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Poetische Lehrenlese. Die Blinde.

1.

Es hat die Zeit gegeben,

Wo hinaus mein Auge mich trug, Zu folgen im tiefen Lichtmeer Der flüchtigen Wolken Zug;

Zu streifen über die Ebne

Nach jenem verschwindenden Saum, Mich unbegrenzt zu verlieren

Im lichten unendlichen Raum.

Die Zeit ist abgeflossen,

Leb wol! du heiterer Schein! Es schließet die Nacht der Blindheit In engere Schranken mich ein.

O trauert nicht, ihr Schwestern, Daß ich dem Licht erstarb; Ihr wißt nur, was ich verloren, Ihr wißt nicht, was ich erwarb.

Ich bin aus irren Fernen

In mich zurücke gekehrt, Die Welt   in des Busens Tiefe Ist wol die verlorene wert.

Was außen tönet, das steiget Herein in mein Heiligtum;

Und was die Brust mir beweget,

Das ist mein Eigentum.

2.

Wie hat mir Einer Stimme Klang geklungen Im tiefsten Innern,

Und zaubermächtig alsobald verschlungen All mein Erinnern!

Wie Einer, den der Sonne Schild geblendet, Umschwebt von Farben,

Ihr Bild nur sieht, wohin das Aug' er wendet, Und Flammengarben;

So hört' ich diese Stimmen übertönen

Die lieben alle,

Und nun vernehm ich heimlich nur ihr Drönen Im Widerhalle.

Mein Herz ist taub geworden! wehe, wehe!

Mein Hort versunken!

Ich habe mich verloren, und ich gehe Wie schlafestrunken.

3.

Jammernd sinn ich und sinn immer das eine nur: Wonneselig die Hand, welche beseelet, sanft

Gleitend über sein Antliz

Dürft ihm Form und Gestalt verleih'n!

Armes, armes Gehör, welches von Ferne nur Du zu schlürfen den Ton einzig vermagst, in's Herz Ihn nachhallend zu leiten,

Ob nachhallend, doch wesenlos!

4.

Stolz, mein Stolz, wohin gekommen! Bin ein armes, armes Kind, Deren Augen ausgeglommen, Nur zu weinen tauglich sind.

Lesen kann ich in den seinen

Nicht das heimlich tiefe Wort, Meine schweigen, aber weinen, Weinen, weinen fort und fort. Ja, wir sind getrennt! In Scherzen Und in Freuden wandelst du, Ueber mich und meine Schmerzen Schlägt die Nacht die Flügel zu.

5.

Wie trag ich's doch, zu leben Nur mir und meiner Pein? Dem Liebsten sollt' ich dienen, Da wollt ich selig sein!

Ich wollt ein treuer Page Um den Gebieter steh'n, Bereit zu jeder Botschaft Und jeden Gang zu geh'n.

Ich kenne jede Windung Der Straßen, jedes Haus, Und jeden Stein am Wege, Und weiche jedem aus.

Wie freudig zitternd trüg ich Ihm Nachts die Fackel vor. Die freud'ge Lust ihm spendend, Die selber ich verlor!

D, traurig ist's im Dunkeln, Ich weiß es nur zu sehr! Licht wollt' ich, Licht verbreiten Um seine Schritte her.

Ihn sollte stets erfreuen

Das allerfreu'nde Licht, Sein Anblick sollte Jeden Erfreuen, mich nur nicht.

Und sollte da mich treffen

Der Menschen Spott und Hohn, Ich seh' es nicht und hört' ich's, Auch das ertrüg ich schon.

6.

Du mein Schmerz und meine Wonne, Meiner Blindheit andre Sonne,

Holde Stimme, bist verhallt. Meine Nacht hüllt sich in Schweigen, Ach, so schaurig, ach so eigen,

Alles öd und leer und kalt!

Leise welken, mich entfärben Seht ihr Schwestern mich und sterben,

Und ihr fragt und forscht und klagt; Laßt das Forschen, laßt das Fragen, Laßt das Klagen, seht mich tragen

Selbst mein Schicksal unverzagt.

Hingeschwunden ist mein Wähnen, One Tränen, one Sehnen

Well' ich meinem Grabe zu; Nichts dem Leben bin ich schuldig, Stumm, geduldig, trag' ich, duld' ich, Schon im Herzen Todesruh'.

Adalbert v. Chamisso.

Julia Capulet  . Schöne und lebensware Figuren, die einst die Poesie erzeugte, haben meist, wenn nicht immer, das Glück, als Vor­wurf für die bildenden Künstler zu dienen und durch den Stift und Pinsel des Malers wie durch die künstlerische Hand des Bildhauers bleibende, reale Gestaltung zu erhalten, und wir dürfen hier wol nur an die in neuerer Zeit geradezu massenhaft erschienenen Erzeugnisse erinnern, die lediglich durch die Anregung entstanden sind, welche die Poesie auf die genanten Künste übte. Ein änliches Produkt ist auch das auf Seite 60 u. 61 dieses Blattes den Lesern vorgefürte Bild. Die Künstlerin, Bertha Sieck, hat zwar keine Szene aus dem herlichen Gedicht Shakespeares wörtlich benüzt, und insofern frei geschaffen, aber unstreitig war sie inspirirt vom Geist des großen Briten, denn so mag sie dagesessen sein, sinnend und noch träumend fortsezend das in den lezten Stunden durchlebte Glück der ersten Liebe, das so rein und mächtig und mit solcher Gewalt ihr ganzes Sein durchflutet, daß der im Busen aufteimende Schmerz über die notwendige Trennung vom Geliebten nicht aufzukommen vermag: die schöne und einzige Tochter des angesehenen Bürgers Capulet   von Verona  , in der der dichterische Genius in seinem ,, Romeo und Julia  " das Hohelied der Liebe ver förperte. An einem der lezten Abende erst hat sie das süße Geheimnis ihres Herzens vom Balkon aus der finstern und schweigsamen Nacht anvertraut, nicht ahnend, daß der Geliebte, der Sohn des Todfeindes ihres Hauses, getrieben von gleichem Sehnen, das für ihn so beglückende Bekentnis in unmittelbarer Nähe mit anhören würde, und heute schon