Kaum war der gestrenge Herr Schulinspektor angemeldet, so war er auch da noch zwei Tage früher, als man ihn erwartet hatte.
-
Es war ein mittelgroßer Mann, der nicht gerade schmächtig und körperlich schwächlich war, aber es in seinem langen, feinen, bis an den Hals geschlossenen schwarzen Tuchrocke doch zu sein schien. Umsomehr fiel der Kopf ins Auge, der auf dem steifen Nacken saß und einem Riesen alle Ehren gemacht haben würde. Lang und breit, mit mächtiger Stirn, von langen dunkelbraunen Haren umwallt, trug er weithin sichtbar den Stempel des Auffälligen, Ungewöhnlichen. Und die einzelnen Teile und Züge des glatt rasirten Gesichts, die große, gebogene Nase, die stets weit geöffneten dunkelgrünlich funkelnden Augen, der große, wenn er schwieg, stets festgeschlossene Mund und das kräftige Kinn waren durchaus nicht dazu angetan, solchen Eindruck abzuschwächen. Urplözlich des morgens vor neun Uhr war dieser Herr Schulinspektor der Institutsvorsteherin in ihr sogenantes Direktorialzimmer gehagelt. Nach sehr kurzer, wenn auch nicht minder höflicher Begrüßung bat er, ihn sofort in eines der Schulzimmer geleiten zu wollen.
-
-
Die Vorsteherin eine troz aller Gutmütigkeit ihren Unter gebenen und Schülern gegenüber allezeit ungemein würdevolle, unter Umständen sogar sehr ernste und strenge Dame- hatte ebensowol vor der hohen Staatsregierung und ihren Organen als auch vor der Kirche mit ihren berufenen und bestellten Dienern jederzeit einen gewaltigen Respekt gefült; was wunder, daß sie sich dem Manne gegenüber, der als höherer und sehr einflußreicher Staatsbeauftragter und Geistlicher zugleich vor sie hintrat, um ein Urteil von entscheidender Bedeutung zu sprechen für ihre Wirksamkeit, auf die sie unendlich stolz war, und die sie fortzusezen gewillt war bis an ihr Lebensende was wunder, sage ich, daß sie sich diesem Manne gegenüber klein, schwach, wie eine Dienerin vor ihrem Herrn, erschien. Sie erlaubte sich deshalb nicht darauf hinzuweisen, wie sie wol sonst gewollt hätte, daß sie für den Zweck der Schulinspektion keineswegs nachteilig hielte, wenn man Lehrern und Schülern wenigstens eine Viertelstunde der Vorbereitung auf den ungewöhnlichen Besuch und die bevorstehende Prüfung gestatte.
-
Sie ging vielmehr mit vor Aufregung gerötetem Antliz sofort bis zur Tür und hätte sich vor lauter Verwirrung beinahe geweigert, dem Schulinspektor voranzuschreiten, der ihr jedoch den Vortritt mit einer furzen höflichen Verbeugung überließ. Auf die Frage, welchem Unterrichtsfache er zunächst seine Aufmerksam feit widmen wollte, antwortete er, das sei ihm gleich; kaum aber hatte er das, wie sie so in dem langen Korridor hinschritten, gesagt, so wies er auf die Tür eines Zimmers, aus dem sich eben eine helle weibliche Stimme in ruhigem, zusammenhängenden Vortrage vernehmen ließ.
Was wird in diesem Augenblicke hier gelehrt?"- fragte er. ,, Nichts von höherer Bedeutung, wirklich keineswegs etwas, worauf ich zuerst Ihre Aufmerksamkeit, hochverehrter Herr Schulinspekor, lenken möchte. Ich wollte mir vielmehr erlauben, Ihnen den Herrn Professor Lohmeyer, des berühmten Matematikers vom Hedwig Gymnasium und, ich darf wol sagen, die vornehmste Zierde meiner Anstalt, in seinem geistvollen physikalischen Unterrichte zu präsentiren."
Wenn der Herr Schulinspektor nun ein warhaft rücksichtsvoller Mann gewesen wäre, so hätte er sich selbstverständlich in die Schulklasse begeben, der soeben das Glück des lohmeyer'schen Unterrichts zuteil wurde, aber der geistliche Herr war einer von den Leuten, welche sich um die Wünsche und den Willen ihrer Mitmenschen nur fümmern, wenn sie dazu irgendwie gezwungen werden oder erheblichen Vorteil davon haben. In vorliegendem Falle antwortete er:
-
,, Sehr freundlich. Indessen gestatten Sie wol, daß ich vor allem hier eintrete. Nicht war, wenn ich bitten darf?" Die Schulvorsteherin wagte nicht mehr zu widersprechen. Sie öffnete möglichst langsam und geräuschvoll die Tür des Klassenzimmers, trat hinein und sagte:
Fräulein Haßler, eine meiner allerjüngsten Lehrerinnen, trägt versuchsweise hier vaterländische Geschichte vor. Herr Schulinspektor wollen das gütigst berücksichtigen."
Das gewaltige Haupt des Schulinspektors wante sich nach der jungen Lehrerin, wärend er mit der Hand ein flüchtiges Zeichen machte, welches die Schülerinnen, die beim Eintritt der Vorsteherin zu der üblichen Ehrfurchtsbezeigung von ihren Pläzen sich erhoben hatten, zum Niedersezen aufforderte.
110
-
Fräulein Haßler- sehr angenehm," sagte er, mit seinen großen Augen rasch über die ganze Erscheinung des Mädchens hinschweifend,„ behalten Sie gefälligst Plaz und faren Sie im Unterrichte fort, als wenn niemand außer Ihnen und den Schülern zugegen wäre. Sie, meine verehrte Frau Vorsteherin, darf ich in Ihren vielfachen Geschäften nicht länger stören. Ich werde mir später erlauben, Sie in Ihrem Arbeitszimmer wieder aufzusuchen."
Er verneigte sich viel tiefer, als vorher, da er mit der Vorsteherin allein war. Seine Stimme flang aber troz all' der ausgesuchten Höflichkeit, deren sich die Worte befleißigten, nicht minder entschieden und allen Widerspruch ausschließend.
Die Vorsteherin tat denn auch, zögernd zwar und mit sehr schwerem Herzen, wie der Gestrenge wollte. Nur einen faſt flehenden Blick warf sie noch auf Fräulein Haßler, als wollte sie sagen:„ Tue du mir nur den einzigen Gefallen, deine Sache so gut zu machen, als dir nur irgend möglich ist sein oder nicht sein hängt davon ab."
-
Friederike Haßler verstand den Blick; er trug aber nicht im entferntesten dazu bei, sie zu ermutigen. Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen und sie mußte sich Gewalt antun, daß ihr die Stimme nicht versagte, als sie zaghaft begann:
,, Der Herr Schulinspektor erlauben vielleicht, daß ich mit meinem Vortrage noch einmal beginne."
,, bitte, mein Fräulein, faren Sie nur ganz sans gêne da fort, wo sie unterbrochen worden sind."
Friederike Haßler suchte sich möglichst zu fassen. Hätte sie in ihrem eigenen Lehrfache vor dem Schulinspektor zu unterrichten gehabt, so wäre sie nicht im geringsten in Verlegenheit gewesen, aber nun mußte es das Unglück, wie sie meinte, wollen, daß sie seit ein par Tagen von der Borsteherin zur Stellvertretung einer erkrankten älteren Kollegin, deren Unterrichtsgegenstände Geschichte und Geographie waren, berufen worden war. Die Schulvorsteherin hätte leicht diese Aufgabe ebensogut einem der Lehrer übertragen können, welche sich meist die facultas docendi für die höheren Gymnasialklassen erworben hatten, aber das hätte der ziemlich knauserigen Dame nicht unbeträchtliche Kosten verursacht, wärend sie bei Friederike Haßler sich jede Ausgabe ersparte, indem sie tat, als müßte diese für die Gelegenheit, sich in den höheren" Unterrichtsfächern zu üben und zu bewären, onehin sehr dankbar sein. Just gestern Nachmittag nun hatte die Vorsteherin ihrer lieben fleinen Haßler, wie sie Friederike zu nennen pflegte, wenn sie bei guter Laune war, eröffnet, daß sie von morgen ab die Vertretung doch lieber an Dr. Brandt übertragen werde, angeblich, damit sich Friederike nicht zu sehr anstrenge, in Warheit, weil sie fürchtete, daß dem Schulinspektor die Erteilung der Geschichtslektionen in einer der mittleren Klassen durch ein junges Mädchen, die im Grunde nur Zeichenlehrein war, unpassend und unzulässig erscheinen könne. Ehe aber diese Vorsichtsmaßregel ausgefürt wurde, war der Gefürchtete erschienen, und es galt nun, die Ehre der Schule nach bestem Vermögen zu waren.
" Wir waren bei dem Regierungsantritte Friedrich des Großen angelangt," begann die junge Lehrerin, anfänglich tief und schwer atmend und die Worte nur mit vieler Mühe in ununterbrochener Rede aneinanderfügend.„ Es war am 27. Mai 1740, als die Königin Sophia Dorothea den achtundzwanzigjärigen Kronprinzen von seinem Luftschlosse Reinsberg nach Berlin an das Krankenbett seines königlichen Vaters berufen ließ. Der König Friedrich Wilhelm I. fülte den Tod herrannahen, der ihn am 31. Mai ereilte. Die Tatkraft des jungen Königs äußerte sich sogleich in einer Reihe von Maßregeln und Reformen, von denen hauptsächlich zu erwänen sein möchten die Deffnung der königlichen Getreidemagazine zum Besten des notleidenden Volkes, gleichzeitig mit der Festsezung eines niedrigen Kornpreises, dann in der Abschaffung der Folter als Mittel zur Erzwingung von Schuldbekentnissen, ferner die Erlassung eines Duldungsedikts zu Gunsten der sich nicht zur Staatsreligion bekennenden Untertanen, die Errichtung eines Ministeriums zur Hebung von Handel und Gewerbe, die Berufung und Anstellung von Gelehrten und Künst lern an den Universitäten und Akademien des Landes, endlich die Milderung der die Freiheit der Presse gänzlich aufhebenden Censureinrichtungen."
Friederike Haßler war allmälich ruhig und sicher geworden, die Worte floßen ihr leicht und gefällig von den Lippen und man hörte ihr an, daß sie ihren Gegenstand völlig beherschte. Jezt hielt sie inne und blickte nach dem Schulinspektor, der sich