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schreckliche Kunde. Es sei, gleich einer Staublavine zugegangen', berichtet ein Geschichtschreiber. Der Conto bestand großenteils aus Talkschiefer , die schweren Regengüsse hatten diesen gelöst, die ganze Bergmasse geriet in Bewegung, Schlammströme, vermischt mit dem Wasser eines kleinen Sees, ergossen sich in das Tobel und breiteten sich über jene zwei Ortschaften( Plurs und das Dörfchen Cilano) aus, auf ihrem Rücken die größeren Steine tragend, wie es bei den Rüfen stets zu geschehen pflegt. Die Maira, welche mitten durch Plurs floß, wurde zwei Stunden lang in ihrem Laufe aufgehalten und dann mehr rechts herübergedrängt. Die sofort angeordneten Nachgrabungen brachten blos wenige Leichname, doch verschiedene abgerissene Gliedmaßen zum Vor­schein; die Leute müssen förmlich zermalmt worden sein. Eine Glocke war durch den Luftdruck auf das rechte Flußufer geschleu­dert worden. Auch später hat man eine solche an der Maira gefunden und noch einzelne andere Gegenstände unter den Trüm­mern hervorgegraben." Der über hundert Fuß hohe Schutthausen, unter dem man noch heute bedeutende Schäze vermutet, wurde bald wieder mit frischer Vegetation überkleidet, und heute erfreuen dort grüne Reben und Kastanienbänme das Auge des Wanderers. Troz des hervorragend düsteren Charakters der Landschaft bietet die leztere im Bergell hinsichtlich des Baum- und Pflanzen­wuchses auch die sonderbarsten Gegensäze. Man findet da Nuß­und Kastanienbäume des Südens neben Arven, Zwergföhren, Rot- und Weißtannen und Lerchen, und wärend z. B. Gras des geringen die Abhänge bekleidenden Erdreichs wegen nur spärlich gedeiht, blühen auf rauhen Bergeshöhen die Alpenrosen in üp­pigster Fülle. Wo der Schnee lange liegen bleibt, stehen oft frühe Alpenpflanzen noch im Spätherbste in herlichster Blüte. Diese wunderbaren Uebergänge und Gegensäze erklären sich aus der Lage des Bergells als eines der südlichsten Alpentäler, die in ihrer starken Absenkung naturgemäß alle die verschie­denen Höhenlagen und Vegetationsstufen der Schweiz aufzu weisen pflegen.

Die Geschichte des Bergells verliert sich, wie die Vergangen­heit Rhätiens überhaupt, in mytisches Dunkel. Die Urbewoner Rhätiens sollen von den Galliern aus Italien vertriebene Etrusker gewesen sein, die sich unter dem Kriegsfürsten Rhätus, wie die Sage angibt, um das Jar 600 v. Chr. in dieses wilde Alpental zurückgezogen hätten. Diese Etrusker wären auch ins Tal Bergell , das vorher von Lepontiern bewont gewesen, gekommen und nachdem sie lange Zeit hindurch Tauschhandel mit Oberitalien getrieben und öftere Raubzüge dorthin unternommen, vom Kaiser Augustus etwa um das Jar 15 v. Chr. der Römerherschaft unterworfen worden. Der Freiheitssinn und Heldenmut der Besiegten wurde selbst von den Siegern gerühmt. Auf einer von diesen ange­legten, von Como nach Clavenna durch das Bergell und über den Septimerpaß nach Chur fürenden Herstraße zogen dann die Römer ins Rheintal zum Kampfe und zur Eroberung gegen die Germanen. Das Tal Bergell erhielt als Vorland der römischen Gallia cisalpina ( Gallien diesseits der Alpen ) den Namen" Prä­ gallia ", d. h. Vorgallien, welche Bezeichnung dann in die ita­ lienische Form Bregaglia " umgewandelt wurde.

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mußten, wenn er in Vicosoprano zu Gericht saß, alle Bergeller erscheinen, sobald sie von ihm geladen wurden. Unbedeutendere Bußgelder flossen in seine Tasche, größere in die des Bischofs. Zweimal im Jare mußte der leztere selbst zu Gericht sizen oder an seiner Stelle einen Bevollmächtigten entsenden. Er hatte die Befugnis, über geistliches und weltliches zu richten und an Leib und Gut zu strafen. War er anwesend, so mußten ihm drei gute Malzeiten", sowie seiner Begleitung die Speise und den Pferden das Futter gegeben werden. Ueberdies bezog der Bischof mehrere Zölle. Im Jare 1179 erteilte Kaiser Friedrich I.( Bar­barossa), der schon vorher die alten Freiheiten des Landes be­stätigt hatte, dem oberen Bergell freie Jagd und Fischerei, die Erze und das Recht, zu Vicosoprano einen Durchgangszoll für Waren zu erheben. Diese Rechte und noch manche andere wurden dann dem Lande, wie ganz Rhätien , das inzwischen abermals und für lange Zeit unmittelbares Reichsglied wurde, von den späteren Kaisern weiter belassen.

Im Anfang des 15. Jarhunderts erfaßte die Rhätier, der inzwischen stattgefundenen Uebergriffe der kaiserlichen Vögte müde und durch die Taten der Eidgenossen ermuntert, der Drang nach größerer Unabhängigkeit und Freiheit. Es bildeten sich mehrere Körperschaften, darunter im Jare 1424 der obere" oder, graue Bund", von dem der Kanton seinen jezigen Namen erhielt, die drei rhätischen Bünde vereinigten sich 1471 und schlugen, von den Eidgenossen unterstützt, 1499 in der glorreichen Schlacht auf der Malserhaide die Desterreicher in ebenso tapferer Weise, wie sie sich vorher, im Jare 1486, von der Herschaft der Herzöge von Mailand , die sich inzwischen mehrerer Bündner Landschaften be­mächtigt, befreit hatten.

Im 16. Jarhundert brachte die Einfürung der Reformation mancherlei Familienfehden und Kämpfe der religiösen Parteien mit sich, von denen einige, wie der sogenante Veltlinermord im Jare 1620, sehr blutig endeten, und die in ihrer Gesamtheit eine große Verschlechterung der sonst so einfachen und guten Sitten der Talbewoner zur Folge hatten, welche natürlich wärend des 30 järigen Kriegs, dessen hohe Wogen auch in das Alpenland herüberschlugen, immer weiter um fich griff und in Verbindung mit den Verherungen der Pest den Wolstand der Landschaft mehr und mehr herabdrückte. Wir können auf alles dies hier nicht näher eingehen und wollen nur folgendes hübsche Histörchen er­zälen, das in die Zeit der Reformation fällt. Die Lauren­tiuskirche von Soglio sollte sich im Besiz von Reliquien berühmter Heiligen befinden, aus welchem Grunde sich der Katolizismus auch hier mit am längsten hielt. Daß das Papsttum daselbst schließlich doch weichen mußte( Weihnachten 1552), soll die Schuld des lezten Meßpriesters gewesen sein, der vom Volte ,, prè Duric" ( d. i. prete Dorigo, Priester Ulrich") genant wurde und als ein sehr unmoralischer Mann angesehen war. Er stand allgemein in Misachtung und mußte sich wizige Pasquille auf seinen Lebens­wandel gefallen lassen. An einem Sontage in der Kinderlehre ( Jugendgottesdienst)" so berichtet man, rezitirte ein von jemandem dazu instruirtes Kind ein Stück eines solchen obszönen Pasquills statt der Antworten des Katechismus. Da erröteten Gegen 500 Jare lang bildete Rhätien , als ein Teil Italiens , die anwesenden Frauen, verlangten dann einmütig, daß jener un­eine römische Provinz, wärend welcher Zeit sich die altrhätische würdige Priester entfernt werde, sprachen auch von Anname der mit der römischen Sprache vermischte und auf diese Weise der Reformation, nach dem Vorbilde der andern bergeller Kirchen, noch heute in Rhätien geschrochene ,, romanische" Dialekt entstand. und bewiesen selbst den Männern gegenüber große Entschiedenheit. Nach dem Zerfall des Römerreichs fiel, wie ganz Italien , so auch In solcher Konfusion wante man sich an zwei hervorragende Ein­Rhätien in die Gewalt der damals schon zum Christentum bewoner, die Brüder von Salis, welche sich jedoch des Rates in kehrten Ostgoten, von welchem es im Jare 536 der Herschaft der einer solchen Gewissenssache enthielten und für sich erklärten, an Franken überlassen wurde. Es war wärend dieser Zeit der Ver- der bisherigen Religion festzuhalten, one der Freiheit anderer waltung eines Präses oder Grafen von Chur unterstellt, der nicht nahe treten zu wollen. Nun tam man dahin überein, die Ent­selten in seiner Person als föniglicher Statthalter auch die bischöf- scheidung der Frage den Jünglingen zu überlassen, und diese liche Würde vereinigte. Als sich infolge des Teilungsvertrags versammelten sich zalreich auf einer Wiese vor dem Dorfe, die von Verdun im Jare 843 das fränkische Reich auflöste, fiel Rhä- noch im Dialekt, plan Lütèr", italienisch piano di Lutera( Luther­tien an das deutsche Reich, behielt aber auch ferner eigene Grafen; wiese) genant wird und bis jezt an Sontagen( im Sommer) der im Jare 916 wurde es dem Herzogtume Schwaben zugeteilt, gewönlichste Sammel- und Tummelplaz der Jugendgesellschaft unter welchem es bis 1268 blieb. Die Herschaftsrechte und das geblieben ist. Hier nämlich beschlossen die Jünglinge von Soglio , Richteramt wurden wärend dieser drei Jarhunderte entweder von daß sie die Meinung der Mütter adoptirten, wonach das Papst­den schwäbischen Herzögen selbst oder durch besondere Grafen tum abzuschaffen" sei. Alle stimten gerne bei, und sogleich wurden verwaltet. Heinrich 11. erklärte im Jare 1024 das Land aus- aus der Kirche die Bilder und Reliquien weggenommen und bei drücklich als reichsunmittelbar, wonach es also keinem dienstpflichtig Seite getan. Den Jünglingen aber, die sich in jenem Sinne war, als dem Kaiser allein. 1036 wurde indes dieser Zustand ausgesprochen hatten, wurde folgendes Vorrecht eingeräumt: von bereits wieder aufgehoben und die Verwaltung in die Hände des den fünf Richtern, welche die Gemeinde in die Kriminalobrigkeit zu Chur residirenden Bischofs gelegt. Diesem pflegten damals des Tales wälte, durften die Jünglinge allemal einen aus ihrer die freien Leute der Talschaft drei weise Männer vorzuschlagen, Mitte ernennen. Derselbe hieß ,, mastrael della gioventù"( Richter von denen der Bischof einen zum Podestà" ernante. Vor diesen aus der Jugend), und dieses Recht übten die jungen ledigen

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