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wegten Lebens gesammelt hat. Sie versteht jene Gassenhauer, deren Quintessenz eigentlich nichts anderes ist als die Geißelung der faunenhaft­blasirten Lüsternheit in den forrumpirten Schichten unserer ,, Gesellschaft", mit einem Realismus vorzutragen, der ihr den Beifall ihres Publikums stets sichert. Sie wagt sich an die Soloscene und selbst an die eigent­liche teatralische Leistung, die bei der sonderbaren Beschaffenheit der amerikanischen   Schaubühne von jenen Gebieten durchaus nicht so fern liegt, wie bei uns. Das amerikanische   Volksstück, das auch dem Ge­schmack des armen Paddy*) sehr zu entsprechen scheint, hat sich aus den alt englischen Burlesken und Sensationsstücken entwickelt. Naturgemäß haben sich die feineren Nüancen verwischt und hat das Plump- Groteske, die Klownsspäße und die groben Effekte, überwuchert. Mord und Todt­schlag in jedem Aft ist selbst bei den modernen londoner Produkten dieser Art nichts ungewöhnliches, echt amerikanisch ist aber z. B. eine Fabel, welche die Heldin des Stücks lebendig begraben werden und durch Leichenräuber, welche in einer Kirchhofs- Scene erscheinen, aus­graben und so der weiteren Handlung wiedergeben läßt. Ein anderes sprechendes Beispiel ist, wie dasselbe Stück ,, die Straßen von London  " in London   und wie es in Amerika   inszenirt wird. Im Original sucht ein verbrecherischer Banquier einen fatalen Mitwisser, den er in der Person eines früheren Kommis hat, durch Einschüchterung loszuwerden, indem er ihn zunächst verhaften läßt und ihn dann, als er trozdem wieder Erpressungsversuche bei ihm macht, mit einem Revolver bedroht. In der amerikanischen   Bearbeitung aber dingt der Banquier zwei Des peosrad, welche die Beseitigung ihres Klienten in der Weise zu bewerk­stelligen suchen, daß sie ihn beim Herannahen eines Eisenbahnzuges auf die Schienen festbinden! Ein großer Teil des Publikums ist natürlich entzückt über den Eisenbahnzug und die Schreckensszene, die das Obfer durchmachen muß, und übersieht alles Bedenkliche in der frostigen Dar­stellung. Auch findet das Publikum es in der Ordnung, wenn die Heldin des Stücks gelegentlich ein echtes Tingeltangel- Lied vorträgt, oder aber frei nach der berühmten Stelle in Schillers ,, Turandot": Das Köpfen hat ein Ende. Auf Leid folgt Freud   Man gebe sich die Hände", die sämtlichen Akteure und Aftricen sich anfassen und zum Abschluß ein gemeinsames Kouplet vortragen. In Amerika   liegt also ein Uebergang vom Tingel- Tangel zum Tespiskarren viel näher wie sonst eine Berufsveränderung. Die amerikanische   Kunst steht vor­läufig auf keinem höheren Niveau wie der amerikanische   Wein, sie hat indessen eine so sichere Zukunft, wie die Ungar- und Burgundertraube am Erisee  , dem Ohio   oder den Küstentälern des Pazifik  .

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Kehren wir indessen noch einmal zu Mademoiselle zurück, die in­zwischen ihre Wirksamkeit einige fünfzehnhundert Meilen westwärts von ihrem ursprünglichen Wirkungskreise an der Bowery verlegt hat. Es gibt in Amerika   ein geflügeltes Wort, welches namentlich für gewisse Kategorien der Einwandernng seinen tiefen Sinn hat, das da lautet: go west, young man!"( Wende dich westwärts, junger Mann!") Es ist weltbekant, wie sehr dieser Rat von den Männern befolgt wird und gewiß ist es nicht immer die Schuld derer, die ihn nicht be­folgen, sondern einfach Mangel an Mitteln, der die kolonisationsfähigen Kräfte im Osten brachlegte. Wenn aber die Männer auswandern, bleibt den Mädchen nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen bei Vermeidung des Zwangscölibats, zu dem bekantlich ein stets wachsender Bruchteil der europäischen Frauenwelt schon verurteilt ist und es so lange bleiben wird, bis man anfangen wird, den Massenerport heiratsfähiger weib­licher Elemente als eine Pflicht der Humanität zu betrachten. Für ein einigermaßen spekulatives Frauenzimmer, das eine Untersuchung ihrer Bergangenheit zu scheuen hat, gibt es jedenfalls keinen rationelleren Entschluß, als den, ihre Zelte im Osten abzubrechen und nach dem Lande zu gehen, deffen Bevölkerungsgesez sich ungefär so formuliren läßt:

Der Prozentsaz der weiblichen Bevölkerung in dem riesigen Gebiete zwischen Felsengebirge und Mississippi   steht in umgekehrtem Verhält­nisse zu der Entfernung des betreffenden Gebiets von den relativ über­völkerten östlichen Landteilen.

Man braucht nur die Gesichter verschiedener Farmer auf unserem Bilde zu beobachten, um warzunehmen, wie tief sie von den unzüch­tigen Geberden unserer Heldin entzückt sind, und wenn Mademoiselle Finette einverstanden ist, wird sie vielleicht morgen schon den Kopula= tionsschein mit einem dieser Halbwilden in der Tasche haben! Das Heiraten drüben geht ebenso gschwind wie das ganze bewegte amerika­nische Leben! Wenn Yankee Doodle" in die Stadt komt, kann ihm allerlei passiren und was das wunderbarste ist, derartige sonderbare Kreuzungen, wie sie eine Ehe von Mademoiselle Finette mit einem westlichen Schweine- und Rindviehzüchter primitivster Art vorstellen würde, sie mißglücken seltener, wie man glauben sollte, und tragen schlimſtenfalles dazu bei, die Humus- Schicht zu verstärken, welche in allen Fällen erfor derlich ist als Basis einer jungen und hoffnungsreichen Civilisation.

Noch eine Bemerkung über das Bublifum unserer Vorstellung. Wie man sieht, raucht, plaudert und bewegt sich alles in der ungezwungenſten Weise. Der Amerikaner macht es nämlich, wie in vielen Dingen, so auch hier umgekehrt wie der Deutsche. Er raucht, trinkt im Teater, wärend in einer politischen Versamlung derartige Genüsse strengstens verpönt sind. Das beweist doch wol, daß der Humbug" drüben dennoch nicht in der Weise vorherscht, wie wir europäischen Pharisäer uns selbst einzureden versuchen. 2. Viered.

*) Spizname für die Irländer.

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Heinrich von Kleist.  ( Mit Porträt auf Seite 136:) ,, Ich nenne nämlich Glück nur die vollen und überschwänglichen Genüsse, die in dem erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens liegen. Diese Genüsse, die Zufriedenheit unserer selbst, das Bewußtsein guter Handlungen, das Gefül unserer durch alle Augenblicke unseres Lebens, vielleicht gegen tausend Anfechtungen und Verfürungen standhaft behaupteten Würde sind fähig, unter allen äußeren Umständen des Lebens, selbst unter den scheinbar traurigsten, ein sicheres, tief­gefültes, unzerstörbares Glück zu gründen. Und verdienen wol bei diesen Begriffen von Glück, Reichtum, Güter, Würden und alle die zerbrechlichen Geschenke des Zufalls diesen Namen ebenfalls?"- One langes Besinnen beantworten wir diese Frage mit nein! und befinden uns hierin ganz im Einverständnis mit dem Verfasser dieser Definition des Glücks, dem eben so reich beanlagten wie unglücklichen H. v. Kleist  , der sein Leben lang dieses Glück gesucht und trozdem an seinem Un­glüde zugrunde ging.

So wenig das Glück sich suchen läßt und so launenhaft es sich oft dem Menschen zeigt, so sicher ist andererseits, daß der Mensch selbst sehr viel dazu beitragen kann, um dieses schöne Gut sich zu. erwerben und zu erhalten. Naturen freilich, deren Feuergeist schwer zu bändigen, die mit dem Errungenen nie zufrieden, deren Phantasie in so fühnem Fluge dahin eilt, daß ihre wenn auch noch so bedeutende Schaffenskraft nicht zu folgen vermag und die deswegen schließlich an ihrer Bestimmung zu zweifeln beginnen, werden, selbst wenn sie von dem Bewußtsein erfüllt find, das Gute gewollt und nach Kräften gefördert zu haben, doch nie­mals voll und ganz in den Besiz des Glücks gelangen können. Zu diesen Naturen tann man nun wol auch H. Kleist rechnen, denn in so hohem Grade er auch alle die von ihm selbst für den Zustand menschlicher Glückseligkeit als notwendig bezeichneten Bedingungen sein eigen nennen fonte, den Fond von Zufriedenheit über sich und seine Umgebung, der dazu benötigt ist, besaß er nicht. Und so trieb es ihn denn unität umher, bis eine kalte, mitleidige Kugel seinem stürmischen Herzen im besten und schönsten Mannesalter die Ruhe brachte.

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Nach den meisten vorliegenden Nachrichten wurde kleift am 10. Oktober 1776- nach einer gelegentlich der Säkularfeier des Dichters geltend gemachten Angabe soll er am 18. Oftober 1777 geboren sein und mit den Vornamen Heinrich Bernt Wilhelm geheißen haben; ob dies richtig ist, fonte ich nicht ermitteln zu Frankfurt   a. D. geboren, als ein Glied jener preußischen Adelsfamilie, die bereits ihrem Vaterlande eine ganze Anzal tüchtiger Soldaten und einige nicht minder tüchtige Boeten geschenkt hatte. Besondere Anregung zur Poesie hat aber der junge Heinrich in dem damals recht unbedeutenden Frankfurt   schwerlich erhalten, höchstens mag das einfache sich dort befindliche Denkmal des an seinen bei Kunersdorf erhaltenen Wunden in Frankfurt   verstorbenen Dichters Ewald v. Kleist ihn frühzeitig schon an die Dichtkunst gemahnt haben. Seine Jugend soll ihm im Kreise seiner Geschwister heiter dahingegangen sein. In Gemeinschaft mit einem Vetter, der als schwermütig geschil dert wird, erhielt er von einem Hauslehrer die erste Erziehung und wird von seinem Lehrer als ein mit bewunderungswürdiger Aufassungs­gabe und warmem Trieb zum Wissen ausgestatteter junger Mensch ge­schildert, der dabei offen und fleißig, wegen der geringfügigsten Angelegen heiten aber in Exaltation verfiel. Inwieweit der genante Trübsinn des Vetters auf das Gemüt unseres Dichters verderblichen Einfluß geübt, ist wol schwer zu bestimmen, aber interessant genug, um angefürt zu werden, ist unstreitig der Umstand, daß beide einmal später briflich persönlich sahen sie sich nie wieder den Entschluß gefaßt haben, eines freiwilligen Todes zu sterben, welchen Entschluß der Better auch früh­zeitig ausfürte. Beide sollen ihrem von der Kleist'schen Familie geschäzten Jugendlehrer mit Liebe zugetan gewesen sein.

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Der Tod seiner Eltern war jedenfalls die Veranlassung, daß er im elften Jare nach Berlin   fam, wo er dem Prediger Catel   zur Er­ziehung übergeben wurde. Aller Warscheinlichkeit nach sollte er den Traditionen der Familie gemäß Soldat werden und so war er denn 1792 in die Armee eingetreten; 1795 wenigstens war er beim Regiment Garde zu Fuß. In dieser Stellung wird er als ein eleganter, lebens­frischer junger Mann geschildert, der sich durch ein nicht unbedeutendes, wenn auch unausgebildetes, musikalisches Talent ausgezeichnet habe, one Noten zu kennen, Tänze komponirte und in einer aus Offizieren gebildeten Musikbande die Klarinette spielte. Bei dieser Gelegenheit sei auch ein abenteuerliches Unternehmen aus seiner Jugend erzält: Eines Tages wird bei einem Verwanten zwischen ihm, einer Schwester und zwei Freunden die Frage aufgeworfen, wie lange sie wol one einen Pfennig Geld in der Welt fortkommen fönten. Flugs ist das über­mütige Völkchen daran und macht den Versuch, indem es als arme Leute verkleidet, jeder darunter mit einem Instrumente versehen, aber one einen Groschen Geld, acht bis vierzehn Tage herumzog und sich durch musiziren in Dorfschenken und Bauernhöfen seinen Lebensunter­halt verdiente. In dieser Zeit soll auch seine erste Liebe zu einem adligen Fräulein erwacht sein, die aber- man weiß nicht warum plöz­lich unterbrochen wurde. Wie sehr er von dem unglücklichen Aus­gang ergriffen war, beweist der Umstand, daß er sein Aeußeres ver­nachlässigte, sich von den Menschen zurückzo und fleißig Philosophie studirte.

Kleist hatte überhaupt wärend seiner Militärzeit sich ernsthaft mit den Wissenschaften beschäftigt und sich zum Studium auf der Universität vorbereitet; er war immer mehr Student als Soldat" gewesen, wie er in einem Brise selbst sagt. Freilich zum Entsezen seines Chefs, des Ge­