12. Kapitel. Goethe der Naturforscher.

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Eine Konsequenz des Spinozismus Goethe's   war nicht blos sein Interesse für die Naturforschung überhaupt, sondern ganz besonders seine Ueberzeugung, daß nicht blos die verschiedenen Pflanzen und Tierformen auf eine Grundform des pflanzlichen und des tierischen Organismus, sondern auch daß das Tier- und Pflanzenreich auf eine gemeinschaftliche Grundform zurückzufüren sei; weshalb wir ihn stets nach dem einheitlichen Typus der Organismen suchen und tasten sehen,( welches wissenschaftliche Streben bekantlich nicht unfruchtbar blieb, sondern durch die Auf­findung des Zwischenknochens und die Ideen über Pflanzen metamorphose die Wissenschaft bereicherte und die späteren groß artigen Fortschritte auf dem Gebiete der Ontogenese mit an­bahnen half). Natürlich; denn ist die Substanz und ihre Kräfte das Absolute, in dem alle Erscheinungsformen ihren lezten Grund haben, erfolgen alle Erscheinungen one Ausnahme nach einem und demselben großen Causalgeseze, von denen die physikalischen und chemischen Naturgeseze gleichsam blos die einzelnen Para­graphen sind, so muß notwendig die Entstehung der Organismen auf andere Weise als früher erklärt werden, und der Denker mußte sich daher, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, die Aufgabe stellen, für die Mannichfaltigkeit der Formen die einfache Grundform zu finden. War diese einmal gefunden, so stand zu hoffen, daß die Forschung auch den lezten Schleier lüften werde, welcher den Uebergang vom Anorganischen zum Orga nischen auf natürlichem Wege bis dahin verhüllt hatte.

13. Kapitel. Der Darwinismus und seine Anhänger. Was Goethe dämmernd ahnte, das hat Darwin   und seine Schule zu klarer Erkentnis gebracht. Mit dem Darwinismus bereitete die exakte Naturforschung der philosophischen Spekulation einen seltenen Triumph; denn durch ihn erhält die spinozistische Weltanschauung ihre glänzende empirische Bestätigung, sie bildet den Schlußstein des großartigen Systems. So lange die Ent­stehung der Organismen ein unlösbares Rätsel schien, war es natürlich, daß der hausbackene Verstand an den Argumenten der Philosophie, deren Nerv zu spüren er onehin unfähig war, sich nicht kehrte und in dem bekanten asylum ignorantiae, dem Krea­tismus, seine Zuflucht suchte. Ueberdies stand der Philosophie der teleologische Beweis für den Deismus entgegen, der einzige, dessen Hornhaut die kritischen Pfeile leicht abschüttelte. Erst der Darwinismus gab ihm den Todesstoß. Denn hat derselbe auch die innersten Schlüssel des Transformismus noch nicht gefunden, so ist er in demselben doch schon so weit eingedrungen, daß er mit froher Zuversicht der Zeit entgegen sehen darf, wo der lezte Vorhang sich ihm öffnen wird. Das Gesez der Vererbung im Bunde mit dem Gesez der natürlichen Zuchtwahl im Kampf um's Dasein erschließt unserm Verständnis den früher geheimnisvollen Prozeß des Werdens und der Entwicklung vollendeter Wesen aus einfachen, rohen Bildungen.

Es ist das gewönliche Schicksal neuer Theorien, daß sie schwere Kämpfe zu bestehen haben, bis sie zur allgemeinen Anerkennung gelangen und im Olymp der ewigen Ideen einen Plaz erringen. Schwer besonders sind die Kämpfe derjenigen jungen Ideen, welche Grundsteine erschüttern im Fundamente ganzer Systeme, die der Menschheit lange Obdach und Schuz gewährt haben gegen die Stürme des Lebens und der Leidenschaften, gegen äußere und innere Gefaren und Feinde. Diese haben nicht nur gegen die regulären Truppen der Logik sich zu wehren, sondern auch gegen die erbitterten Franttireurs der Verdächtigungen; der Ver­dächtigungen nämlich, daß sie die Menschheit in Unglück und Laster stürzen, weil sie unfähig seien, jene eubiotischen und etischen Woltaten zu gewähren, welche die durch sie gefärdeten Systeme gewährt haben sollen, beziehungsweise wirklich gewährt haben.- Sehr viele Menschen sehen ja auch die Ideen nicht nach ihrem innera Warheitsgehalt an, sondern nach ihrer Wirkung auf Herz und Leben. Sie spannen auch den Gedanken in das materia­listische Joch der Utilität und schließen die Augeu vor dem Sonnen­licht der Warheit, wenn das Jrr- oder Dämmerlicht des Irrtums sie eher anspricht. Sie wissen nicht, daß jeder Irrtum den geistigen Organismus mit gefärlichem Gifte infizirt, daß er, dem Morphium gleich, hie und da wol den psychischen Schmerz stillen, die Leiden­schaft beruhigen mag, aber dabei die Gesundheit zerrüttet und daß er nur bei gewissen Krankheiten als Heilmittel verwendet werden darf.

Schädliche Warheit, ich ziehe dich vor dem nüzlichen Irrtum. Warheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt

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sagt der Dichter( Goethe). Von Voltaire   berichtet ein Biograph: ein, daß die Erlösung vom Irrtum Unglück zur Folge haben " Daß Wahn und falsche Vorstellung eine Bedingung des Glücks könne, das war für Voltaire etwas so Undenkbares, daß er sich entrüstet und persönlich verlegt von einer solchen Ansicht abwen­dete. Als Casanova einmal Voltaire, als er schon hoch bejart war, auf mehrere Tage besuchte und gegen ihn bemerkte: er glaube nicht, daß die Menschen glücklicher würden, wenn man ihnen ihren Aberglauben nähme, da war es aus mit der Freundlichkeit seines Wirts."( Gartenlaube 1878. Nr. 23 f.) Alle starken

Geister haben eingesehen, daß der Irrtum der gefärlichste Feind der Menschheit, der eigentliche Baum der Erkentnis ist, dessen Frucht zwar manchmal lieblich aussieht und süß schmeckt, aber Tod und Verderben bringt; wogegen die Warheit der Baum des Lebens ist. Sich vor der Warheit fürchten," sagt Arnold Ruge  , ist Roheit; sich vor dem Aberglauben nicht fürchten, ist ein großer Mangel an Einsicht. Denn sein Werk sind unzälige, Land und Leute verderbende Gräuel der Geschichte. Gelangt der

Aberglaube zur Gewalt, so unterwirft er sich die Vernunft und Wissenschaft und dadurch auch den Willen und die Freiheit." ( Reden über Religion. fünfte Rede.)-" Ist es der Geist," schreibt A. Schopenhauer  , ist es die Erkentnis, welche den Menschen zum Herrn der Erde macht, so gibt es keine unschädlichen Irrtümer, noch weniger ehrwürdige, heilige Irrtümer"( Die Welt als Wille und Vorstellung 1.) und wiederum: Es kann nicht zu oft wieder­holt werden, daß jeder Irrtum, wo man ihn auch antreffe, als ein Feind der Menschheit zu verfolgen und auszurotten ist und daß es keine privilegirte oder gar santtionirte Irrtümer geben kann. Der Denter soll sie angreifen, wenn auch die Menschheit, gleich einem Kranken, dessen Geschwür der Arzt berührt, laut dabei aufschrie."( ibid. II.) Von jeher hat man aber, so oft eine neue, die bisherigen Anschauungen in der Wurzel angreifende Warheit entdeckt wurde, auf die praktischen Woltaten hingewiesen, welche der alte Irrtum Jarhunderte lang gewährt hat, und man hat die junge Warheit für unfähig erklärt, der Menschheit das­selbe zu leisten, man hat, one reifliche Untersuchung, das Ver­dammungsurteil über sie ausgesprochen, weil sie die Menschen entsittliche und unglücklich mache. Der Spinozismus seiner Zeit und der Darwinismus in der Gegenwart entgingen diesem Shickjal nicht. Da aber jede neue Warheit aus dem Kampfe, den die Unvernunft ihr aufzwingt, gekräftigt und geläutert hervorzugehen pflegt und auch wenn es lezterer gelingen sollte, sie eine Zeit lang zu verdrängen und einzuschüchtern, doch im Stillen sich ausbreitet, die Geister erobert und durch die Persönlichkeit ihrer Vertreter die Kalumnien der Unvernunft Lügen straft, so legt si h gewönlich, nachdem Jarzehnte dahin gegangen sind, der Sturm, man fängt an, die neue Idee zu toleriren, einsehend, daß sie doch nicht so gefärlich ist, als sie zuerst schien, ja man zollt ihr all­mälig Achtung und nach und nach läßt man es geschehen, daß sie sich in den alten Systemen einnistet, dankt es ihr auch wol gar, daß sie dem siechen Organismus der überkommenen Lehren neue gesunde Säfte einflößt und sie vor Fäulnis und Zerfall bewart. Der Spinozismus, vor dem seiner Zeit jeder Gläubige sich befreuzigte, gegen den die gesamte Schar frommer Philosophie Sturm lief, wird heutzutage selbst von der Ortodoxie mit Respekt behandelt, was er zum Teil seiner deistischen Ausdrucksweise, vielleicht auch dem berümten Worte eines angesehenen Teologen*)

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*) In seinen Reden über Religion äußert sich Schleiermacher  : ,, Opfert mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza  ! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Universum war sein Anfang und sein Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, und darum steht er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, one Jünger und one Bürgerrecht." Selbst Jakobi, der eifrigste Gegner des Spinozismus, fonte sich nicht enthalten, auszurufen: Sei du mir gesegnet, großer, ja heiliger Benediftus! Wie du auch über die Natur des höchsten Wesens philosophiren und in Worten dich verirren kontest, seine Warheit war in deiner Seele und seine Liebe war dein Leben." Schön sagt H. Heine  : ,, Bei der Lektüre des Spinoza   ergreift uns ein Gefül wie beim Anblic der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe. Ein Wald von himmel­hohen Gedanken, deren blühende Wipfel in wogender Bewegung sind, wärend die unerschütterlichen Baumstämme in der ewigen Erde wurzeln. Es ist ein gewisser Hauch in den Schriften des Spinoza, der unerklärlich ist. Man wird angeweht wie von den Lüften der Zukunft. Der Geist der hebräischen Propheten ruhte vielleicht noch auf ihrem späten Enkel." Uebrigens scheint die heutige Indulgenz gegen den Spinozismus vielleicht zum Teil auch darin begründet zu sein, daß die Zunftphilosophie den selben als veraltet und durch den sogenanten Kritizismus verdrängt glaubt.

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