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wohnt, weil der reiche unglückliche Insasse nicht jenes Kleinod im Herzen birgt, was ihm wie unseren einfachen Bewohnern der Weichselniederung in die Seele gepflanzt wurde, das aber sich nur die lezteren in ihrer Naivität, in ihrer kindlichen Einfachheit bewahrt haben. Das unge mein lebenswahre Bild verdankt sein Dasein wie wir zur Genug­tuung der Anhänger der Frauenemanzipation verraten wollen einer Danzigerin: Ernestine Friedrichsen  , die am 29. Juni 1824 in der alten Ostseestadt geboren, ihre künstlerischen Studien in Düsseldorf   bei Frau Marie Wiegmann  , bei Jordan und Wilhelm Sohn   genoß. Reisen machte sie in England, Belgien  , Holland  , Italien  , Holstein, Bayern  und Majuren. Mit Vorliebe führt sie in den Bildern Masuren  , Polen  und Juden vor. Hauptbeschäftigung der Flissen oder Flissaken ist auf der Weichsel   in Kähnen Getreide, Holz u. s. f. nach Danzig   zu bringen. Musikalisch sind sie fast wie die Zigeuner, wenigstens führen sie in ihrem Nomadenleben immer die Fidel mit, nach der sie ihre vergnüglichen Tänze ausführen. Mit Anbruch des Herbstes ziehen sie zurück nach der Heimat, um in ihren einfachen Hütten Winterquartier zu nehmen. Die Tracht der gebräunten, hageren Gestalten besteht aus einer weiten, unten mit Schnüren und Stricken zusammengebundenen Hose, einem weiten lang darüber herabfallenden hemdartigen Kleidungsstück, das mit einem Gürtel aus Bast um den Leib befestigt ist. Bei kühlerem Wetter ziehen sie einen ähnlich geformten, grobwollenen Ueberrock über. Sandalenartige, gleichfalls mit Schnüren u. dgl. befestigte Holzschuhe geben die Fußbekleidung und ein Strohhut oder die viereckige polnische Müze ihre Kopfbedeckung. Die Frauen tragen ebenfalls meist ein hemdartiges Leinengewand, das gleichfalls über der Hüfte mit einem Gurt zusammengehalten wird. Meist gehen sie barfuß, tragen jedoch auch ähnliche Fußbekleidung wie die Männer, wie unser Bild zeigt. Eine Schnur von Glasperlen, oder von Rechenpfennigen behängt, fehlt als Halsschmuck nie. Als Kopftracht tragen sie weiße Tücher, die recht anmutig geschlungen werden, oft auch ein Käppchen. Doch werden ja auch Abweichungen vorkommen. Sorglos und vergnügt lebt dieses Völkchen jaraus, jarein. Diesen Zug hat denn auch unsere Künstlerin in echt künstlerischer Weise zur Darstellung gebrach..

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Erste Künstlerleiden.( Abbildung S. 233.) Wärend die Menschen, welche übertrieben einseitige Elternliebe schon in früher Jugend für Genies hielt, meist mit ihren geistigen Fähigkeiten nicht das Niveau des Durchschnitts überragen, werden die weiblichen Genies nur zu oft in der Jugend verkant. Wenn sich die Wünsche der gewiß zärtlich be­sorgten Eltern unseres Goethe erfüllt hätten, so wäre der Dichter von Hermann und Dorothea   ein kniffiger und trockener Jurist geworden; Schiller  , dessen Phantasie in kühnstem Fluge die Ideale der Menschheit erfaßt und in greifbarer Gestalt in seinen Meisterwerken niedergelegt, wäre, eingeschnürt in den militärischen Fesseln, zum Schaden der Menschen vertrocknet; Lessing  , der kritische Geist, hätte als Geistlicher zeitlebens Psalmen gesungen, und so wäre wol schließlich jeder genial beanlagte Mensch alles geworden, nur das nicht, worin er mit Leichtigkeit Großes zu leisten vermochte. Irren wir nicht, so galt auch Raphael als Schüler für unfähig zur Malerei, Hans Makart  , heute das größte Genie im Kolorit, wurde von der Akademie desselben Wien  , wo man ihm 1869 auf Staatskosten ein prachtvolles Atelier einrichtete, als unfähig ent­lassen; und so ist auch das Genie unseres hervorragenden Malers Def= regger erst entdeckt" worden, nachdem dieser bis zu seinem 22. Jare die Herden seines Vaters gehütet und er sich selbst nach dem Tode desselben als total unfähig zu der bäuerlichen Hantierung erwiesen, für die er doch seit langem bestimmt und möglichst präparirt worden war. Aus alledem geht hervor, daß die Jugendbildner nicht immer den Scharf­sinn besizen, den man doch billig bei ihnen voraussezen kann und der auch mehr oder weniger notwendig ist für diejenigen, welche den jungen Menschen für den späteren Beruf als Staatsbürger vorzubereiten und demselben die Richtung des späteren Lebensweges vorzuzeichnen haben. Auf unserem Bilde können wir nun einen Auftritt beobachten, der uns einen solchen Widerspruch zwischen dem sich äußernden Genie eines noch jungen Menschenkindes und den pädagogischen Grundsäzen eines pedan­tischen Schulmeisters zeigt. Der hier vor Gericht stehende kleine ,, Ver­brecher" Karl, der Sohn armer aber wegen ihres Fleißes und sonstiger Tugenden allgemein geachteter Eltern, gilt allgemein als ein ,, heller Kopf" und deshalb soll er denn auch ,, etwas tüchtiges" werden, um mit seinen erkanten Talenten nicht der Misère anheimzufallen, von der seine Eltern wie die meisten Bewohner seines kleinen, landstädtischen Heimatsortes heimgesucht sind. Er soll daher fleißig rechnen, schreiben und auch so­gar in Privatstunden, die ihm das gestrenge Oberhaupt der Schule unentgeltlich erteilt, lateinische Sprachstudien treiben, französisch partiren und dergleichen. Aber gerade an alledem ihm woltätig Gespendeten empfindet er wenig Bergnügen. Er schneidet Figuren aus Papier, schnizt Frazen in die Schulbank und malt" daheim mit einem aus

seinem eigenen Kopfhaar selbstverfertigten Pinsel allerhand kurioses Zeug auf Papier   und an den Wänden. Seine Eltern, die außer dem neuruppiner Bilderbogen höchstens einmal ein sogenantes Heiligenbild von sehr zweifelhaftem Kunstwert zu Gesicht bekamen und deren ganze Kentnis der Malerei damit ihr Ende erreicht hat, schütteln wol manch mal den Kopf zu den primitiven Kunstübungen ihres Sprößlings, sind aber doch schon stolz auf den kleinen Maler. Dagegen ist sein Klassen­lehrer über diese Dummheiten" immer baß ergrimt, wenn er den fleinen Schlingel darüber ertapt, wie er anstatt Bibelverse zu erlernen Eselsköpfe auf den Buchrand zeichnet oder anstatt Rechenaufgaben zu lösen aus Brotfrumen Figuren modellirt, die eine frappante Aehn­lichkeit mit ihm selbst haben. Sieht er doch in diesem Tun seine Autorität gar arg verlezt. Heute hat der böse Karl nun gar wärend der Viertelstunde, wo der gestrenge Pädagog sein Frühstück in seiner Familienwonung eingenommen, eine Figur gezeichnet, deren ganze Er­scheinung eine lebende Karrikatur ist. Dafür soll nun am Schluß der Schulstunde der Herr Rektor dem schwer beleidigten Herrn Genugtuung verschaffen, und so wird denn nun vor dem versammelten Schulvölkchen Gericht gehalten. Die Anklage ist vom Kläger selbst einfach durch eine stumme Pantomime, die darin besteht, daß dieser den kleinen Sünder mit der einen Hand fest beim Kragen der Jacke faßt und mit der andern Seine auf die erwänte Kreidezeichnung" zeigt, erhoben worden. Mitschüler stehen still zur Seite und blicken teils besorgt auf ihren bei ihnen allgemein beliebten Kameraden, teils lächeln sie schadenfroh, daß an dem Schulpascha für die vielen pädagogischen Versuche, welche der­selbe vermittelst Haselstöcken auf ihren Rücken u. s. w. angestellt, eine Wie kleine, nach ihrer Meinung wohlverdiente Rache geübt wurde. wird der Urteilsspruch lauten? Ich glaube nicht besonders streng, denn die wolwollenden Mienen des Rektors belehren uns deutlich genug, daß er mit Macht das Lachen zurückhalten muß. Und wenn er nun noch das Gesicht und die Haltung seines pedantischen Kollegen betrachtet und dessen sprechende Uebereinstimmung mit dem Konterfei auf der schwarzen Tafel wargenommen haben wird, so endet nach diesem Ver­gleich wol sicher die ganze peinliche Situation mit einer ermahnenden Strafpredigt und mit einer Strafarbeit, welche der junge Künstler aber nachmittags in der Privatstunde beim Rektor zu vollbringen haben wird.

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Aus allen Winkeln der Zeitliteratur.

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Der vierte internationale Kongreß für Gesundheitslehre soll vom 4. bis 9. September dieses Jares in Genf   abgehalten werden. Präsident des genfer Organisationsfomitees ist Dr. Lombard, Sekretär Dr. Demant. Der erste derartige Kongreß fand in Brüssel  , der zweite in Paris   und der dritte in Turin   statt. An dem diesjärigen wird eine demographische Sektion teilnehmen, und eine vom 1. bis 30. September dauernde Ausstellung von auf Gesundheitslehre und Demographie be­züglichen Schriften, Werken, Plänen, Zeichnungen zc. aus allen Ländern wird sich ihm anschließen.

Daß Krankheiten durch die Milch hervorgerufen werden können, ist unsern Lesern bekant. Die meisten werden aber doch wol überrascht sein, daß allein in England, dem Lande der umfassendsten Beobachtungen einschlägiger Art, nach Mitteilungen in der ,, Gesund­heit" schon 71 durch die Milch hervorgerufene Krankheitsepidemieen wissenschaftlich zuverlässig nachgewiesen worden sind. Unter diesen 71 Epidemieen befanden sich 50 Typhus  -, 14 Scharlach- und 7 Diphtheritis­epidemieen. Das Typhusgift gelangt meist durch Sonderung aus Typhusexkrementen in Brunnenwasser, welches angeblich zur ,, Spülung" der Milchkannen, wahrscheinlich aber zur Verdünnung der Milch ver wendet wurde. Das Scharlachgift wurde oft durch Personen in die Milch gebracht, die gleichzeitig in der Milchwirtschaft und bei der Pflege Scharlachkranker tätig waren. Der Weg, auf welchem das Diphtheritiskontagium in die Milch fam, fonte jedoch nicht nachgewiesen werden, obgleich kein Zweifel bestehen blieb, daß die Milch in der Tat der Krankheitsverbreiter war. Außer diesen drei Krankheiten finden sicherlich noch andere durch die Milch Verbreitung, so ist das z. B. bei der Maul- und Klauenseuche der Rinder, bei der so ungeheuer verbreiteten Perlsucht, welche bei den Menschen in Tuberkuloje über­geht und andern mehr der Fall. Meistens erkrankten Individuen, welche viel und hauptsächlich eingefochte Milch zu sich genommen hatten, vor züglich kleine Kinder, die sonst vom Typhus wenig zu fürchten haben, und Dienstboten. Die von den betreffenden Epidemieen heimgesuchten Familien gehörten größtenteils den vermöglicheren Gesellschaftskreisen an, weil in diesen mehr Milch und diese öfter unvermischt konsumirt wird, als bei dem ärmeren Volke. Die Krankheiten hielten genau den Weg, welche die gesundheitsgefärliche verunreinigte Milch durch die Straßen und Häuser gemacht hatte. Xz.

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Inhalt. Im Kampf wider alle. Roman von Ferd. Stiller.( Forts.) Die Religion der Vergangenheit und der Zukunft. Von Dr. A. Jsrael.( Schluß.) Ueber den Einfluß geistiger Getränke, desonders des Brantweins auf den menschlichen Organismus. Nach Johnston von Dr. My. Das Reichsgesundheitsamt und die Wissenschaft der Zukunft. Von Bruno Geiser. Die Katastrophe im wiener Ringteater und ihre Folgen. Von Friedrich Nauert. Die Wanduhr. Eine wiener Weihnachtsgeschichte von K. von Baden. Flissaken Leben.  ( Mit Illustration.) Erste Künstlerleiden.( Mit Illustration.) Aus allen Winkeln der Zeitliteratur: Der vierte internationale Kongreß für Ge sundheitslehre. Krankheiten, durch Milch hervorgerufen.

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Verantwortlicher Redakteur Bruno Geiser in Stuttgart.  ( Neue Weinsteige 23.) Expedition: Ludwigstraße 26 in Stuttgart  .

Druck und Verlag von J. H. W. Dieß in Stuttgart  .

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