284
-
Von C. Lübeck.
Man könte es bei dieser Sachlage befremdend finden, daß| der Zorn der Bauern sich nicht in erster Reihe gegen den Adel richtete, von dem doch die Hauptausbeutung ausging. Tatsäch lich geschah dies auch. Die Bauernaufstände in Rußland sind seit der Einfürung der Leibeigenschaft überaus zalreich gewesen. Kein Jar und keine Regirung verging, one daß Bauernaufstände oder agrarische Morde zu verzeichnen gewesen wären und noch in diesem Jarhundert bis in die neueste Zeit hinein haben sie von sich reden gemacht. Vom Jare 1818 bis 1825 z. B. haben allein folgende Bauernaufstände stattgefunden:
1818 in den Gouvernements: Woronesch , Tula , Saratow , Orenburg , Minsk , im Donaland, in Tambow , Simbirsk , Wittebsk, Twer , Grodno , Kaluga , Kurst, Nischninowzorod Wolhynien, Kostroma , Kurland , Livland , Esth land, Ukraine , Smolensk und D. Nowgorod.
1819 in den Gouvernements: Simbirst, Kurland , Livland , Bensin , Petersburg, Rjäsan, Woronesch , Orlow, Tambow , Kaluga , Perm .
Im Jar 1819 wurde die Leibeigenschaft in den Ostseeproprovinzen aufgehoben; seitdem gab es dort keinen Aufstand mehr.
1820 in den Gouvernements Dlonez, Woronesch , Minsk , Tula , Jekaterinoslaw, Donaland, Grodno , Mohilew, Rjäsan, Kasan , Tambow , Twer und Perm ;
1821 in den Gouvernements Simbirst, Orlow, Minsk , Cherson , Jaroslaw, Petersburg, Woronesch , Kasan , Jekaterinoslaw, Pensin und Rjäsan;
1822 in den Gouvernements Kursk , Smolenst, Twer , Kostroma , Saratow , Witebsk , Wladimir , Perm und Wo ronesch ;
1823 in den Gouvernements Saratow , Ukraine , Kasan , Astrachan ,
( 2. Fortsezung.)
Es dürfte nach all' diesen Ausfürungen klar sein, von welcher Seite die eigentliche Ausbeutung der Bauern erfolgte, jedermann wird auch einsehen, daß am Elende derselben die Juden die geringste Schuld tragen. Man wird es übrigens auch begreiflich finden, daß dem Adel sowol als auch der„ Krone" sehr viel daran liegen mußte, einen Sündenbock zu haben, einen Prügeljungen, der sie selber vor Prügel schüzte. Dieser Sündenbock war in dem religiös tief verhaßten und durch Jarhunderte lange Mißhandlungen entwürdigten Juden leicht gefunden. Ihn konte man one Zögern und one Gewissensbisse für die unglückliche Lage der Bauern verantwortlich machen, one auf starke Zweifel zu stoßen.
Man weiß, wie man den Juden in Rußland herumgestoßen,
von einer Grenze des Reichs zur andern gehezt, und wie man für alle Mißhandlungen, die man ihm zuge fügt, die Ausbeutung der Bauern als Grund angegeben. Systematisch ist so dem Volke die Ueberzeugung vom Ruin der Bauern durch die Juden beigebracht worden, und diese Ansicht ist schließlich zum Dogma geworden, das auch im übrigen Europa vielfach Glauben gefunden hat.
Man wundere sich also nicht, wenn Judenhezen vorkommen. Die Saat des Hasses und der nichtsnuzigsten Berdächtigung, die man mit vollen Händen ausgestreut, sie fonte keine anderen Früchte als diejenigen der jüngst verübten Barbareien zeitigen, deren Schreckniffe noch frisch in der Erinnerung leben.
Ganz ist die systematische Ablenkung, wie man aus den Bauern aufständen ersehen, indes nicht ge lungen. So wüteten die Bauern denn auch in jüngster Zeit, wo sie zwar frei aber materiell sehr übel daran sind, in einzelnen Gouvernements wieder sehr heftig gegen ihre alten betrogen glauben und in deren Händen sie ihren uralten Gemeindebesiz wänen. Dieser Erscheinung gegen über sind die Judenhezen durchaus nebensächlicher Natur.
Kiew , Wladimir , Twer , Cherson , Ka Hermann von Schlagintweit - Sakünlünski.( Seite 290.) luga, Perm , Minst und Tambow ;
1824 in den Gouvernements Simbirsk , Podolsk , Minsk ,| Herren, von denen sie sich Moskau und Wladimir ;
1825 in den Gouvernements Jaroslaw, Nischninowgorod, Simbirst, Kiew , D. Nowgorod, Saratow , Kostroma , Tschernigow , Berm.
Diese Bauernempörungen fallen in die Zeit Alexander I. , der sich auf das ernstlichste mit der Aufhebung der Leibeigenschaft beschäftigte, jedoch zu keinem energischen Entschlusse gelangte.
Das vorstehende kleine Verzeichnis, das einen winzigen Bruch teil aller in Rußland vorgekommenen Bauernrevolten wiedergibt, zeigt einzelne Gouvernements eigentlich in permanenter Auflehnung gegen das schreckliche Joch der Leibeigenschaft. Es gewint dieser Umstand an Bedeutung, wenn man weiß, auf wie entsezliche Weise die Regirung und der Adel derartige Revolten zu rächen pflegten. Da wurde one Unterschied des Alters und Geschlechts geprügelt, gefoltert und gemordet, nach Sibirien verschickt, Acker und Gärten vernichtet, Häuser verbrant u. s. w.
Es muß die Ausbeutung der Bauern durch den Adel, gegen welche diese Aufstände sich richteten, warlich eine entsezliche gewesen sein, wenn die Bauern immer und immer wieder in verzweifelten Kämpfen eine Erleichterung ihres Schicksals zu erstreben suchten.
Daß der Groll der Bauern sich auch gegen die Juden rich tete, das ist begreiflich. Je größer das Elend, um so empfindlicher werden stets die Nadelstiche sein, welche im heutigen Kleinverkehre unvermeidlich sind. Daß der Jude sie ihm zufügt, der gesellschaftlich tief unter ihm stand, der ein Feind seiner Religion war, das war das Empörende für den Bauern und das machte die Nadelstiche ihm fast noch empfindlicher als die Keulenschläge, welche der adlige Herr ihm versezt.
Man wird nun daran erinnern, daß die Juden auch Brant weinhändler sind und daß die Judenhezen wesentlich in diesem Umstande ihren Ursprung gehabt hätten. Wir haben schon zu gegeben, daß die Juden, wie so vielen niedrigen Gewerben, auch dem Brantweinhandel sich zugewendet haben, oder ihm sich zu wenden mußten. Weniger richtig ist, daß dieser Brantweinhandel den Anstoß zu den schmachvollen Judenhezen gegeben hat, denn es sind Ortschaften zerstört oder aus ihnen die jüdische Bevölke rung vertrieben worden, in denen es keine einzige jüdische Schänke gab. In den Judenhezen äußerte sich vielmehr neben dem alten religiösen Haß auch die Nachwirkung der bereits geschilderten künstlichen Verhezung der Juden.
Wir haben den jüdischen Brantweinhandel im neurussischen Gebiete bereits in einem vorausgegangenen Artikel kennen ges lernt und namentlich erfaren, daß dort der Edelmann zur Aus beutung der Bauern noch eine weitere Schraube in Bewegung sezte und daß diese wirkungsvolle Schraube die auf den adligen Besizungen sehr schwunghaft betriebene Brantweinfabrikation war, bei der namentlich die Juden die dem Adel willkommenen Mittelspersonen waren, welche den Kleinverkauf des Brantweins in den Gutsschänken u. s. w. an die Bauern zu besorgen hatten.
In Großrußland besorgte das Brantweingeschäft die„ Krone", sie besaß das Brantweinmonopol und Hunderte und Tausende von millionen Rubeln hat sie dabei dem Volke ausgesogen.
Wie das Kapitel der Leibeigenschaft, so gehört auch das des Brantweinmonopols der Regirung zu den trostlosesten der russi schen Entwickelungsgeschichte. Es ist ein Abgrund tiefster sittlicher