele nicht gedeihen, höhere Rassen niemals sich entwickeln. Daher suchen wir in Lappland  , dem nördlichsten Amerika  , Innerafrika und Australien   die Civilisation vergebens.

Deutsche   Doktrinäre des Arbeitswahnsins und der Schul­meisterei haben den Südeuropäern den Vorwurf der Trägheit und Wissenschaftslosigkeit gemacht und dieselben zu energischer Arbeit und Silbenstecherei verdammen wollen. Komt der Süd­europäer aus der Plage der Glühhize und aus dem Paradiese der Feigen und Orangenwälder heraus in ein kälteres Klima, wo die Natur für ihre Gaben Arbeit fordert und der Organis mus größerer Narungsmengen für seinen Haushalt benötigt, so arbeitet er vortrefflich. Die Mauren  , die Griechen, die Aegypter, die Indier waren troz der großen Hize ihrer Heimatländer die höchstcivilisirten Völker und arbeiteten fleißig, freilich nicht als Arbeitsmaschinen im Geiste der gegenwärtigen Nationalökonomie, auch nicht als Kameele im Sinne der modernen Schulmeister.

Der südliche Teil der gemäßigten Zone ist die Heimat der Kultur; aber dort, wo der heiße Erdgürtel begint, hört die Civili­

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| sation auf und beginnen die niederen Menschenrassen. In den nördlichen Teil der gemäßigten Zone ist die Gesittung nur ein­gebracht, und weil sie dies ist und weil die klimatischen Be­dingungen felen, kann selbe hier niemals so vollkommen und vielseitig werden, wie sie auf der andern Seite der Alpen, des Balkan  , am Nil und am Indus   wurde. Der höchste Wiz der nordischen Gesittung ist-die National­ökonomie, die Poesie- und Geschmacklosigkeit, das Einmaleins, die Rubrik der Staatsverwaltung und der Pessimismus! Lykurgos   war ein höchst genialer Polizeimann; die Wort­fürer der heutigen erbärmlichen, eingebildeten Civilisation aber sind höchst ungeniale Menschen, denen es an gesundem Instinkt und sogar an Menschenkentnis felt. Die Gesittung der großen Schreier ist eine unhygieinische Halbkultur, troz aller wirk­lichen und imitirten Salonmöbel, aller raffinirten Verfälschung der Narungsmittel und Kleidungsstoffe, aller griechischen Verse, die in höheren Töchterschulen demnächst versucht werden sollen, und troz aller Virtuosität und Routine der großen Klavier- und Paukenschläger, Akrobaten, Heilgymnastiker und vom Himmel gefallenen Professoren.

Hat ein Landstrich acht Monate Winter, so kann die Ent­wicklung des Menschen niemals eine vollkomne sein, niemals jene Feinheit und Durchgeistigung erhalten, wie bei den Mauren  , Griechen, Indiern. Und weil dem so ist, und weil man in den Ländern des Schnapses, der Häringe und Kartoffeln anstatt Wein Essig baut, darum wird daselbst die Gesittung der Griechen, der Indier, der Mauren   in ihrer Gesamtheit niemals ereicht werden und immer der geistige Ausgangs- und Endpunkt bleiben.

Geschichten und Bilder aus Graubünden  .

I.

Von Dr. Max Vogler.

Es liegt etwas düster- unheimliches, das unsere Gedanken fast gewaltsam in eine sagenhafte, dunkle Vergangenheit zurück drängt, etwas eigentümlich geheimnisvolles über den absonder­lichen, nadelartigen Berggestaltungen, die den Ruinen von Felsen­burgen gleich in den selten völlig wolfenlosen Himmel aufragen, zwischen den weit ausgeschweiften, von grünen Triften oder noch öfter von talen Steinschichten umgrenzten Tälern, wo einsame Höfe fernab von einander sich seltsame Geschichten von vergangenen Geschlechtern, die früher auf ihnen gehaust, zu erzälen scheinen, oder kleine Dörfer im Schatten der Kastanienbäume schweigsan emporlauschen, zwischen diesen engen, wild zerrissenen Schluchten, wo das weiße Gletscherwasser schäumt und sumt und rauscht, wo der schwarzgraue Bär noch auf unbetretenen Wegen beutegierig schleicht, Murmeltiere und Füchse vor steinigen Hölen ihre Opfer auflauern, das Eichhörnchen an den Tannenzapfen nagt und Schlangen und Eidechsen über feuchtes Geröll und bemofte Baum­wurzeln friechen, wärend hoch oben auf zackigen Felsspizen, den Wolken nah, die Gemse klettert und aus dunkler, von Eisflimmern durchblizter Höh' der Steinadler und die Geier herniederschießen, um das Lamm von der Weide fortzutragen oder scheuen Wild­hühnern das Blut auszusaugen. Und in der Tat, sie könten uns viel erzälen, diese grauen Steinkolosse und wolkenumlagerten Alpenfirnen, nicht blos von den Geschicken der Menschen und Völker, die einstmals auf diesem Boden gewebt und gelebt, son dern nicht minder von entsezensvollen Tagen, in denen die grause Macht der Natur sich zwischen diesen Tälern und Schluchten aus getobt: von ungeheuern Bergstürzen, die in zerbröckelt umher­liegendem, abenteuerlich geformten Gestein noch bis heute ihre Spuren hinterlassen, von verherenden Rüfen, die nach schrecklichen Gewittern und starken Wolkenbrüchen die Berge herabrollten und mit ihrem verworren durcheinandergeworfenen Geschiebe die Flüsse anfüllten und ihren onedies reißenden Gewässern drohende Ge­walt verliehen, grüne Wiesen überschwemten, Dämme und Ge­bäude mit sich fortrissen und ganze Dörfer unter ihren Sand­und Schuttmassen begruben, von fürchterlichen Schneelavinen, die mit donnerndem Getöse sich von den Höhen herabwälzten und die Herde auf den Matten, den ahnungslosen Wandrer und das keuchende Roß auf der Straße in einem einzigen kurzen Augen­blicke zu Boden warfen und unter häuserhohen Schneebergen ihnen ein weltfernes Grab bereiteten.

Jenen historischen Reiz und diese düsteren Karaktereigentüm

lichkeiten der Landschaft finden wir besonders in dem rhätischen Alpental Bergell   vereinigt, welches, sich von der Höhe des Malojapasses bis zu dem lombardischen Städtchen Chiavenna hinabziehend, in einer Länge von fünf guten Stunden die kürzeste Verbindung des Ober- Engadins mit Italien   bildet. Wenn Leute aus dem Unter- Engadin zu erzälen pflegen, ihre Heimat habe so hohe Mauern, daß weder Sonne noch Mond hineinſcheinen," so gilt dies von der Mehrzal der Ortschaften und einzelnen Wo nungen dieses Tals. Denn das leztere ist so tief eingeschnitten und so eng, daß im Winter 1 bis 4 Monate lang die Stralen der Sonne und wärend des Sommers das Licht des Mondes nicht über die Berge hereinzudringen vermögen. Nur die hohen, mit Schnee bedeckten Bergrücken und Alpenfirnen blinken zu jeder Jareszeit vom Wiederschein des prangenden Sonnenlichts oder von dem bleichen Stralenkranz des Mondes.

Wie das Tal Bergell   im ganzen den Charakter des Bündner­landes wiederspiegelt, so haben in ihm auch wie im gesamten Kanton schreckliche Naturereignisse oft genug ihre verherende Wir kung geübt. So erzälen die dortigen Leute, der Flecken Plurs  oder Biuro habe früher weiter oben im Tale gelegen, sei aber einmal durch eine Wasserflut so verhert worden, daß die Ein­woner sich da unten angesiedelt und zur Erinnerung an das Un­glück dem neuerbauten Flecken den Namen, Plurs' gegeben hätten, vom lateinischen Wort, plorare', d. h. weinen, klagen." Der be tante Untergang des schönen und reichen Fleckens fand am 4. Sep­tember 1618 statt." In jenem Jare" so wird berichtet- hatte es vom 25. August bis zum 3. September fast immer gewittert und geregnet. Am 4. September war der Himmel wieder hell, und nachmittags tobte plözlich eine Rüfe vom Berge her und bedeckte die Pflanzungen bei Cilano. Leute hatten auf den Wiesen und im Walde bemerkt, daß der Boden unter ihren Füßen zitterte und zu weichen anfing. Hirten brachten die Kunde: Der Berg Conto hat seit langer Zeit Spalten, die Kühe laufen brüllend davon! Aus der Umgegend berichtete man, daß Bienen­schwärme auszögen und alsbald tot niederfielen. Die Plurjer jedoch achteten auf alle solche Warnungen und unheimliche An­zeichen nicht. Um Mitternacht, wärend der Vollmond und der reinste Sternenhimmel herabglänzten, ward plözlich die tiefe Ruhe der Gegend durch einen gewaltigen Stoß unterbrochen, und gegen 2500 Menschen hatten ein Grab gefunden unter einem krachend niedergestürzten Teile des Berges Conto. Außer dem dumpfen Dröhnen trugen Staub und Dunst wie Schwefel weithin die