Die Vertreter von Appenzell   erhielten Siz und Stimme auf der Tagsazung zu Ulm. Cuno von Staufen, Abt von St. Gallen, flagte beim Kaiser und bewies urkundlich, daß Appenzell   von jeher" denen Aebten von St. Gallen  " gehört und denen Aebten" alles zu verdanken habe; der schwäbische Städtebund ließ die Appenzeller im Stich und Abt Cuno riß Appenzell   wieder an fich, sezte wieder Vögte ein und das alte, harte Regierungssystem begann von neuem.

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Allgemeine Unzufriedenheit und der Drang nach Unabhängig­feit bemächtigte sich der Gemüter und, als einst der Probst von Bußnang   einen Bauer von zwei Edelleuten festhalten ließ und denselben eigenhändig mishandelte, ertönte die Sturmglocke zu Gossau  ; mit genauer Not entkam der Probst, wärend die Burgen von Schwendi  ( Siz des Obervogtes) und Clang in Flammien aufgingen.( 1400.) ( Fortsezung folgt.)

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Der Selbstmord und seine Vorbeugung ist ein Artikel in der Nr. 41, 1881, der Gesundheit, Zeitschrift für öffentliche und private Hygieine", betitelt, in dem der erste städtische Arzt der Stadt Leipzig  , Professor Dr. Reclam, seine reichen Erfarungen auf dem Gebiete der Selbsttötung niederlegt. Aus meinen Aufzeichnungen und Erfarungen ergibt sich, sagt der um die Volksgesundheitspflege hochverdiente Ver­fasser, daß über 60 Prozent der Selbstmörder dem Kampf ums Dasein zum Opfer fallen. Mangel an Erwerb, große Verluste im Börsenspiel oder durch irgendwelche andere Umstände, mißliche Ver­hältnisse aus eigner oder fremder Schuld, füren die Mehrzal in den Tod. Damit stet im Einklange, daß die höheren Lebensalter den größten Beitrag liefern( bei Männern zwischen 50 und 60, bei Frauen über 70), also die Lebenszeit, in der der Erwerb und der Ausgleich von Vermögensverlusten am schwierigsten ist. Etwa 10 Prozent stirbt aus Liebe, die Hälfte davon wegen unglücklicher, die andre Hälfte wegen glücklicher Liebe samt Folgen. Die von Frommen vielgeschmäte ,, Genußsucht" unirer Zeit hat Reclam   unter den Selbstmordursachen nicht entdeckt. Achtzig Prozent der Selbstmörder fand R. ,, schlecht genärt, mager, blutarm, mit bleichem, tiefgefurchten Antliz". Bedeut sam erscheint Prof. Reclam ferner der Umstand, daß der Grund des Todes" oft ein lächerlich geringfügiger ist eine augenblickliche Ver stimmung, unbedeutender Aerger" u. s. w. Eine Haushälterin ertränkt sich, weil ihr Fliegenpapier sich unwirksam zeigt; ein Handarbeiter tut desgleichen, weil er beim Einkaufe von Stiefeln keine ihm passenden findet; ein Lohnkellner hängt sich wegen einer Differenz von zwei Bier­marken; ein Schüler vergiftet sich aus Langerweile  ; ein Kaufmann tötet sich, weil er sich fürchtet, seine Bücher abzuschließen, in der Einbildung, er sei bankrott, obgleich er in Warheit 90 000 Mark Vermögen hatte; ein Industrieller beget dieselbe Torheit, nur daß sich bei ihm noch 200 000 Mart Ueberschuß der Aktiva über die Passiva herausstellten. Aus alledem folgert Reclam mit Recht, daß der Verstand des Selbst­mörders unbedingt in sehr vielen Fällen tief erschüttert gewesen sein muß, daß hauptsächlich eine ,, normwidrige, gesteigerte Empfindlichkeit für Schmerz vorhanden gewesen sein muß, gleichviel, ob nun diese norm­widrige Steigerung der Schmerzempfindlichkeit durch materielle Not oder andre Ursachen erzeugt worden ist. Die Selbstmörder erscheinen im allgemeinen und wol mit vollem Recht- als Geisteskranke, besonders ,, Schwermütige". Die Selbstmörder litten meistenteils an Blutarmut  ( Anämie), die Melancholiker sind nachgewiesenermaßen auch fast immer anämisch. Das Gedächtnis erwies sich meist geschwächt; insonderheit konten Gerettete fast nie genau angeben, was sie in den lezten Stunden vor der Tat getan. Auch diese zeitweilige Gedächtnisschwäche haben die Selbstmörder mit Frsinnigen gemein. Auch der Umstand, daß der Selbstmord zuweilen im Momente großen Glückes, überraschender Erfüllung höchster Wünsche geschiet, deutet nicht minder auf Geistesstörung  . Ein junger, angesehener, wolfituirter Kunst­gelehrter mordet sich kurz vor der Hochzeit mit einem von ihm auf­richtig geliebten Mädchen; ein junger, bemittelter und tüchtiger Kauf mann tut dasselbe am Tage vor der wolvorbereiteten Eröffnung seines eigenen Geschäfts; ein junger, fentnisreicher Gelehrter wird aus seiner ihm nicht zusagenden, weniglohnenden Lebensstellung zur Redaktion einer Wochenschrift berufen, die ihm reichlichen Erwerb und angeneme Arbeit gebracht hätte. Er schließt mit dem Verleger den Kontrakt, schreibt an seine Frau einen glückatmenden Brif und erschießt sich im Augenblick nachher. Auch die Wal des Ortes beim Selbstmorde und der Todesart läßt oft Geistesstörung erkennen. Ein Mädchen ertränkt sich höchst unbequem im Bade; ein alter Lehrer von sonst zartestem Anstandsgefül hängt sich nackt gegenüber der Zimmertür; eine 29 järige Frau treibt sich einen Baumwollpfropfen in den Hals und erstickt; ein älterer Witwer verschluckt einen großen Schlüssel, um sich zu töten; ein Züchtling verschlingt zehn fußlange Stücke getrockneten Schilfs aus seiner Matraze; ein Schumacher treibt sich mittels eines hölzernen Schlegels einen Lochmeißel mitten in den Schädel u. s. w. Reclam   meint, den Geistesstörungen, welche zum Selbstmorde füren, könte nur dadurch der tötliche Stachel genommen werden, daß die Schule, oder vielmehr unsre ganze Jugenderziehung von Grund aus geändert werde. In unsrer Schule werde das Hirn überfüttert, das geschehe auf Kosten des Karakters und des Körpers. Einschränkung der Verstandesdressur, sorgfältige Karakterbildung und viel mehr Körper­pflege und Uebung das scheinen Reclam   die geeigneten Heilmittel. Wir können uns hiermit einverstanden erklären, aber wir müssen bitten, als ein wichtigstes Mittel gegen den Selbstmord und seine häufigste physische Ursache, die Blutarmut  , die allgemeine Hebung der Närungs­weise des Volkes nicht zu vergessen, ein schwer zu erreichendes, aber,

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wie wir der Zuversicht sind, bei einsichtiger Volkswirtschaft doch nicht unerreichpares Mitiel.

XZ.

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Die Juden in Europa  . In dem widerlichen Streite, der jezt wiederum unter dem Namen ,, Judenheze" von fanatischen Pfaffen in der Kurte und im Frack inaugurirt und geoflegt wurde und noch wird, hat auch ein Mann seine Stimme hören lassen, dessen Na ne seit angem bekant ist: der ein tige Fürer und Begründer der altfatolisch n Dopo­jition, Döllinger in Münch- n. In einer Rede, welch er in der Fest izung der Akademie der Wissens ha ten zu München   am 25 Juli d. J. über die Juden in Europa  " gehalten, hat er nicht nur Stellung gegen die den deutschen   Namen schändende Judenhaz genommen sond rn ver­mittels einer gedrängten histori chen Darstellung der Judenverfolgungen vom 6. bis 16. Jarhundert nachgewiesen, wie die christliche Klerisei in Bunde mit den weltlichen Herschern, unter den erden lichsten Unter­drückungen und Beinigungen die Juden von der bürgerlichen Gesell­schaft ausgeschlossen und sie zu dem gemacht, was sie heute sind. Nachdem er eingangs die leider heute noch herschende Macht der In­toleranz und die Duldung und brüderliche Behandlung, welche das Christentum im Anfang gegen die Jraeliten geübt, hervorgehoben, datirt er die zur Unduldsamkeit veränderte Sinnesweise der Christen­heit von dem Zeitpunkt, an dem das Christentum zur römischen Staats­religion erhoben wurde. Einerseits wurden nun von den römisch­christlichen Kaisern die Juden von allen Aemtern ausgeschlossen, und andrerseits wurde ihnen von den höchsten Autoritäten der christlichen Kirche die Alternative gestellt, entweder sich taufen zu lassen oder aus­zawandeen. Gevaltmaßregeln gegen die zu ihrem alten Glauben zurück­fehrenden Getauften wurden emprolen und ausgeübt, und als schließlich vom Papsttum die Religionskriege verkündet, der Zwang der Un­gläubigen und Heiden" zum christlichen Glauben angeordnet und die Beraubung und Vertilgung der Widerstrebenden als ein gottgefälliges Werk bezeichnet wurden, da war auch für die unwissenden Massen das Signal zu Brutalitäten aller Art gegen die Juden gegeben. Der Jude war in der Sprache der scheinheiligen Vertreter der Religion der Menschenliebe ein Pestkranker, ein Mensch, schlimmer als ein Ungläu biger, der weder Treue noch Glauben verdient, und die Scharen, welche z im Kreuzzuge nach Jerusalem   auszogen, erschlugen daheim erst die Juden und plünderten ihre Häuser, und das Königreich Jerusalem   be gann sein Dasein damit, daß die dort lebenden Israeli en nebst ihren Synagogen verbrant wurden. Die Aussprüche der Konzilien und Päpste über die Rechte und Pflichten der Christen gegen die Juden brachten es endlich soweit, daß man die lezteren unter allerhand Placke reien und Schindereien fast wie Leibeigne, und schließlich, im 14. Jar hundert, wie Sklaven betrachtete und behandelte. Sie gingen wie eine Ware aus einer Hand in die andre über; der Kaiser erklärte bald da, bald dort ihre Schuldforderungen für getilgt und ließ sich dafür eine hohe Geldsumme, gewönlich 30 Prozent, zalen." Sie wurden vom Kaiser beschüzt und auch nicht, je nachdem man sie brauchte. ,, Sie wurden benuzt wie Schwämme, die man sich vollsaugen ließ, um sie dann auszudrücken." So schlug man 1390, als durch langen Bürger frieg König, Fürsten  , Adel in Schulden geraten waren, auf dem Reichs­tage zu Nürnberg   alle Judenschulden im Reiche nieder, wärend die Shuldner 15 Prozent an die königliche Kasse zu zalen hatten. Der Herzog von Bayern  , der Graf von Dettingen   und die Stadt Regens burg gewannen dabei z. B. je 100 000 Goldgulden( ca. 1 800 000 d. h. damals!). Haß und Abscheu wurde durch derartige Maßregeln gesät und endlich Massenmord geerntet. der Best und wurden deshalb erschlagen; man bes buldigte sie, die Die Juden waren schuld an Brunnen ve giftet zu haben oder mit der Absicht umzugehen, London  in Brand zu stecken und dergleichen Dumheiten, und man mezelte sie unter den ärgsten Grausamkeiten nieder; die Tortur sorgte schon für Geständnisse. Man klagte sie des wucherischen Zinsnemens an, troz dm christliche Bankherren ebenso hohe Zinsen namen wie sie; ja, ihre Vermittlung des Geldverkehrs war sogar da, wo sie den Geldhandel in die Hände bekamen, eine so wol ätige, daß man sie sich, wie z. B. anfangs des 14. Jarhundert in Paris  , nachdem sie vertrieben worden, wieder zurückwünschte. Ludwig der Brandenburger   erließ sogar 1352 eine öffentliche Einladung an die Juden, sich steuerfrei im Lande nieder zulassen, da seit der Zeit, als die Juden verderbt sind( er meint den großen an ihnen begangenen Mord von 1348), überall in unserem Land unter Reichen und Armen Geldmangel herscht". Außerdem trieben sie da, wo sie einen selbständigen Staat bildeten, Feld- und Gartenbau wie Handwerke. Palästina wurde unter ihren fleißigen Händen eines

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