265

t

Meine erste Gotthardfart.

Reiseskizze von Carl Stichler.

Jm Monat Oktober 1878 sah ich mich genötigt, über die Alpen   nach dem Süden hin zu gehen. Der Ausgangspunkt der Reise war die Universitätsstadt   Zürich  , das Reiseziel bildete zu­nächst das Städtchen Lugano  , und somit bedingte die direkte Richtung dieser Tour eine Fahrt über den St. Gotthard  .

Von jeher hatte ich eine Reise in dieser Richtung geplant. Namentlich wenn beim Föhnwinde die Alpenkette recht deutlich und markirt ihre zackigen und karakteristischen Riesencontouren am Himmel auf hellblauem Hintergrunde in voller Klarheit zeigte, hatte sich meine bis dahin ungestillte Sehnsucht nach dem Süden stets auf's neue mit Mächtigkeit geregt. Jezt war die Notwendigkeit einer solchen Alpenreise an mich plözlich heran­getreten und nun galt es, in aller Eile die notwendigsten Vor­bereitungen für diese eigenartige Tour zu treffen.

In der vorgerückten Jareszeit stand eine stundenweite Fahrt durch öde, unbewohnte und zudem etwas gefärliche Gegenden in Aussicht. Hatte doch schon einen Monat vorher( im Septbr. 78), wieder einmal ein äußerst verheerender Schneesturm auf der Uebergangshöhe und in den Hochtälern des ofterwähnten und bis in die neueste Zeit vielbegangenen Gebirgsstockes getobt. Bei dieser Gelegenheit hatten ganz instruktionswidrig, zalreiche eid­genössische Telegraphenstangen und Dräte das Zeitliche gesegnet, die lokalen Postverbindungen hatten mannigfache Störungen und Unterbrechungen erleiden müssen und mehrfach waren, wie stets bei derartigen Ereignissen, Menschenleben auf's höchste gefärdet worden.

Da diese zum mindesten recht unerwünschte Verkehrsromantik sich in der Regel mit dem Eintritt und mit dem Fortschreiten der rauhen Jareszeit steigerte, war eine ziemlich beschwerliche Reise zu erwarten.

Vom herlichsten Herbstwetter begünstigt trat ich meine Reise an, indem ich meine Wenigkeit nebst diversem Handgepäck zu nächst der schweizerischen Nordostbahn zur Beförderung ander­traute und nun mit dem modernen, dampfenden und rauchenden Behikel auf glattem Eisenpfade gen Süden fur.

Durch anmutige Täler eilte die lange Waggonreihe der Zen­ tralschweiz   zu. Bald war der kleinste Kanton der Eidgenossen­ schaft  , der Kanton Zug   mit seinem gleichbenamten malerisch ge­legenem Hauptstädtchen erreicht. Lezteres noch vor einigen Jar­zehnten der Siz einer berüchtigten und verrufenen mittelalterlich barbarischen Rechtspflege, konte mich weder durch seine historisch bedeutenden Altertümer noch durch sein weltberühmtes spirituöses Kirschwasser zu längerem Verweilen reizen.

Nach furzem Halt dampfte der Train wieder in die wunder­bolle Landschaft hinaus. Links bot sich der Ausblick über den weiten, leisbewegten Spiegel des Zugersee, dessen unheimliche Tiefe durch das dunlle Kolorit seiner fühlen Flut hinreichend

illustrirt wurde.

Weit drüben jenseits der Wasserfläche zeigte sich die breite Bergmasse des Rigi   und weiter im Süden begrenzten und frönten die imposanten Firnfelder und Gletschermassen der Zentralalpen in bleicher Färbung das in jeder Hinsicht romantische Panorama. Einige Nonnen, jugendliche Lehrschwestern, waren in Bug eingestiegen und hatten in demselben Coupé Pláz genommen als ich; ihr blühendes Aeußere und ihre muntere Redseligkeit bildeten einen grellen Gegensaz wider die schlichte und düstere Kloster­und steifes Formelwesen beengten Gemüther an diesem prächtigen Herbsttage die Reiselust in vollen Zügen genießen!

firen eines fühlen Tunnels, plözlich die rauhe Stimme des Con " Luzern  !" verkündete nach kurzer Fahrt und nach dem Pas­

die eleganten Hotelbauten, Fremdenpensionen, Villen 2c. 2c., und auf den nahen Höhen mittelalterliche Festungsmauern und roman­architektonische Erscheinung, die in bemerkenswerter Weise ein Stüd nationaler Kulturgeschichte repräsentirt oder, oft in drasti­ſcher

Kunstregungen errinnert.

Die Reisesaison mit ihrem Massenstrome lärmender und schau­lustiger Vergnügungszügler war schon zu Ende; blasirte Mode­touristen und jene barocken Typen der Saison", die Alt- Eng­land in auffallender Weise vertreten oder nachäffen, fehlten gänz lich auf dem Dampfer, und es bot sich eine ziemlich ungenirte und genußreiche Fahrt.

Einige schweizerische Soldaten, zumeist Leute von Schwyz   und Uri  , die von Waffenmusterungen oder Uebungskursen in voller Uniform und mit Wehr und Waffen zurückkehrten, bildeten die bemerkenswertesten Erscheinungen auf dem Dampfer. Die Schweiz  ist bekantlich das einzige europäische   Land, welches an Stelle des stehenden Heeres eine allgemeine Volksbewaffnung zu sezen ge= wagt hat.

Auf dem Vorderdeck des Schiffes erinnerte ein ziemlich um­fangreicher Postpaketwagen an das Ziel der Reise. Das genante Fahrzeug gehörte dem Hauptpostamte Luzern   und enthielt die Pakete, Wertsendungen u. s. w., die mit diesem Posttrain über den St. Gotthard   hinweg zum sonnigen Süden befördert werden sollten.

Der Vierwaldstättersee mit seinen vielen Ausbuchtungen nach allen Richtungen hin und der überraschend vielseitige und bunte Wechsel der zumeist schroffen und großartigen Gebirgspartien an den Ufern bieten in ihrem allmälich zur Wirkung gelangenden Gesamteindruck einen unvergeßlichen Genuß.

Und wie mannigfach tauchen die historischen Erinnerungen an den Gestaden dieses See's auf. Wenn an den der pietät­vollen Erinnerung geweihten klassischen Stätten die unverwüst­liche nationalbegeisterte Volkssage sich behauptet und die Grün­dungsepoche des schweizerischen Staatenbundes mit ihren her­vorragenden Helden feiert, so gibt es dagegen an den Ufer­gelänten des See's auch Ortschaften und Lofalitäten genug, die an die Schreckensperioden des Jares 1798 und an den Unter­gang der alten Eidgenossenschaft erinnern.

Damit aber dem Erhabenen das Groteske und Komische nicht fehle, drängt sich hier auch jene winzige Ortschaft ins Gedächtnis, die Jarhunderte hindurch eine eigentümliche und abgesonderte Stellung behauptete.

Schon in früher Zeit erkaufte das am südlichen Abhange des Rigi  , unmittelbar am schmalen Ufer gelegene Dörfchen Gersau  sich die Selbständigkeit und anno 1359 wurde es in den ewigen Bund" der Eidgenossen aufgenommen, in dem es über ein halbes Jartausend verblieb und wärend circa vier Jarhunderten ein autonomes Staatswesen bildete.

Dann kam die Franzosenzeit" und vernichtete neben manchem anderen Kuriosum auch dieses eigentümliche Staatswesen; die größte Merkwürdigkeit dieser Ortschaft überdauerte jedoch noch Jarzehnte hindurch die alten Zustände und gewährte noch in den zwanziger Jaren dieses Jarhunderts eine eigentümliche Er­scheinung.

Nach Schluß der Gersauer   Ortskirchweih fanden sich nämlich in althergebrachter Weise von weit und breit herbeigeströmte Scharen ein, denen an anderen Orten ein öffentliches, fröhliches Beisammensein untersagt war. Gersan feierte seine Gauner- Kilbi" Kirchweih).

Das zalreich vertretene und vielfach gestaltete Kontingent der

Vagabunden, Professionsbettler, Straßenräuber und Schelme, fand sich mit Kind und Kegel am Schluß der Ortskirchweih ein,

um seine eigene Kirchweih" in Saus und Braus, mit Lärm und Geräusch, wärend dreier Tage ungestört feiern zu können. oder in dessen nächster Umgebung sich noch erblicken laſſen, daher

Am vierten Tage durfte kein derartiges Individuum im Orte

war die eigentümliche Feier" insofern ebenfalls hochinteressant, weil ihre Teilnehmer sich in der Regel zur rechten Zeit und in geschickter Weise entfernen mußten, um nicht den Schergen der

heiligen Hermandad in die damals bedeutend unsanfteren Hände

zu fallen.

Weiter rauschte der Dampfer auf dem von hohen Gebirgs­

wänden eingefaßten See, leichte Dunstschleier legten sich um die

bis dahin deutlich sichtbar gewesenen Suppen der Hochgebirge

Hinaus, auf den See steuerte jezt der Dampfer, um seinen und ein mehr und mehr sich verstärkender Wind brauste durch

Kurs nach den klassischen Stätten der Urkantone zu nehmen.

das Seetal, um erst die Wasserfläche leicht kräuselnd, schließlich

Mr 21 1980