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Der gegenwärtige Stand der Impffrage.

Von Friedrich Nauert.

Vom 9.- 12. Oftober 1881 tagte in Köln   der zweite inter­nationale Kongreß der Impf- und Impfzwanggegner, um sich mit dem Stand und der Entwicklung des Impfwesens in den verschiedensten Ländern zu beschäftigen und zum Schluß eine Petition an den Reichstag zu entwerfen, welche verlangt, derselbe möge den Reichskanzler ersuchen, 1) die ursprünglichen Motive des Reichsimpfgesezes vom 8. April 1874 durch eine gemischte Kom­mission, bestehend aus Aerzten, Statistikern und Juristen, unter Berücksichtigung aller seit 1874 beigebrachten Tatsachen und Be­lege einer streng wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen, 2) dieser Kommission durch Vermittelung der Bundesregierungen die Ur­pockenlisten der deutschen   Städte und Gemeinden von den Polizei­ämtern und den städtischen Verwaltungen zuzustellen, 3) dem Reichstage von dem Ergebnis dieser Beratungen und Beschlüsse Mitteilung zu machen und 4) inzwischen die Strafbestimmungen in dem Geseze vom 8. April 1874 aufheben zu lassen. Als Gründe werden aufgefürt, daß die Unterlagen zu dem erwänten Geseze sich nach vielseitiger Prüfung von Aerzten, Statistikern und Juristen nicht als maßgebend und unanfechtbar erwiesen hätten und nachgewiesenermaßen auf falschem Grunde beruhen. Zum Schluß wird dann noch auf das von der Petitionskommission der Impfgegner beim lezten Reichstage eingereichte, die Halt­losigkeit der Impfteorie beweisende Material hingewiesen.

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Die N. W.  " hat sich nun früher des öfteren mit dieser Frage beschäftigt und es ist daher angesichts des allgemeinen Interesses, das derselben im deutschen Publikum entgegengebracht wird, wol am Plaze, kurz ihr dermaliges Stadium hier zu skizziren. Hat sich doch die Repräsentation des deutschen Volkes, seitdem sie zu den mancherlei Segnungen, welche ihr das Reich zu danken hat, auch noch die des Impfzwanges gefügt, in jeder ihrer Sizungen mit einer von tausenden von Unterschriften bedeckten Petition zu beschäftigen, die energisch verlangt, den gesezlichen Zivang zum Impfen wieder aufzuheben.

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Es geht aber dem Reichstage wie's oft schwachen Menschen zu gehen pflegt: er mag ein voreilig begangenes Unrecht nicht einsehen oder will doch nicht so mir nichts dir nichts durch eine Aufhebung des Impfgesezes den Beweis liefern, daß er sich vor garnicht so langer Zeit bei Annahme desselben geirrt und daß jene Leute, die schon damals dagegen opponirten, recht hatten. Da sich nun obendrein noch ein beträchtlicher Teil dieser ehr­würdigen Versamlung jener wichtigen Frage gegenüber damals und bis zum Schluß der lezten Legislaturperiode in höchst über­flüssiger Bescheidenheit für Laien" hielt und blindgläubig dem beistimte, was von den par Fachmännern" für heilsam und ge­meinnüzig dargestellt wurde und zwar one auch nur im min­desten daran zu denken, daß sich bei Beurteilung von so wichtigen Fragen, die speziell in das Gebiet der Fachmänner gehören, die schwache Leiblichkeit und Sündhaftigkeit des menschlichen Geschlechts bemerkbar machen kann, so waren auch immer nur einige wenige Veranlassung, daß im Reichstag über die Bitten von tausenden von Staatsbürgern einfach zur Tagesordnung" über­gegangen wurde, oder daß womöglich die Petitionen bereits in der Kommission in den Papierkorb wanderten. In diesem Falle hatte nun aber der engagirte Interessent, das Volk, sehr wenig Respekt vor der Tagesordnung" des Parlaments und so wurde denn, nachdem die eine Petition verworfen war, flugs eine neue abgefaßt, die womöglich noch lebhaftere und zalreichere Unter­stüzung fand, und schließlich schwoll die Zal der Protestirenden derart an, wurde deren Sprache eine so eindringliche und lebhafte,

untersuchen.

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beweise konten gegenüber dieser Beredtsamkeit kaum aus dem Dunkel hervortreten und mußten verstummen, weil es meist ,, Laien" waren, welche sie vertraten. Die Balen bewiesen" auch in diesem Falle, bis ein Mann und diesmal wirklich ein Mann vom Fach!- der wolbekante Statistiker Kolb   die von beiden Parteien als Beweismaterial vorgefürten Tabellen einer kritischen Be­trachtung unterzog und zu dem Ergebnis kam, daß die Impf­statistik unzuverlässig sei und daß namentlich die, auf welcher die Impffreunde ihr Gesez gebaut, total verkehrt sei. Zu dem kam noch die für die Impffanatiker so fatale Tatsache, daß mehrere schwere Fälle von Impfvergiftung troz aller Vertuschungsversuche amtlich konstatirt wurden, wodurch die Behauptung der Impf­gegner, daß durch das Impfen, andere, viel gefärlichere Krank­heiten als die Pocken, verpflanzt und übertragen würden, Be­stätigung fand und der Opposition zu dem angehäuften Beweis­material noch neues, wichtiges zugefürt murde.

Wie man aber die Zalen bei Aufstellung der statistischen Tabellen handhabte, dafür mögen hier einige Beispiele Zeugnis ablegen. Der Chefarzt der k. k. österreichischen Staatseisenbahn­gesellschaft, Dr. L. Jos. Keller, früher Verfechter des Impfens, hatte in den Pockenepidemien 1872, 1873 und 1874 durch 63 Bahnärzte genaue statistische Erhebungen über die Erkrankungen und Sterbefälle an den Blattern angeordnet und ließ die von ihm veröffentlichten Berichte von seinen Berichterstattern kontro­lieren. Es fand sich*), daß 3385 Bodenfranke behandelt wurden, davon genasen 2760 und starben 625. Nach der üblichen Weise gerechnet ergab dies folgende statistische Aufstellung:

von 2069 Geimpften starben 317= 15,32 Proz. 1095 Ungeimpften 24,74

271

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"

"

" 1

92 Revaccinirten

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"

" 1

16= 17,39

" 1

19 Geblatterten

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5 26,31

"

"

"

"

110 Zweifelhaften

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16= 14,54

"

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Kolb läßt nun die drei lezten Kategorien weg und stellt fol­gende Tabelle auf, in der Geimpfte und Nichtgeimpfte gegenüber stehen, aber die Erkrankten nach Altersklassen gesondert sind. Nichtgeimpfte

Geimpfte

erkrankt gestorben Proz erkrankt gestorben Proz. 36 48,65

Alter. unter 1 Jar 74 bis 2 Jare

293

134 45,73

56

26

46,43

107

44

44,12

3

64

20

"

" 1

31,25

90

17

18,89

4

91

20

21,98

101

17

16,83

"

11

5

70

14

"

" 1

20,00

91

13

14,29

10

276

52

18,84

146

13

8,90

"

" 1

15

233

14

6,28

58

7

12,07

"

"

20

332

19

5,72

62

4

6,45

"

"

30

447

31

6,93

75

7

9,07

"

17

40

270

38

14,07

44

6

13,64

"

" 1

50

104

19

18,27

10

" 1

"

60

46

17

36,96

10

"

70

15

10

66,67

8

"

"

80

1

1

100,00

0

20,00 40,00 37,50 0,00

"

" 1

Zusammen 2169 317( 15,32) 1095

02430

271( 24,74)

Unser Gewärsmann läßt den einen Achtzigjärigen zu Gunsten der Geimpften weg und trozdem bleiben noch acht Fälle übrig, in denen die Sterblichkeit unter diesen einen höheren Prozentsaz

aufweist, wie unter den Nichtgeimpften. Nach seiner Berechnung ergibt die Durchschnittssterblichkeit der geimpften Bockenkranken 24,43%, der ungeimpften nur 20,320. Dr. Keller, der die Nüz­lichkeit des Impfens durch seine Erhebungen nachweisen wollte, wurde, wie leicht erklärlich, zum Impfgegner. Der um die Be­kämpfung des Impfens verdienstvolle Dr. H. Didtmann in Linnich  

bringt aber noch einen drastischeren Fall. In dem Dorfe Lövenich, Kreis Erkelenz  , erkrankten 82 Personen an den Bocken, wovon 16 starben. Unter den Erkrankten waren 4 nicht geimpft und starben sämtlich; 39 waren 1 mal geimpft, davon starben 11, und 39 waren revaccinirt, davon starben drei. Die amtliche Zusam­

heiten gewönlich nicht durch besondere Feinhörigkeit auszeichnen, Miene machen mußten, diese Angelegenheit etwas gründlicher zu Die Statistik, diese von allen Parteien in der Beweisfürung als ausschlaggebend angefürte, aber in ihrer heutigen Mangel­welche bei der Diskussion des Impfzwanggesezes den Streit zu haftigkeit nur zu oft unzureichende Wissenschaft, war es auch, deffen Gunsten entschied, indem einige impffreundliche Aerzte menstellung ist nun wie folgt: ( namentlich der Abgeordnete Löwe Kalbe) mit Zalen harscharf nachwiesen, welchen großen Nuzen das Impfgeschäft der pocken­leidenden Menschheit bereits erwiesen. Die gegnerischen Zalen­

*) Ich zitire nach der Schrift von Kolb Zur Impffrage".

Der Verfasser.