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Laufe der Jarhunderte ergangen sind, nachgerade gewönt gewor= den, als Parias beschimpft und verhöhnt, gemißhandelt zu wer= den. Sie murren nicht, sie verlieren nicht die Geduld, die gute Laune, sie kehren immer wieder zurück, so oft man sie auch von sich weisen mag. Und warum tun sie das, warum regt sich keine menschliche Würde, kein Gefül der Empörung in ihnen? Ist das eine Rasseneigentümlichkeit, wie unsere Antisemiten behaupten? Es ist das Elend in seiner rauhesten und unbarmherzigsten Gestalt, die Not und Verzweiflung, die sie so gemacht wie sie sind. Und daß sie diesem Elende, dieser sittlichen Verwilderung und Entartung verfallen sind, das verdanken sie den Institutionen und Menschen, unter denen zu leben sie gezwungen waren. Sie sind natürlich nicht überall in Rußland so elend wie hier, auf der andern Seite auch noch nicht einmal die elendesten der russischen Juden. Kräftigen, schönen Gestalten, einer gewissen Würde und Wolhabenheit begegnet man unter den Juden immer noch in Kleinrußland, in Polen u. s. w., entsezlichem Elende dagegen unter den Juden der Ostseeprovinzen. Diese Unterschiede deuten auf eine ungleichmäßige Behandlung, günstigere oder herbere Schicksale hin, und diese sind überall historisch nachweisbar.
Wir wollen die Juden nicht reinwaschen, nicht leugnen, daß ein Teil von ihnen mit zu den Ausbeutern gehört. Ja, sie treiben auch Wucher, sie sind auch Brantweinhändler und beuten aus, soviel sie nur können. Wer aber beutet in Rußland nicht aus? Wer darf es in den herschenden Klassen Rußlands wagen, sich zum Richter der Juden aufzuwerfen und als Nichtausbeuter den Stein gegen sie zu erheben?
Versezen wir uns einen Augenblick in die Mitte unseres Jarhunderts, in die Zeit zurück, wo die Leibeigenschaft, die bekantlich erst vor zwanzig Jaren aufgehoben wurde, noch bestand. Eine amtliche Statistik aus dem Jare 1836, die uns zufällig in die Hände fällt, gibt die Gesamtbevölkerung Rußlands auf 60 millionen an, wovon auf den Geburtsadel 538 260 Köpfe fallen. Zur Erhaltung und Ernärung dieser Privilegirten dienten nicht weniger als 23 362 595 Leibeigene, die ganz schuzlos der Willkür und der Ausbeutung ihrer Herren preisgegeben waren. Die Ausbeutung von 21 436 994 Leibeigenen hatte die„ Krone" für sich in Beschlag genommen, die bei der Ausbeutung der Bauern zwar etwas rationeller verfur, aber doch auch nach Möglichkeit ausbeutete.
Durch Peter den Großen ist der sogenante Verdienst- oder Beamtenadel geschaffen worden, um den dem Despotismus unzuverlässigen Feudaladel zu brechen. Dieser Beamtenadel, heute eine ware Bestbeule im russischen Staatsorganismus, zälte 152 195 Köpfe. Er besaß und besizt heute noch keinen Grundbesiz, war im allgemeinen arm und meist auf Betrügereien und Erpressungen angewiesen, um seine oft hochgesteigerten Bedürfnisse zu befriedigen. Er fällt in die Klasse der raffinirtesten Ausbeuter. Es folgte ihm die in den dünn gesäten Städten wohnende Bür gerschaft, in welcher die privilegirte Kaufmannschaft obenan steht, der jedoch nur ca. 250 000 Personen angehörten, wärend die nicht privilegirte Bürger- und Kaufmannschaft in Altund Neurußland und Bessarabien etwa 3 millionen zälte.
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Diese Zalen werden im allgemeinen niedrig erscheinen. Sie umfassen auch nicht die Gesamtbevölkerung und berücksichtigen weder die über 4 millionen zälende polnische, noch die etwa ein und ein halbe million betragende finnländische Bevölkerung und
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ebensowenig die nomadisirenden Stämme, die Kalmüken, Kirgisen, Tataren, Turkomenen und diejenigen der transkaukasischen Provinzen, deren Gesamtzal etwa auf 2 millionen zu veranschlagen sein dürfte. Gruppiren wir nun diese Bevölkerung nach der Ausbeutung, so finden wir einer kleinen Gruppe von Ausbeutern ein ungeheures Heer Ausgebeuteter gegenüber. 45 millionen Bauern leben unter dem Hochdrucke der Ausbeutung einer halben million Adliger und unter der Schraube eines Willkürregiments. Ihnen verbleibt nach Abzug aller Leistungen kaum das zum Leben Nötige. Zur Zeit Katharina II. , welche bekantlich den ungeheuern Bauernaufstand Pugetschews niederwarf, las man in den russischen Blättern, wie Schaschkow in einem vorzüglichen Aufsaze in der russischen Revue„ Stcwo" erzält, Inserate folgenden Inhalts:„ Es sind zu verkaufen: gute Servietten, ein ausgebildetes Mädchen und ein Mann", oder: es sind zu verkaufen: ein zwanzigjäriger Mann, Perrückenmacher und eine Kuh bester Race", oder:„ es verkauft jemand ein eilfjäriges Mädchen, einen fünfzehnjärigen Perrückenmacher, 4 Bettstellen, ein Federbett und allerlei Hausgeräte", oder:„ es sind zu verkaufen gesalzene Fische, 7 graue Merinoschafe, ein Mann und eine Frau". Diese grauenhafte Illustration der Lage der leibeigenen Bauern, die zur Ware herabgesunken waren, fönte noch viel weiter ausgedehnt und durch harsträubende Mitteilungen vermehrt werden. Wir verzichten für heute darauf, die Brutalitäten und Bestialitäten zu sfizziren, denen der rechtlose Bauer in Rußland preisgegeben war. Keine Familienbande wurden geachtet, der Vater, das Kind, das Weib besonders verkauft und verschenkt, verspielt und der alt und zur Arbeit unbrauchbar gewordene Sklave erbarmungslos aus seiner Familie und seiner Gemeinde gerissen und aus dem Dorfe vertrieben oder nach Sibirien verkauft.
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Katharina II. , die sogenante Mutter ihres Voltes", schenkte gleich bei ihrer Tronbesteigung 18 000 Seelen" d. h. freie Bauern, ihren Liebhabern. Dieses Verschenken, diese Erweiterung des Knechtschaftskreises zieht sich troz aller humanen Gesinnung, wie sie einzelne russische Fürsten zeigten, bis in die neueste Zeit hinein. Die Art der Leibeigenschaft hatte seit Katharina II. bis zu ihrer Aufhebung in einigen Punkten eine Milderung erfaren und manches der empörendsten Herrenrechte war eingeschränkt worden. Doch im allgemeinen Schicksale des Bauern war keine wesentliche Aenderung eingetreten; er war dasselbe rechtlose, geplagte und geschundene Geschöpf geblieben.
Daß auch die Städter, und namentlich die jüdische Bevölkerung, zur Verschlimmerung der Lage der Bauern beitrugen, ist selbstverständlich; die Uebervorteilung jedoch, welche im beiderseitigen Vertehr stattfand, war jedenfalls eine gegenseitige. Jeder Teil verteuerte seine Ware und suchte aus derselben den denkbar höchsten Preis herauszuschlagen. Viel zu gewinnen war bei dem Handelsverkehr mit den Bauern nicht, da sie bereits in so hohem Maße geschwächt und so sehr ausgesogen waren, daß die jüdischen Händler im Verkehre mit ihnen meist kaum soviel erübrigten, als zur fümmerlichen Erhaltung ihrer Existenz ausreichte. Wer außer den Adligen und der Krone" an den Bauern am meisten profi tirte, das waren jedenfalls die Beamten, unter deren geschickten Händen die Steuern und Lasten sich verdoppelten und verzehn fachten, das war auch der Klerus, der zum größten Teile in ihrer Arbeit die Quelle der eigenen Erhaltung fand.
Meine erste Gotthardfart.
Reisesfizze von
Die Gotthardpost, von Fluelen nach erfolgter Ankunft des ersten von Luzern abgegangenen Morgendampfers nahend, erschien erst um 8 Uhr Morgens und war vollständig besezt. Eine hohe etwas schwerfällige Postkutsche, vor der sechs kräftige Rosse eingespant waren, bildete an der Spize der Wagenreihe das Hauptfurwerk. Auf dem geräumigen Verdecke dieses vorzugsweise zur Passagirbeförderung benuzten enorm hohen Wagens war das Baffagirgut neben Paketsendungen unter schüzendem Teertuche aufgetürmt. Kleinere Beiwagen mit Kistchen, kleinen Fäßchen, Paketen u. s. w. reichlich beladen, bewiesen hinlänglich, welchen Wert diese zentrale Verbindungslinie zwischen Nord und Süd
( Fortsezung folgt.)
( 1. Fortsezung.)
Carl Stichler. besaß, wenn auch hier nur die tierische Muskelkraft als Beför derungsmittel zur Verwendung gelangte.
im
Einige offene Kutschen furen jezt heran, um in den Posttrain eingereiht zu werden. Hocherfreut, unter diesen Umständen in offenen Wagen bequem und angenem die Gegend durchreisen zu können, pries ich voreilig diese Gunst des Schicksals. In längerer Unterhaltung mit einem Kapuzinerpater begriffen, der als Mit passagir seinen Plaz schon angewiesen erhalten, hatte ich versäumt, mit dem Kondukteur Rücksprache wegen eines guten Plazes zu nemen dies sollte sich bitter rächen.
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Mein Name ertönte, ich folgte dem Rufe und befand mich