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Familien in's Innere

daß nur diejenigen von diesen vierzig gefürt werden sollten, auf welche ein starker Verdacht sich ge­Auch der Verdacht ist legt hätte, daß sie Schmuggel trieben. Auch der Verdacht ist ein ungeheuerliches Motiv bei derartigen tief in alle Lebensver­hältnisse eingreifenden Maßregeln. Würde man indes in den westlichen Gouvernements die Austreibungen nur den Verdäch tigen gegenüber in Anwendung gebracht haben, dann wäre schweres Unglück vielen tausend durchaus unschuldigen Familien erspart geblieben.

Eine der originellsten Austreibungen traf die Juden, welche an der Grenze des Königreichs Polen auf russischem Boden wohnten. Polen war doch ein Teil Rußlands geworden und durch die allgemeine Zollgrenze eine fünfzigwerftige judenfreie Linie. Ueber diese Linie wurde viel geschrieben, bald wurde sie als gesezlich, bald als ungesezlich anerkant, und der Zustand der hier interessirten, nichtansässigen Juden war ein höchst unan­genehmer und schwankender. Jedenfalls traf dieses Austreibungs­dekret, welches allen andern die Krone auffezte, diese Juden sehr hart, weil sie es am wenigsten erwartet und verdient hatten. Erst am 2./14. September 1857 wurde den Juden und ihren Angehörigen erlaubt, in dieser fünfzigwerstigen polnisch- russischen Grenzlinie wieder wohnen zu dürfen.

Im Jare 1844 befal der Kaiser Nikolaus, die Verkaufsfrist der Häuser zu verlängern. Befantlich war durch die Verordnung vom 20. April( 2. Mai) 1843 den jüdischen Hauseigentümern zum Verkaufe ihrer Häuser und Liegenschaften eine Frist von zwei Jaren gewärt worden. Da man wußte, daß die Juden nach Ablauf derselben fort müßten, hüteten sich die Christen wolweislich, eine große Kauflust an den Tag zu legen. Die Grundstücke waren deshalb zum größten Teil unverkauft geblieben. Nikolaus befal nun, die Verkaufsfrist für Steinhänser um zwei Jare und diejenige für Holzhäuser um ein Jar zu verlängern. Damit war für die jüdischen Grundbesizer immerhin etwas ge­wonnen. Zugleich wurde in Anbetracht der großen Not der ausgetriebenen Juden diesen auf die Dauer von fünf Jaren alle Abgaben mit Ausname der Zölle erlassen. Jezt fand man es auch mit einemmale unbillig, daß man bei der Austreibung so stürmisch zu Werke gegangen. Besonders war es der Rückgang der von den Juden betriebenen Industrien, was die Aufmerksam keit der Regierung erweckte. Viele Fabriken waren eingegangen, die darin beschäftigten Arbeiter brodlos geworden. Nikolaus be­fal, daß man ihm ein Verzeichnis der von den Juden betriebenen Fabriken und Etablissements anfertige und vorlege, damit er über das Schicksal ihrer Eigentümer definitiv entscheiden könne.

Nikolaus ging noch einen Schritt weiter, er ordnete an, daß denjenigen Juden, die in die Städte zogen, Holz aus den Staats­waldungen zum Häuserbau überlassen werde. Zugleich forderte er von den Gouvernementsverwaltungen ein Verzeichnis der jü­dischen Steinhäuser in den Flecken und Städten, eine Beschreibung ihrer Beschaffenheit u. s. w. ein, um nach all' diesen Erhebungen jeden einzelnen Fall beurteilen zu können.

Man weiß, in wie bedenklichem Zickzack russische Reformen sich bewegen. So geschah es auch hier. Der kaiserlichen Ent­schließung folgten wol geschäftige Untersuchungen der Admini­strativbehörden, doch kam bei alledem nicht viel heraus. Der Eifer erlosch, die Regierung verlor die Juden bald wieder aus dem Gedächtnis. Die Säuberung der Grenzlinien von den Juden nam troz alledem ihren Fortgang, doch wurde in einzelnen Fällen Rücksicht genommen, auch war es möglich, durch Geld­opfer oder andere Mittel allen Ukasen zum Troz sich in der fünfzigwerftigen Linie das Verbleiben zu erkaufen.

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Es sei an dieser Stelle noch auf ein Gesez vom 10. Februar 1848 aufmerksam gemacht, wonach jüdischen Grundbesizern.der fünfzigwerstigen Zone für ihre Grundstücke keine Darlehne aus der Staatskasse gewährt werden durften. Wo jüdische Grundbe­sizer derartige Darlehne erbaten, war die ausdrückliche Beschei­nigung der Gouvernementsbehörden erforderlich, daß das be­treffende Grundstück einst in der fünfzigwerstigen Zone lag. Es spiegelt sich in diesem Geseze die Uebergangsperiode wieder. Die Juden sind hier und da wieder in das ihnen verschlossene Ge­biet zurückgekehrt; die Behörden drückten die Augen zu; sie hatten auch nichts dagegen, wenn die Juden wieder Grundbesiz er­warben. Was sie taten, um ihre Niederlassung zu befestigen, das taten sie jedoch auf ihre eigene Gefar. Man wußte eben in den Kreisen der Regierung nicht recht, was noch werden konte, welches Schicksal die nächste Zeit den Juden bringen würde. Man glaubte deshalb auf alle Fälle darauf achten zu müssen, daß der Staat nicht zu Schaden kam.

Mit dem Regierungsantritt Alexanders II. kam ein neuer Geist zum Durchbruch. Im Jare 1857 wurde den Juden ge= stattet, in den neuerbauten Städten und Flecken der hundert­werftigen Linie wohnen zu können. Im folgenden Jare, am 24. Oftober 1858 wurden verschiedene Verordnungen über die Juden erlassen und auch ihre Niederlassung in der fünfzigwerstigen Linie geregelt. Das vor dieser Regelung erworbene unbeweg­liche Judeneigentum verblieb den Juden, und allen einer Ge­meinde zugeschriebenen, fest ansässigen Juden wurde das Ver­bleiben und die Freizügigkeit in der fünfzigwerstigen Linie ge­stattet, alle anderen Juden aber wurden fortgewiesen und neue Niederlassungen nicht bewilligt.

Wir haben in gedrängtester und flüchtigster Skizze ein Bild des furchtbaren Schicksals entrollt, das über die russischen Juden gekommen ist. Es ist unnötig, daraus noch eine Moral zu ziehen; die Fakta sprechen deutlich und lehrreich genug.

Es bleibt nur noch ein Hinweis auf die heutigen Juden­hezen in Rußland übrig. Vergegenwärtigt man sich all' die Leiden und Verfolgungen, welche die russische Regierungspolitik über die Juden gebracht, dann wird man sich nicht wundern, daß der Jude in den Augen des russischen Volkes nur als ge­duldeter, rechtloser Paria erscheint, gegen den alles Unrecht, jede Gewalttat erlaubt ist. Die Regierung hat mit ihrer Unduldsam­keit und Brutalität gegen die Juden ein schlimmes Beispiel ge­geben. Bezeichnenderweise hat auch die gegenwärtige Regierung nur äußerst widerstrebend den Juden ihren Schuz gewärt; sie steht tatsächlich heute noch auf dem Boden der früheren Re­gierungen, mißachtet wie diese die Juden und erntet in den blutigen Hezen unserer Tage lediglich das, was ihre Vorgänger an Barbarei gegen die Juden ausgesäet haben.

Man flagt über den mangelnden Patriotismus der Juden, vergißt aber, daß man nicht das geringste getan, ihn zu er wecken, den Juden das Land, dessen Bürger sie sein sollten, lieb und wert zu machen. Wie der leibeigene christliche Bauer jedes Patriotismus bar war, weil die Rechtlosigkeit und Knechtschaft, zu der man ihn verurteilt hatte, solchen nie aufkommen ließ, muß auch wol der mißhandelte Jude antinational sein, wie es auch jeder Mensch sein muß, den staatlicher oder gesellschaftlicher Despotismus der politischen, allen Bürgern zustehenden Rechte be­raubt hat. Je uneingeschränkter und geachteter das politische Recht, desto kräftiger und allgemeiner auch der Patriotismus.

so

Brauchen wir die gleichen Erscheinungen in Preußen den russischen noch speziell entgegen zu stellen? Jeder vorurteilsfreie Leser wird sich die Parallele schon längst selbst gezogen haben.

Geschichtliche Gespenster.

Streifereien in alten und neuen Athen . Von Karl Kaffau.

Das Gefärt hielt. In einem großen, mit der höchsten euro­ päischen Eleganz ausgestatteten Hause wurden uns vier elegant eingerichtete Zimmer angewiesen, und nachdem wir uns ein wenig umgekleidet, wurden wir von unserem liebenswürdigen Wirt selbst zum Frühstück gerufen, bei welchem auf dem reichbesezten Tische nur griechische Weine glänzten. Hier machten wir auch die Be­kantschaft der liebenswürdigen Hausgenossen des Senators, seiner Gemalin, Ariadne, und seiner einzigen schönen Tochter, Cyana,

( 1. Fortsezung.)

mit welcher lezteren sich John auf das angelegentlichste unter­hielt. Beide Damen sprachen ziemlich perfekt Englisch. Wie unser Wirt selbst ganz nach europäischer Mode gekleidet war, gleich den meisten Bewohnern Athens , so auch die Damen. Im alten Stadtteil, der sich im Norden an die Akropolis lagert, so sagte mir der Senator, leben noch viele Familien albanesischer Ab­funft; diese tragen noch vereinzelt die malerische griechische Tracht. Unser Frühstück verlief auf die anmutigste Weise, wonach ein